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Publicly Available Published by De Gruyter (A) August 26, 2017

Die Jacke und die Tanten

Zwei Formen der Exponierung bei Proust

  • Tommaso Tuppini
From the journal Paragrana

Abstract

Der Text spürt zwei Formen der Exponierung bei Proust nach: einerseits einer Exponierung, die sich nicht sehen lassen will, die sich niemandem zeigt, und andererseits einer vollkommen evidenten Exponierung einer leeren Andeutung. Es ist, als wenn die nichtsichtbare Innenseite der Jacke und die bedeutungslosen theatralen Andeutungen der Tanten, die Proust beschreibt, die zwei komplementären Hälften einer einzigen paradoxen Exponierung bilden würden: die Nicht-Evidenz der Innenseite und die Unverständlichkeit der Andeutung.

Ces nihilités chevelues saisies par la chaleur et dilatées jusqu’à la monstruosité, perdent leur forme, s’allongent, se désagrègent et franchissent à la débandade la passe terrible, abandonnant partout des traînards, et ne parvenant qu’à grand’peine, sous la protection du froid, à regagner leurs solitudes inconnues.

Louis Auguste Blanqui, L’éternité par les astres

Außen- und Innenseite[1]

Dinge, denen wir begegnen, existieren zeitlich gemäß der Ordnung von Vorher und Nachher; im Raum dagegen haben sie ein Vorne und ein Hinten, ein verso und ein recto, eine Vorder- und eine Rückseite, eine Außen- und eine Innenseite. Während nicht einmal Zeus das Geschehene aufheben und das Frühere später passieren lassen kann, haben die Dimensionen des Raumes die Möglichkeit, sich umzukehren (rovesciarsi) und ineinander überzugehen. Schwer ist es, aus der Nacht einen Tag zu machen, aber es ist ein Leichtes, Kopf und Zahl einer Münze auszutauschen, indem man sie in der Luft kreisen lässt. Wenn die Außenseite eines Körpers verschwindet, dann weil aus seinem Innern ein neues Außen entsteht: „die Oberfläche kann sich in Inneres verwandeln“, schreibt Lévinas in Totalität und Unendlichkeit (2014, S. 275), „man kann das Metall der Dinge einschmelzen, um neue Gegenstände daraus zu machen, das Holz einer Kiste benutzen, um daraus durch Hobeln, Sägen und Behauen einen Tisch zu machen: Das Verborgene wird offen und das Offene wird zum Verborgenen.“ Die philosophischen Grundkategorien (hyle/morphé) sind untereinander austauschbar und unterhalten ein Verhältnis absoluter Wechselseitigkeit, das den Dimensionen des Raumes viel näher ist als der Zeit: „der Tiefe einer Sache kann keine andere Bedeutung zukommen als der Tiefe ihrer Materie, und die Offenbarung der Materie ist wesentlich oberflächlich“ (ebd., S. 275f.). Das sind erneut Worte von Lévinas: Die zwei Seiten der Sache, einer jeden Sache, die Tiefe und die Oberfläche, das Verborgene und das Offene, vertauschen sich andauernd untereinander im Raum (Innen-Außenseite, Materie-Oberfläche) wie auch in unserem Verständnis davon (Innerlichkeit – Exteriorität).

Auch der Werdegang der Recherche bringt den Erzähler immer wieder dazu, seine Meinung ändern und seine Urteile über Dinge und Menschen umkehren zu müssen: Nichts ist so, wie es erscheint, man muss um die Dinge herumgehen, damit man ihre verborgene Seite sehen, den Schatten Licht werden lassen kann. Der Klatsch, der sich in allen weltlichen (plebeischen und aristokratischen) Formen wiederfindet, hilft uns der Banalität der Erscheinungen nicht zu unterliegen und enthüllt die Wahrheit der Situationen.

[E]ine so allgemein in Verruf gebrachte Angelegenheit, die nirgends einen Verteidiger finden würde, wie der Klatsch, ihrerseits doch, ob dieser uns selbst zum Gegenstand hat und uns dadurch besonders unangenehm ist, oder uns über einen Dritten etwas zu Ohren bringt, wovon wir bislang nichts wußten, einen gewissen psychologischen Wert besitzt. Er hindert den Geist, bei einer der Wirklichkeit nicht entsprechenden Sicht stehenzubleiben, die er von dem besitzt, was er für die Sache selbst hält und was doch nur ihr äußerer Anschein ist. Mit dem Magiergeschick der idealistischen Philosophie wendet er sie um und deckt geschwind eine unerwartete Ecke an der Rückseite des Gewebes auf. (Proust 1999, S. 660f.)

Der Klatsch ist eine alltägliche Form „idealistischer“ Philosophie. Eine idealistische Philosophie ist jene Berkeleys, die unseren gewohnten Blickwinkel umkehrt: Wir denken, dass da draußen die Wirklichkeit der Objekte sei, dagegen ist die Wirklichkeit nur ein subjektiver Eindruck. Und auch Sokrates: Wir glauben das Leben zu leben, stattdessen ist dieses nicht das wahre Leben, sondern der Schatten eines Körpers von Wirklichkeiten, der unterhalb der gelebten Dinge liegt. Sowohl der „idealistische“ Philosoph als auch Sokrates rücken näher mit dem Blick, zeigen das Gewebe und die Machart, das Geflecht der Fäden unter der scheinbaren Uniformität des Gewebes auf, wenden das Gewebe um, bringen die Vorderseite an die Stelle der Rückseite. Diese philosophische Umkehrübung scheint endlos zu sein (das Innen ist das Außen eines neuen Innen und so weiter), aber will beendet werden: Irgendwann wird sich ein Innen finden, das ein Außen wird, ohne ein neues Innen zu verbergen, und das ist die offenbarte Wahrheit.

