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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter July 11, 2023

Kierkegaard: Existenzphilosoph nur im ‚Nebenberuf‘? Überlegungen im Anschluss an Jürgen Habermas

  • Oliver Victor EMAIL logo

Abstract

This paper discusses Habermas’s characterization of Kierkegaard as a religious author in his main profession and as an existential philosopher on the side. I would like to argue that Kierkegaard is primarily an existential philosopher, also in his function as a religious author. At first, I would like to interpret his religious authorship as a form of indirect communication, and after that I discuss indirect communication as a method of existentialism. In this way, the article aims to demonstrate that Kierkegaard becomes the precursor of existential philosophy not least by his religious authorship as a theory and practice of indirect communication.

I Einleitendes: Habermas’ philosophiegeschichtliche Verortung Kierkegaards

2019 hat Jürgen Habermas mit seinem umfangreichen zweibändigen Werk Auch eine Geschichte der Philosophie sein Alterswerk und wohl zugleich auch sein „intellektuell ehrgeizigstes Werk“[1] vorgelegt. Allein der Titel legt nahe, dass der Verfasser dort eben auch eine philosophiehistorische Einordnung der von ihm besprochenen Denkerinnen und Denker anstrebt. Genauer gesagt, geschieht dies in Hinblick auf das Ziel, eine „Genealogie nachmetaphysischen Denkens“[2] unter besonderer Berücksichtigung des produktiven Wechselverhältnisses von Glauben und Wissen in der abendländischen Geistesgeschichte nachzuzeichnen. So verrät Habermas gleich zu Beginn seines Vorwortes, dass das Buch ursprünglich den etwas unhandlicheren Titel „Zur Genealogie nachmetaphysischen Denkens. Auch eine Geschichte der Philosophie, am Leitfaden des Diskurses über Glauben und Wissen“[3] tragen sollte. Dass sich im Rahmen einer am Diskurs über Glauben und Wissen orientierten Philosophiegeschichte ein ausführlicheres Kapitel über Søren Kierkegaard findet, dessen schriftstellerisches Schaffen nicht zuletzt um die spannungsvolle Kluft zwischen Glauben und Wissen im Allgemeinen sowie das Paradox des christlichen Glaubens im Speziellen kreist, erscheint naheliegend. Ein solches Kapitel über Kierkegaard findet sich am Ende des zweiten Bandes und ist in die Betrachtung der Junghegelianer und die Erörterung der Probleme nachmetaphysischen Denkens eingebettet. Somit bietet bereits das Inhaltsverzeichnis der Leserin und dem Leser eine erste grobe philosophiegeschichtliche Verortung Kierkegaards, insofern es diesen in die breite Traditionslinie der Linkshegelianer sowie in das postmetaphysische Zeitalter einreiht. Habermas bezeichnet Kierkegaard in der Folge als einen Theologen, der „im Hinblick auf Hegel nachmetaphysisch“[4] denke, insofern bei ihm theologische Reflexionen eine anthropologisch-nachmetaphysische Form annehmen. Hieran anknüpfend ließe sich Kierkegaard in die von Karl Löwith als revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts[5] bezeichnete Bewegung einordnen, welche gegenüber Hegels vermeintlich wirklichkeitsferner, das heißt weltabgewandter, Philosophie die Lebenswirklichkeit des in concreto existierenden Menschen wieder ins Zentrum der Philosophie rücken möchte.

Das Kierkegaard-Kapitel selbst stellt Habermas unter folgende programmatische Überschrift: „Der religiöse Schriftsteller Sören Kierkegaard zur ethisch-existentiellen Freiheit des lebensgeschichtlich individuierten Einzelnen.“ Pointiert und treffend werden so schon in der Kapitelüberschrift zentrale Topoi der Philosophie Kierkegaards aufgegriffen und zugleich in Beziehung zueinander gesetzt, nämlich: sein Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller, die Dimension des Ethischen verstanden als Existenzwirklichkeit des Existierenden und die Kategorie des Einzelnen. Die Überschrift suggeriert dabei, dass Kierkegaard sich als religiöser Schriftsteller zu den Problemen der Existenzwirklichkeit des Einzelnen äußert. Die Formulierung ‚lebensgeschichtlich individuierter Einzelner‘ rekurriert zugleich auf die Zurückgeworfenheit eines jeden Existierenden auf sich selbst und die von Kierkegaard zum zentralen Sujet indirekter Mitteilung erhobene Unhintergehbarkeit der Subjektivität der ersten Person Singular.