Der Schleier der Erscheinungen einer anständigen Gesellschaft wird vom Klatsch zerrissen. Zum Beispiel: Beim Tratschen erfährt man, dass der Baron Charlus nicht jener tombeur de femmes ist, für den ihn manche halten, sondern ein eingefleischter Homosexueller. Klatsch bekommt bei Proust eine weitere Bedeutung als der einfache gossip. Es ist nicht nur üble Nachrede, sondern all das, was über uns gesagt wird, wenn wir abwesend sind: Der Klatsch sind die Worte über uns, die wir nicht kennen. Der Baron Charlus konnte nicht wissen, dass die Gespräche im Salon Verdurin „ganz verschieden von dem ausfielen, was er sich vorgestellt hätte, nämlich nicht eine einfache Wiederholung derjenigen bildeten, die er hörte, wenn er bei ihnen war“ (ebd., S. 661). Charlus stellt sich das Innen als eine mehr oder weniger getreue Kopie des Außen vor (als eine „einfache Wiederholung“). Er bildet sich ein, dass das, was die anderen in seiner Abwesenheit sagen, ungefähr das sei, was sie ihm ins Gesicht sagen. Genau dies wünscht sich auch jeder von uns in seinem Herzen. Die bewundernden Äußerungen, die der Baron im Hause Verdurin in presentia hört, „schmückten mit liebevollen Inschriften den kleinen, allein in der Phantasie bestehenden Pavillon, in den sich Monsieur de Charlus zuweilen zu einsamen Träumereien zurückzog“ (ebd.), also den bloß eingebildeten Raum, in dem Charlus die anderen in absentia über ihn reden „sieht“.

Stattdessen ist das Innen des Gewussten immer anders als das Außen. Das eine ist die genaue Umkehrung des Anderen, wie eine Figur im Spiegel, wie der Revers eines Kleides: Der Pavillon unseres Rufes, jener Raum, den wir uns als einen open space aus zwei miteinander verbundenen Zimmern vorstellen (das, was die anderen uns ins Gesicht sagen, und das, was sie in unserer Abwesenheit sagen), besteht aus zwei verschiedenen Pavillons: „Gegenüber demjenigen, den wir für den einzigen halten, liegt jener andere, der uns gewöhnlich unsichtbar bleibt, der wahre, der symmetrisch zu dem uns bekannten angeordnet, doch ganz verschieden davon ist und dessen Innenausstattung, in der wir nichts von dem wiederfinden würden, was wir zu sehen erwarteten, uns entsetzen würde, denn sie besteht aus den häßlichen Symbolen einer ungeahnten Feindseligkeit“ (ebd., S. 662). Schwerlich werden wir diese Doppelung mit Bezug auf uns selbst in Erfahrung bringen: Es sei denn, wir transformieren uns in eine Fliege oder horchen an den Wänden, aber sonst werden wir niemals wissen, was die anderen sagen, wenn wir nicht da sind.

Wenn dem so ist, dann stimmt die Tätigkeit des „idealistischen“ Philosophen nicht genau mit dem Klatsch überein. Sie haben einiges gemeinsam: Sie nehmen den Schleier der Erscheinungen weg und lassen eine tiefere und vorher ungekannte Wahrheit sehen. Aber während die Philosophie beide Dimensionen in Übereinstimmung zu bringen versucht und nach dem endgültigen Wort sucht, das die eigentliche Wahrheit restlos sagt, den Ausdruck sucht, wo Vorder- und Rückseite übereinstimmen, will der Tratsch keine Übereinstimmung: In der Gesellschaft ist es nicht gut, den Ort der beiden Wahrheiten zu vertauschen, man darf jemandem gegenüber nicht mit derselben Offenheit sprechen als sei er nicht da. Wenn das passiert – wenn sich eine Übereinstimmung zwischen Innen und Außen ereignet –, ist es verheerend. Wie als der zynische, aber leichtsinnige Morel, von der wütenden Hausbesitzerin angestachelt, Charlus alle Bosheiten und Gerüchte vom Salon Verdurin ins Gesicht spuckt, damit die zwei Räume des Pavillons vereint und zum Einsturz bringt. Die Umkehrung, die die unterschiedlichen Räume zur Übereinstimmung bringt, ist ein philosophischer telos, gesellschaftlich ist es dagegen ein Unheil. Gegenüber der philosophischen Synthese wird der Klatsch zur Chiffre eines anti-synthetischen Erfordernisses des Wortes, die Notwendigkeit eines niemals eindeutigen Wortes, immer doppelt, weil aus einer szenischen Oberfläche bestehend, die für unseren Gebrauch gemacht ist, und aus einer skandalträchtigen Tiefe, die man besser nicht kennt (der Pavillon, den wir nicht aufsuchen sollten, ist „wie über eine jener Hintertreppen, auf denen an den Wohnungstüren von unzufriedenen Lieferanten und entlassenen Dienstboten in Kohle ausgeführte obszöne Kritzeleien zu sehen sind“ (ebd.). Der Diskurs der Philosophie und jener des Klatsches haben dennoch weiterhin etwas gemeinsam: das, was Proust den Zug der Symmetrie nennt und eigentlich das Wichtigste ist. Die Symmetrie ist die immer mögliche Kommunikation, die sich zwischen Vorder- und Rückseite in dem einen wie dem anderen Diskurs, dem philosophischen und dem klatschhaften, instituieren kann. Eine Kommunikation, die im Idealismus der Philosophie bis zur Identifikation vordringt. Dagegen unangebrachte, verweigerte Kommunikation im Falle des Klatsches, bei dem es besser ist, wenn beide Pavillons durch einen Zwischenraum getrennt bleiben. Aber gerade der Zwischenraum zeigt an, dass die Räume der Pavillons eines Tages kommunizieren könnten. Wer den Zwischenraum durchstechen möchte, tut dies auf eigene Gefahr.

Die Jacke von Madame Swann

Der Diskurs der Philosophie und jener des Klatsches glauben an eine grundlegende Symmetrie zwischen der Vorder- und der Rückseite der Dinge. Der Raum ist wie durch einen Spiegel geteilt, der die zwei Dimensionen korrespondieren lässt: auf synthetische Weise (Philosophie) oder auf polemische Weise (Klatsch). Der Erzähler erfährt aber auch eine weitere Modulation des Raumes. Zuweilen geschah es, dass er Odette, inzwischen bereits Madame Swann, bei einer ihrer Spaziergänge begleitete und die Ausgesuchtheit ihrer Eleganz bewundern konnte.

Wir gingen ein paar Schritte. Ich begriff, daß sie ganz für sich selber den kanonischen Regeln gehorchte, nach denen sie sich kleidete, wie einer höheren Weisheit, deren Oberpriesterin sie sei: denn wenn es ihr einmal zu warm wurde und sie ihre Jacke, die sie eigentlich geschlossen hatte anbehalten wollen, aufknöpfte oder ganz auszog und mir zu tragen gab, entdeckte ich an ihrem Mieder tausend kleine Einzelheiten der Ausführung, die um ein Haar ganz unbemerkt geblieben wären wie jene Orchesterpartien, auf die der Komponist die größte Sorgfalt verwendet hat, obwohl sie niemals wirklich ans Ohr des Publikums dringen; oder ich fand in den Ärmeln der über meinem Arm gefalteten Jacke irgendein wundervolles Detail, das ich zu meinem Vergnügen oder aus Höflichkeit eingehend bewunderte, einen Streifen von köstlicher Farbe oder einen malvenfarbenen, gewöhnlich versteckten Baumwollsatin, die so zierlich verarbeitet waren wie die sichtbaren Teile, darin den Skulpturen einer gotischen Kathedrale gleich, die in achtzig Fuß Höhe hinter einer Balustrade verborgen genauso vollkommen gemeißelt sind wie die Reliefs am großen Hauptportal, obwohl nie jemand sie gesehen hat, bis zufällig ein Künstler im Verlauf einer Reise es erreicht, sich in freier Höhe zwischen den beiden Türmen ergehen zu können, um von dort aus den Blick über die Stadt zu genießen. (Proust 1995, S. 303f.)

Was der Erzähler bewundert, ist die verborgene Eleganz, die unauffällige Schönheit des Mieders, die Ausführung des Jackenfutters. In diesem Fall haben Außen- und Innenseite ein Verhältnis, das dem des Klatsches ähnlicher ist als dem der Philosophie. Es gibt nämlich keine unmittelbare Kommunikation zwischen den beiden Dimensionen: Die Außen- und Innenseite der Jacke scheinen im selben sich ausschließenden Verhältnis der beiden Pavillons zu stehen. Es gibt jedoch auch keinerlei Symmetrie zwischen Außen- und Innenseite der Jacke, wie es sie dagegen zwischen den Pavillons der privaten Nachrede und der öffentlichen Anerkennung gibt. Die Pavillons sind kontradiktorisch (in dem einen sagt man das Eine, im anderen das Andere) und symmetrisch (die Ausstattung des einen kehrt spiegelbildlich die des anderen um). Die Außen- und Innenseite der Jacke sind dagegen analog (die Ausführung des Innern ist genauso vielschichtig wie die des Außen) und asymmetrisch. Im Falle der Jacke gibt es kein gemeinsames Maß zwischen Außen- und Innenseite: Das Kleid besteht aus seiner Außenseite, die Innenseite könnte auch nicht verarbeitet oder gar inexistent sein (wie die Hemden der Armen vor einigen Jahrzehnten, als aus den Männerjacken nur die Manschetten, der Kragen und die Weste herausragten, während der Rest des Hemdes … wirklich nicht existierte, so dass man bei Stoff und Reinigung sparen konnte). Diese Analogie in der Asymmetrie fasziniert den jungen Marcel, der in Madame Swann bereits verliebt ist und nun von diesem Detail überflüssiger Eleganz vollends eingenommen wird.

Die Asymmetrie der Außen- und Innenseite der Jacke besteht aus einer unendlichen Distanz, einem gap, so dass es zwischen Außen- und Innenseite keinerlei gemeinsames Maß gibt. Es gibt keine Kommunikation zwischen der Außen- und der Innenseite der Jacke, wie es sie dagegen im Raum der Philosophie und des Klatsches gibt. Für die Philosophie ist die Oberfläche Ausdruck der Tiefe, was sichtbar und offenbar ist, ist die Spur des Verborgenen, und im Klatsch widerspricht das, was die anderen von uns sagen, wenn wir nicht da sind, dem, was sie uns ins Gesicht sagen. Aber zwischen der Außen- und der Innenseite der Jacke gibt es kein Ausdrucksverhältnis, nicht einmal den Widerspruch zwischen Lob und Nachrede. Es gäbe ein Verhältnis der Kohärenz zwischen den zwei Dimensionen, wenn die Ausführung des Futters ein Abdruck der Außenseite wäre, so etwa, wenn wir flüchtig die Stiche erblicken, die den Flicken am Ellenbogen genäht halten. Es gäbe ein Verhältnis der Kohärenz, auch wenn das Futter nur funktional zur Außenseite des Kleides wäre: ein einfaches Futter, unbearbeitet, farblos, das nur dazu da ist, den Körper warm zu halten. Aber wenn wir unter der Kammwolle einer Jacke jenes Futter capitonné entdecken oder „einen Streifen von köstlicher Farbe oder einen malvenfarbenen“, von denen Proust spricht, wird die absolute Asymmetrie zwischen Außen und Innen offensichtlich, die Tatsache, dass es keinerlei Kohärenz zwischen Innen- und Außenseite gibt, keinen Ausdruck, keinen Widerspruch, und dass der Saum des Kleides wie ein gap zwischen Innen und Außen funktioniert.

Die Analogie zwischen der Ausführungstechnik des Außen und der des Innen verstärkt paradoxerweise die Fremdheit zwischen Innen und Außen. Das Innen würde weitaus mehr mit dem Außen kommunizieren, wenn es nicht verarbeitet wäre (es wäre bloß ein funktionaler Träger). Oder wenn die Ausführung des Innen eine einfache Konsequenz der Gestaltung des Außen wäre (wie etwa innere Nähte). Die Tatsache, dass das Innen mit derselben Meisterschaft verarbeitet ist wie das Außen, heißt dagegen, dass das Innen vom Außen vollkommen unabhängig ist. Proust vergleicht diese überflüssige Schönheit des Innen der Jacke mit den hinter einer Balustrade verborgenen Skulpturen einer Kathedrale, die so hoch angebracht sind, dass sie unsichtbar werden. Was in beiden Fällen auf dem Spiel steht, ist gleichsam eine paradoxe Form der Exponierung, eine Exponierung, die sich nicht sehen lassen will.

Die verborgene Fassade

Lévinas’ Worte sind sehr treffend: „die Kunst ist es, die den Dingen so etwas wie eine Fassade verleiht – dasjenige, wodurch die Gegenstände nicht nur gesehen werden, sondern wie Gegenstände sind, die sich darstellen. Die Dunkelheit der Materie würde demnach den Zustand eines Seienden bedeuten, das gerade keine Fassade hat“ (Levinas 2014, S. 276). Kunst ist die Fähigkeit, ein Objekt (oggetto) in eine Art Vorsprung (aggetto) umzuwandeln. Das Objekt ist nicht erst objektum, Repräsentation, etwas von der Macht eines Subjekts „Dahingeworfenes“, sondern ein Sprung nach vorne, ein Vorsprung, bevor ein Subjekt dessen Absprung ins Netz eines Blickes eingefangen könnte. Dies ist ein Fetisch-Thema besonders der französischen Phänomenologie (Sartre, Merleau-Ponty, Lévinas, die alle sehr viel von Prousts Schreiben gelernt haben): die Tatsache, dass der Anfang der perzeptiven Erfahrung in den Sachen jedenfalls eine asubjektive Dimension der Erfahrung ist, auf die das Subjekt, wie es weiß und kann, antwortet, da es nur der Saum und die posthume Grenze davon ist. Kunst ist genau die Fähigkeit, der leblosen und vergegenständlichten Sache das Leben, das ihr entzogen wurde, zurückzugeben, ihr die Fähigkeit zum Antrieb und zum Vorstoß zurückzuerstatten. Die Fassade, die die Kunst den Dingen zurückgibt, macht sie nicht sichtbar, sondern lässt sie sich darstellen. Die Tatsache, dass sich die Dinge darstellen, zeigen, geht demjenigen, dem sich die Sachen zeigen und der sie sieht, voraus.

Die Materie hat zwei grundlegende Eigenschaften: Sie ist dunkel, also vom Licht des Subjekts entfernt, und sie ist formlos, hat also kein eigenes Leben, wartet auf die Initiative des Subjekts, um im eigentlichen Sinn etwas zu sein. Die dunkle und formlose Materie, die Sache ohne Fassade, ist gegenüber dem Repräsentationsbedürfnis des Subjekts immer sehr gefügig. „Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen“: Sagen wir, dass sie es nicht ergriffen hat … noch nicht! Der Raum dieser Finsternis und dieses Abstands kann sehr wohl auch erleuchtet und durchschritten werden. Der logos denkt, dass alles mit dem Wort/dem Blick beginnt, also mit dem Licht, das sich die Finsternis der Materie aneignen können muss. Die Entfernung der Finsternis vom Licht des Blicks und des Wortes ist nur relativ und die Zeit des Sieges kann aufgeschoben werden, aber nicht ins Unendliche. Wenn der Sieg nicht kommen sollte, dann wären die Geschehnisse und der Kampf des logos mit der Finsternis reiner Un-Sinn, dann gäbe es nichts herauszuholen und die Zeit der Existenz wäre nur Verderben. Für das phänomenologische Denken dagegen hat die Finsternis doch einen gewissen Sinn. Das Licht (die Leuchtkraft des Wortes-Blicks) breitet sich gar in der Finsternis aus, es ist nichts anderes als der Lichtschein, der von den elektrischen Spannungen ausströmt, aus denen die Finsternis besteht. Die Finsternis ist für die Phänomenologie die Latenz der Illatenz, die Wahrerin des Lichts, der Schrein des Nicht-Sinns, aus dem der Sinn, mit der Zeit, hervorgehen können muss, so wie wir immer nur aus der Stille heraus sprechen und nur dank des blinden Flecks im Auge sehen. Ein gewisses réservoir an Finsternis muss bewahrt werden, aus dem sich das Licht wie das Feuer durch das Holz nährt.

Eine Möglichkeit, die weder der logos noch die Phänomenologie vorsehen, ist die, dass die Finsternis nicht zur Materie gehört, sondern zur Form, dass etwas auch in seiner Latenz vollendet sein kann, also eben Form, Fassade, dass „dunkel“ nicht die Finsternis ist, sondern die Exponierung von etwas, die aber eine Exponierung für niemanden statt für jemanden bleibt.

Die kalte Schönheit

Wir verstehen sehr gut, was geformte Materie ist: ein Gegenstand, von dem wir irgendeinen Gebrauch machen können (dieses Haus, dieser Stuhl, dieser Kugelschreiber). Und wir wissen ebenso gut, was formlose Materie ist: etwas wahrscheinlich Unbrauchbares, das aber künftig nützlich werden wird (ein unterirdisches Steinkohlevorkommen oder Milliarden von Wassertröpfchen im Himmel). Aber was ist eine Form, die dunkel bleibt? Was ist eine Fassade, die in die Nacht hineinragt? Lévinas, Leser Prousts, stößt zu dieser Sorte von Überlegungen vor, die vom Standpunkt der Phänomenologie keinen Sinn mehr ergeben (noch weniger von dem des logos): „Das Ding, das sein Geheimnis bewahrt – kraft der Fassade exponiert es sich als eingeschlossen in sein monumentales Wesen und in seinen Mythos; darin leuchtet es wie ein Strahlen, aber gibt sich nicht preis. Durch seine Anmut macht es in der Weise einer Magie gefügig, aber es offenbart sich nicht“ (ebd., S. 276). Es gibt eine Reihe von paradoxen Ausdrücken, Oxymora, die es sorgfältig zu verstehen gilt: „kraft der Fassade“ – „das Ding bewahrt sein Geheimnis“. Dann: „das Ding exponiert sich“ – „als eingeschlossen in sein monumentales Wesen“. Schließlich: „das Ding leuchtet“ – „offenbart sich nicht“. „Fassade“ ist gepaart mit „Geheimnis“, „Exponierung“ mit „Eingeschlossenheit“ und „Leuchten“ mit „Nicht-Offenbarung“: Es gibt einen Vorsprung, ein Vorstoßen, das jedoch ohne Orientierung ist. Vorspringend, vorstoßend, sich darbietend entzieht sich die Sache zugleich. Es ist das Sich-Anbieten des Vorsprungs, des Vorstoßes, der Darbietung (also von so etwas wie einer Form), das sich in sich zurückwirft, das zurückweicht, sich nicht darbietet (also dunkel bleibt). Dieses vorspringende Etwas will nicht mit uns in Beziehung treten, will alleine bleiben, keinerlei Austausch mit seiner Umwelt haben. Wir Modernen sind gewöhnt zu denken (zumindest seit Kant), dass in der Erfahrung nur dann Bedeutung ist, wenn es Beziehung gibt. Die Einsamkeit der in sich geschlossenen Sache, das Ding an sich ist der Rest, der nicht interessiert, etwas Überflüssiges, weil es nicht zwischen-ist, weil es kein Element des „Textes“ ist, das aus den Zeichen der Realität besteht (il n’y a pas de hors-texte ist die Losung eines zum Äußersten getriebenen Kantianismus). Es gibt etwas, das nicht zur Textur des Zeichens und dem notwendigen Kontext des Sinns gehört: die Fassade der Kathedrale, die nachts herausragt, die Innenseite der Textur, mit derselben Meisterschaft verarbeitet wie die Außenseite. Die Innenseite ist nicht ein „Inneres“, es hat keine Tiefe, ist kein Sinnbehälter, keine Ressource, sondern eine Oberfläche, eine flache Einsamkeit, in der sich „das Schöne [konstituiert], dessen Wesen Indifferenz ist, kalter Glanz und Schweigen“ (ebd.).

Die Schönheit der Fassade, die sich exponiert, hat die Gleichgültigkeit und die Unauffälligkeit eines vergessenen Objekts. Sie ist die Arbeit eines Künstlers, aber in reiner dépense, ohne dass jemand davon Notiz nehmen würde, wie die Innenseite der Jacke, wie die von der Balustrade verdeckten Skulpturen auf achtzig Fuß Höhe, wie die Orchesterpartien, die niemand im Publikum zu hören vermag.

Sicher könnte man einwenden: Aber gibt es nicht den Blick des verträumten Jünglings, der den Ärmelaufschlag der Finsternis entreißt? Gibt es nicht etwa die Aufmerksamkeit des Künstlers, die hinter der Kirchenbalustrade die dem zerstreuten Blick der Passanten verborgenen Skulpturen entdeckt? Gewiss gibt es den Blick des Jünglings und die Aufmerksamkeit des Künstlers, aber das Futter des Jackenärmels und die Skulptur hinter der Balustrade sind vollkommen gleichgültig gegenüber dem Blick und der Aufmerksamkeit, und es ist aus diesem Grund, dass der Blick und die Aufmerksamkeit sich davon verführen lassen können. Der Blick gleitet an der Sache herab, ohne sie ergreifen zu können. Der Beobachter steht nicht vor der Sache, sondern wird von ihr weggerissen, erliegt der Faszination der Sache. Er erliegt der Schönheit in der Gleichgültigkeit und dem kalten Glanz: der kalte Glanz eines Sterns, der nicht de-siré werden kann, von dem wir den Effekt der sidération nicht zunichtemachen können. Was Proust als „die wahren Sterne der großen Welt“ bezeichnet, die niemals bei Festen auftauchen, obwohl sie eingeladen sind, die niemals zu Hause sind, wenn wir sie suchen, so dass „wer neugierig darauf ist, sie zu sehen, […] oft eine andere Hemisphäre aufsuchen [muß], in der sie sich fast allein befinden“ (Proust 1999, S. 94), sind ein Antlitz ohne Geschichte, sinnloses und stummes Antlitz: keine Götter, sondern Idole aus Stein, reine Fassade. Wie Baudrillard in Von der Verführung erinnert, ist die Anwesenheit des Stars „dazu da, jede Sensibilität, jeden Ausdruck in der rein rituellen Faszination der Leere zunichte zu machen, in ihrem ekstatischen Blick und der Belanglosigkeit ihres Lächelns. […] Die großen Verführerinnen […] glänzen durch ihre Belanglosigkeit und ihre Kälte, welche die Kälte der Schminke und des rituellen Hieratizismus ist“ (Baudrillard 1992, S. 133f.). Proust ist sich der sakralen Bedeutung der Eleganz von Madame Swann vollkommen bewusst: „Sie [gehorchte] ganz für sich selber den kanonischen Regeln, nach denen sie sich kleidete, wie einer höheren Weisheit, deren Oberpriesterin sie sei.“ Mit ihrer verborgenen Eleganz, sorgfältig ausgesucht und überflüssig, verführt sie ohne jegliche Absicht zu verführen, wie das heilige Objekt, das in seiner Einsamkeit verharrt und von dem konzentrische Wellen des Segens oder des Fluchs abgehen, ohne dass jemand etwas dafür könnte.

Die Versuchung des logos und der Phänomenologie gegenüber der Kehrseite der Wirklichkeit besteht darin, jener kalten und gleichgültigen Schönheit eine Sinndichte zu verleihen, die gleichgültige Leere mit irgendeinem Interesse zu füllen. Der logos möchte die radikale Sinnlosigkeit der Rückseite erlösen, den Nicht-Sinn zu Sinn werden lassen, die Finsternis zu Licht, und dass das kalte Idol schließlich Wärme ausströmt. Die Phänomenologie dagegen geht die Angelegenheit weniger frontal an, operiert auf eine hinterhältigere Weise und statt das Hindernis niederzureißen, versucht sie es zu umgehen, also das Hindernis in eine Ressource umzuwandeln: Die kalte Schönheit der Kehrseite mag auch eine Abwesenheit von Sinn bedeuten, ein Loch oder ein Sprung auf dem ebenen Weg des Sinns, aber dieses Loch oder dieser Sprung sind notwendige Momente in der Konstitution des Sinns, sind die zeitweilige Aufhebung, die eine Funktion in seiner Wiederauferstehung hat. Für die Phänomenologie wird die Unsinnigkeit der Kehrseite nicht materiell in Sinn transformiert (wie es dagegen der logos versucht), sondern wird zur Affirmation von Sinn benutzt. Der Kommentar von Lévinas ist ein schlagender Beweis für diesen Prozess der Re-signifizierung des Nicht-Sinns. Nachdem er sich ebenfalls von der kalten Schönheit des Idols hat verführen lassen, kann er nicht zurückhalten, es zu einem Gott zu machen, die Stummheit des Idols zu einer Quelle des Diskurses zu machen und seine Gleichgültigkeit zum ersten Ring einer großen Beziehungskette. Nachdem er gesagt hat, dass die Anmut des Idols wie eine Magie betört und sich nicht offenbart, fügt Lévinas unvermittelt hinzu:

Wenn sich das Transzendente von der Sinnlichkeit unterscheidet, wenn es Öffnung schlechthin ist, wenn seine Anschauung die Anschauung der eigentlichen Öffnung des Seins ist – dann unterscheidet sich diese Anschauung von der Anschauung der Formen und kann weder in Termini der Betrachtung noch in Termini der Praxis ausgedrückt werden. Sie ist Antlitz; ihre Offenbarung ist Wort. Allein die Beziehung mit dem Anderen führt eine Dimension der Transzendenz ein und geleitet uns zu einer Beziehung, die ganz und gar verschieden ist von der Erfahrung im sinnlichen Sinne des Ausdrucks, von der Erfahrung, die relativ und egoistisch ist. (Levinas 2014, S. 276f.)

Mit einer Wundertätergeste gibt Lévinas dem stummen Antlitz des Sterns das Wort zurück und die einsame Exponierung wird Transzendenz, Kommunikation: os, Mund, halbgeschlossene Lippen, bereit, einen Laut zu artikulieren. Gewiss, das Antlitz ist nicht der Ausdruck und der Mund ist nur bereit zu reden, redet noch nicht, aber weil er der stille Raum ist, der alle möglichen Worte in sich auf- und zurücknimmt, so wie das Antlitz ganz Vermögen zum Ausdruck ist, zu dem er bereits fähig ist. Diese Philosophie der Beziehung definiert sich als „Gegensatz zu jeder Art von Beziehung mit dem Sakralen“ (Levinas 2014, S. 109), die Philosophie nimmt Distanz zur unverrückbaren Stummheit des Idols, zum weißen Gesicht des Stars, zur Nichtigkeit seines Lächelns ein, zur heidnischen Flachheit seiner Exponierung. Die Phänomenologie denkt, dass das Phänomen des Sinns, das Phänomen als Sinn, sich vor allem dank des Hintergrunds seiner Verhüllung und seines Vergessens offenbart. Das Licht ist wie der Saum des Schattens, das Wort ist eine innere Falte der Stille. Hier werden Schatten und Stille für die Exponierung von Licht und Wort nutzbar gemacht. Der Schatten und die Stille sind das verso des recto der Offenbarung und des Wortes.

Aber die Faszination, die der Erzähler für die Zurückhaltung der Exponierung empfindet, kommt von der Tatsache, dass die abgöttische Schönheit von sich aus Sinn bekommt und nicht die Einleitung einer Offenbarung ist. Vielleicht existiert wirklich so etwas wie eine Leidenschaft für die Gleichgültigkeit, die sich nicht mit der gesellschaftlichen Notwendigkeit der Relation verbündet.

Die Leidenschaft der Gleichgültigkeit

Dies ist auch der Titel eines einleitenden Essays, den Agamben 1978 zu Prousts Erzählung Der Gleichgültige verfasst hat – eine Erzählung, lange Zeit von der Literaturgeschichte vergessen, weil sie aus der Sammlung ausgeschlossen wurde, in der sie anfänglich hätte veröffentlicht werden sollen, nämlich Les plaisirs et les jours.Wovon handelt diese Erzählung? Von der unglücklichen Liebe der Madeleine de Gouvres, einer schönen und geistreichen Witwe, einer der faszinierendsten Frauen der Pariser Gesellschaft, für den jungen und fahlen Lepré, der als „très gentil, mais très insignifiant“ bezeichnet wird, „très gentil, mais sans rien de remarquable“ (Agamben hat ein leichtes Spiel zu zeigen, dass Lepré eine Vorwegnahme von Albertine ist, dem immer auf der Flucht befindlichen Wesen der Recherche, jene, die mit ihrer souveränen Gleichgültigkeit und Rätselhaftigkeit die Leidenschaft des Erzählers martert). Nun, aus welchem Grund verliebt sich Madeleine in Lepré? Paradoxerweise gerade, weil er nichts Besonderes an sich hat, – gerade – nichts remarquable. Remarquer, etwas merken: die Fähigkeit der Aufmerksamkeit, sagte Kant, ist die Fähigkeit, das zu empfinden, was vom anderen abweicht, und wir können nichts anderes empfinden als die Differenz. Wir merken „dieses“ nur, weil es sich von „jenem“ unterscheidet, wir merken die Differenz. Die Aufmerksamkeit ist eine Differenzfunktion und bildet das Rückgrat der Empfindung, die den Anfang jeder Erfahrung a posteriori bildet (und auch den Vorwand für das erfolgreiche Einrasten jener a priori, womit sie in gewisser Weise am Anfang jeder Erfahrung steht). Die Aufmerksamkeit erfasst im nebligen Panorama der Welt die Exponierung, die den Unterschied macht, das, was vom Hintergrund des Unterschiedslosen losreißt. Lepré, der Mann der Gleichgültigkeit, ist eigentlich unwahrnehmbar, jemand der sich dem Blick und der Aufmerksamkeit entzieht, der weder Löcher in die Realität macht noch Spitzen erreicht, daher kann er jene rettungslos verführen, die für den Rückzug der Dinge empfänglich sind. Gleichgültig ist das, was sich unserer Aufmerksamkeit entzieht und den Beginn der Erfahrung nicht zulässt. Aber was ist die Erfahrung für uns Moderne und Kantianer? Die Erfahrung ist das Gewebe der Relation. Hundertfünfzig Jahre nach Kant versucht Lévinas mit seinem absoluten Empirismus auch noch die Einsamkeit des Dings an sich (die er „Antlitz“ nannte) der Relation, der Begegnung zurückzugeben: das Trauma, die Überraschung der Gleichgültigkeit in die ebene Landschaft der Erscheinung wiedereinzuführen. Der Vorgang war einfacher als man denken konnte: Das Antlitz an sich, auch wenn es nicht erscheint, bleibt Wille zur Erscheinung. Das Schweigen des Antlitzes sagt in Wirklichkeit: incipit phaenomenon. Das Antlitz schweigt, sagt nicht, spricht nicht, nur weil es ganz Sagen-Wollen ist, es ist das Wort. Das Antlitz ist eine vorübergehende Krise des Regimes der Vermittlung und der Phänomenalität, die sich sofort in Relation auflöst. Der Träger des Antlitzes lässt sich vielleicht „siezen“, aber in seinem Herzen ist er ein Kumpel. Die poetische Überraschung des Antlitzes geht sofort in Prosa und in Diskurs über.

Die Rolle der Gleichgültigkeit in der komplexen Proust’schen Kartographie der Leidenschaften ist für Agamben eine strategische: „Die Gleichgültigkeit in der Tat […] als Mangel der Liebe […] manifestiert einen Überschuss des Signifikanten über das Signifikat, des Codes über die Sprache“ (Agamben 1978, S. 14). Nun, um in unserem Sinn das strukturalistische Vokabular zu übersetzen, dessen sich Agamben damals bediente, könnten wir sagen, dass der „Überschuss des Signifikanten“ dasjenige ist, was sich der Aufmerksamkeit und der Erfahrung als Gewebe von Relationen entzieht. Der „Überschuss des Signifikanten“ ist eine nicht-evidente Exponierung, die umso mehr verführt, je weniger sie beabsichtigt ist, ohne Strategie, spontan. Es ist die Einsamkeit der Dinge und der Menschen, die uns verführt: die Obsession Swanns zu erfahren, was Odette tut, wenn sie nicht mit ihm ist, und das Leiden des Erzählers in den Stunden, in denen Albertine ihre Ausflüge mit dem Auto macht. Diese Einsamkeit ist nicht das Vorspiel einer Entdeckung, sie muss ihre felsige Konsistenz nicht zwangsläufig in das geschmeidige Gewebe der Relationen auflösen: Die eheliche ménage von Swann und Odette bestätigt das Ende ihrer Liebe und die Aufdeckung des Geheimnisses von Albertine kann nur nach ihrem Tod geschehen, also wenn jede Möglichkeit sie zu teilen verschwunden ist.

Und dennoch, und dennoch … so geheim und einsam die Exponierung der Rückseite sein mag, es ist immer möglich, dass sie jemand entdeckt, beginnt, ihr Sinn zu verleihen. Selbst die sphinxhafteste und unerreichbarste Frau kann sich durch die Verlockungen des Erstbesten zu einer Liebesbeziehung überreden lassen. Das Antlitz des Sterns kann tatsächlich das Antlitz des Anderen werden und so finden alle unsere moralischen Bedenken ihre Ruhe: Die heilige Gewalt der Verführung wirft die ersten „sprachlichen Kompetenzen“ ab, wird „Kommunikation“ und „Dialog“.

Aber es ist nicht nur die Innenseite der Jacke, die eine paradoxe Form der Exponierung in Proust anzeigt. Es gibt auch noch eine zweite Form, diesmal eine sprachliche, nämlich das Geschnatter der Tanten mütterlicherseits während Swanns Besuch in Combray.

Die Tanten

Swann schickt seinem Besuch der Familie des kleinen Marcels eine Kiste Asti-Wein voran. Beim Besuch sind auch die Tanten Flora und Céline anwesend, Frauen, denen soziale Intelligenz eindeutig abgeht. Sie wollen Swann zu verstehen geben, dass sie in der Zeitung einen Artikel über ihn und seine Kunstsammlung gelesen haben, aber ihre Andeutung bleibt für den direkt Betroffenen dunkel, er versteht nicht, was die Tanten ihm sagen wollen. Sie möchten ihm auch ihre Dankbarkeit für das erhaltene Geschenk mitteilen, aber fürchten unverschämt zu sein, wenn sie ihm offen danken, also tun sie dies auf eine allzu gewundene Weise – und auch der Dank bleibt unvernehmbar:

„Heute morgen las ich wieder einmal etwas bei Saint-Simon, das Ihnen Spaß gemacht hätte. Es steht in dem Band über seine Mission in Spanien; er gehört nicht zu den besten, ist kaum mehr als ein Journal, aber eben doch ein wundervoll geschriebenes Journal, was es von vornherein von den tödlich langweiligen Zeitungsnotizen unterscheidet, zu deren Lektüre wir uns jeden Morgen und Abend verpflichtet fühlen.“ „Da bin ich anderer Meinung, es gibt Tage, an denen ich sehr gern die Zeitung lese…“, unterbrach ihn Tante Flora, um zu zeigen, daß die Notiz über Swanns Corot im Figaro ihr nicht entgangen sei. „Ja, wenn darin von Dingen oder Menschen die Rede ist, die uns am Herzen liegen!“ übertrumpfte Tante Céline sie noch. „Gewiß, gewiß“, pflichtete Swann etwas verwundert bei. „Was ich den Zeitungen vorwerfe, ist, daß sie uns alle Tage auf unbedeutende Dinge aufmerksam machen, während wir drei- oder viermal in unserem Leben die Bücher lesen, in denen Wesentliches steht. In dem Augenblick, wo wir jeden Morgen fieberhaft die Zeitung auseinanderfalten, sollte eine Vertauschung der Dinge stattfinden und in der Zeitung sollten, ich weiß nicht was, die … Pensées von Pascal stehen!“ (Er hob diesen Titel mit ironischer Emphase hervor, um nicht pedantisch zu erscheinen.) […] Aber da er gleich darauf bedauerte, wenn auch nur leichthin, von ernsten Dingen geredet zu haben, setzte er in ironischem Ton hinzu: „Eine schöne Unterhaltung führen wir da! Ich weiß nicht, warum wir uns auf solche ‚Höhen‘ begeben“, und indem er sich wieder zu meinem Großvater wandte: „Saint-Simon erzählt also, Maulévrier habe die Kühnheit besessen, seinen Söhnen die Hand hinzustrecken. Sie wissen, dieser Maulévrier, von dem er sagt: ‚Niemals habe ich in dieser dicken Flasche etwas anderes als üble Laune, Grobheit und alberne Einfälle festgestellt‘.“ „Dick oder nicht, ich kenne Flaschen, in denen etwas ganz anderes ist“, fiel Flora lebhaft ein, die Wert darauf legte, sich auch ihrerseits bei Swann bedankt zu haben, denn der Wein war ausdrücklich für beide bestimmt gewesen. Céline fing zu lachen an. Verdutzt fuhr Swann fort: […] (Proust 1994, S. 39f.)

Es gibt Tage, an denen ich sehr gern die Zeitung lese… Dick oder nicht, ich kenne Flaschen, in denen etwas ganz anderes ist… Wer könnte sich zurechtfinden in diesem Geschnatter, den Schleier einer so dunklen Andeutung heben, dazu bestimmt ohne Mitteilung zu bleiben, absolut „privat“? Die geheimnisvollen Komplimente der Tanten führen auf verkehrte Weise vor, was in der Innenseite des Ärmels geschieht und in der Tatsache, dass die Balustrade die Skulpturen der Heiligen verbirgt usw. Letztere ist eine einsame und unauffällige Exposition, die Evidenz der Exponierung besteht aus Nicht-Evidenz. In den Andeutungen der Tanten dagegen gibt es eine vollkommen evidente Exponierung: Alle Anwesenden verstehen, dass die Tanten etwas sagen wollen. Es gibt keinerlei Verschwiegenheit in ihrer kommunikativen Absicht. Tatsache ist aber, dass man absolut nicht versteht, was gesagt wird. Der Satz wird in-signifikant, sagt nichts. Im Falle der einsamen Exponierung der Jacke gab es so etwas wie eine deutliche, schneidende Behauptung, eine marmorne Konsistenz der Exponierung, die sich verbarg, die unwahrgenommen blieb. Jetzt dagegen gibt es die unmittelbare Verflüssigung einer überevidenten Exponierung: Der Wunsch nach Kommunikation und Mitteilung eines Gedankens, ein Affekt (die Dankbarkeit und Bewunderung, vielleicht der Neid, für Swann) fällt auf sich zurück, die Andeutung wird im Nichts vernommen. Die Tanten möchten den anderen etwas „zu verstehen geben“, daher „exponieren“ sie sich. Wenn es in der einsamen Exponierung der Jacke einen Aufbruch gibt, der den Charakter der Gleichgültigkeit und des Frostes hat, eine nicht-evidente Exponierung, ist die Exponierung in den Komplimenten der Tanten dagegen gefällig, theatral, emphatisch, mehr als evident, aber in der Leere vernommen. Das Geschnatter der Tanten, ihre stupide verbale Aufregung führt zu nichts, dient nur dazu, die Konversation versacken zu lassen (gerettet von Swanns Anstand, der sich damit begnügt, wegzustecken). Die leeren Andeutungen der Tanten sind sogar noch steriler als die einsame Exponierung der Jacke: Selbst wenn sie mit der eigenen Seinsphysiognomie nicht kohärent ist, kann die einsame Exponierung entdeckt, phänomenologisiert werden, als Einleitung kommunizierbaren, mitteilbaren Sinns verwendet werden. In den Komplimenten der Tanten dagegen gibt es nichts zu entdecken, sie eröffnen nichts. Es ist, als wenn die Innenseite der Jacke und die Andeutungen der Tanten die zwei komplementären Hälften einer einzigen paradoxen Exponierung bilden würden: die Nicht-Evidenz der Innenseite und die Unverständlichkeit der Andeutung. Die Dummheit der Andeutungen antwortet auf das Geheimnis der Innenseite, das niemals so schön ist, wie wenn es unbemerkt bleibt. Indem sie sich kleidet, wie sie sich kleidet, gehorcht Madame Swann nur sich selbst: Im Vergnügen einer parvenue, die „elegant zu sein weiß“, ist es in Wirklichkeit die Innenseite der Jacke, die sich selbst gefällt, selbst ohne die Einbeziehung möglicher Bewunderer. Und die unvernehmbare Andeutung der Tanten bleibt ihrem Jungfernkreis vorbehalten. Es ist, als ob in der absoluten Dämlichkeit der tantenhaften Andeutungen der Wille zum Vergessen des Jackenfutters sich endlich verwirklichen würde, das in seiner vollendeten, autonomen, kohärenten, nicht-phänomenologischen Form vollkommen gleichgültig ist und nur danach fragt, vergessen zu werden.

Die zwei paradoxen, und wohlgemerkt, weiblichen Formen der Exponierung könnten zusammen die Hälften eines geheimen und stummen Gegenstandes bilden. Welche Physiognomie hätte ein solcher Gegenstand? Vielleicht die Form einer autistischen Existenz, selbstreferentiell und vollkommen „überflüssig“? Ein vollkommener Un-Sinn, der sich von jeder Erfahrungsmöglichkeit ausschließt und aufgrund dessen es in keiner Weise verdient, in Betracht gezogen zu werden? Und dann: Für wen wäre eine so absurde Form der Exponierung, dass sie in sich den Charakter der Nicht-Evidenz und der Unverständlichkeit vereint? Wer nimmt Notiz des Unscheinbaren und Unverständlichen? Gibt es vielleicht so etwas wie eine Einsamkeit der Sache, die nicht in die Falle der Relation tappt und sich nicht von der intentio des Subjekts aufklären lässt? Es ist der Schatten, in dem das Phantasma des Absoluten aufscheint, den die moderne Philosophie aus der Stadt der Philosophie verbannt hat und das dagegen das beruhigende, „relationale“ Gewebe unserer Erfahrung wieder aufzulösen beginnt, wenn wir es am wenigsten erwarten.

Aus dem Italienischen von Francesca Raimondi

Literatur

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Proust, M. (1999): Sodom und Gomorrha. Drittes Kapitel. Werke II, Bd. 4. Frankfurter Ausgabe. Frankfurt/M.Search in Google Scholar

Published Online: 2017-8-26
Published in Print: 2017-8-28

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 19.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/para-2017-0010/html
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