Bis hierhin erscheint die vorgenommene philosophiehistorische Einordnung Kierkegaards durchaus plausibel, wenngleich auch für den mit Kierkegaard vertrauten Leser wenig überraschend. Weitaus mehr vermag dann allerdings eine Bemerkung in dem relevanten Kapitel selbst zu erstaunen, in welchem Habermas zu Kierkegaard beinahe en passant anmerkt: „,Existenzphilosoph‘ ist er nur im Nebenberuf. In der Hauptsache ist er religiöser Schriftsteller“[6]. Dass der Topos des religiösen Schriftstellers auch losgelöst von den Kontroversen um die Adäquatheit dieser retrospektiven Selbstdeutung Kierkegaards eine zentrale Funktion in seinem Gesamtwerk einnimmt, soll hier keineswegs bestritten werden.[7] Dennoch verwundert es, wenn Habermas Kierkegaard, der gemeinhin in der Geschichte der Philosophie als Begründer der Existenzphilosophie firmiert, ebenjene Rolle lediglich im ‚Nebenberuf‘ attestiert. Meines Erachtens kann Kierkegaard indes in einem gehaltvollen und inhaltlich wohl begründeten Sinne als Wegbereiter – ja neben Nietzsche als die zentrale Initialfigur – der Existenzphilosophie bezeichnet werden. Erste Indizien hierfür sind nicht zuletzt: (1) seine gegenüber den Philosophien des Deutschen Idealismus geäußerte Abstraktions- und Systemkritik – eben sein, mit Habermas gesprochen, nachmetaphysischer Ansatz –, (2) seine Kategorien des Einzelnen und der Existenz, (3) seine anti-essentialistische Anthropologie, (4) seine Ethik der Selbstadresse sowie (5) seine Methode der indirekten Mitteilung. An dieser Stelle kann die Etikettierung Kierkegaards als Existenzphilosoph als solche nicht in extenso und grundsätzlich besprochen werden.[8] Insofern aber auch Habermas die Charakterisierung Kierkegaards als Existenzphilosoph nicht prinzipiell ablehnt und infrage stellt, ist das für unsere folgenden Überlegungen jedoch auch nicht weiter problematisch.

Aufschlussreich und zentral ist, dass Habermas Kierkegaards vermeintlich bloß ‚nebenberufliche Tätigkeit‘ als Existenzphilosoph an seinem ‚Hauptberuf‘ des religiösen Schriftstellers festmacht. Für Habermas scheint demnach eine gewisse Diskrepanz zwischen diesen beiden Tätigkeiten zu bestehen. Hierbei ist aus meiner Sicht der springende Punkt einerseits, dass Habermas das Interesse des religiösen Schriftstellers ausschließlich und dezidiert theologisch bestimmt versteht: Sein Thema sei die religiös-christliche Lebensform.[9] Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass Habermas den religiösen Schriftsteller Kierkegaard vom Philosophen Kierkegaard unterscheidet und abgrenzt. Auf die Bedeutung der Kategorie des Einzelnen im Werk des Dänen hinweisend, merkt er an, ihre Relevanz ergäbe sich für den Theologen Kierkegaard unmittelbar „aus dem Bezug des Gläubigen zum christlichen Gott“; für den Philosophen Kierkegaard, „im Vorfeld der religiösen Schriftstellerei“, jedoch aus der „Kritik an ‚Spekulation‘ aus der kantischen Sicht eines modernen Sokrates“[10]. Eine umfassendere sowie weitere werkimmanente Aspekte berücksichtigende Erläuterung dessen, was Habermas nun genau unter der religiösen Schriftstellerei bei Kierkegaard verstanden wissen möchte, ist hingegen meines Erachtens nicht erkennbar. Hier lohnt es sich, einen kurzen Blick auf die Struktur des Kierkegaard’schen Œuvres zu werfen. Kierkegaards Werk lässt sich en gros in zwei schriftstellerische Schaffensphasen unterteilen: Eine größtenteils durch pseudonym verfasste Schriften und indirekte Mitteilungsverfahren geprägte erste Phase und eine mit dem Corsarenstreit beginnende zweite Periode, welche häufig in erster Linie mit seiner Tätigkeit der religiösen Schriftstellerei und dem weitestgehenden Ende der pseudonymen Schriftstellerei verbunden wird. Dies geschieht nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass in diese Phase auch seine Christlichen Reden fallen. Auch bei Habermas scheint diese Auffassung zumindest im Hintergrund mitzuschwingen, wenn er in dem eben genannten Sinne den Philosophen Kierkegaard vom Theologen Kierkegaard abgrenzt. Kierkegaard selbst hält rückblickend in Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller fest, dass nach den Ereignissen des Corsarenstreits jedenfalls die „entscheidende religiöse Schriftstellerei“[11] begann. Ebenso fällt seine, oft als anthropologisches Hauptwerk bezeichnete, Schrift Die Krankheit zum Tode, herausgegeben vom religiösen Pseudonym Anti-Climacus, in diese Schaffensphase und wird von Habermas mit Blick auf den religiösen Schriftsteller ebenfalls angeführt. Auch wenn Kierkegaard retrospektiv zwar sein gesamtes Werk unter das Leitmotiv der religiösen Schriftstellerei stellt und in Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller gar betont, das „unmittelbar Religiöse ist von Anfang an zur Stellung gewesen“[12], so lässt sich dennoch mit den Erlebnissen des Corsarenstreits, der Veröffentlichung der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift und dem damit verbundenen weitestgehenden Ende der pseudonymen Schriftstellerei, der Zunahme der Anzahl an unter eigenem Namen verfassten religiösen Reden[13] sowie der veränderten Form der Journale der Beginn einer zweiten Schaffensphase um die Jahre 1845/46 herum konstatieren, die sich dem Topos des religiösen Schriftstellers in einer verstärkten Form widmet. Hiervon ausgehend, ließe sich nun kritisch an Habermas zurückfragen, ob sich nicht auch der so verstandene religiöse Schriftsteller Søren Kierkegaard des Verfahrens indirekter Mitteilung bedient, welche sich gerade durch Unabgeschlossenheit, Offenheit und eine anti-dogmatische Haltung in der Erörterung von Existenzproblemen auszeichnet. So wie die ‚Stadienlehre‘ aus Entweder/Oder – und damit der ersten Werkphase – nicht zwangsläufig teleologisch als auf die religiös-christliche Lebensweise hin ausgerichtet interpretiert werden muss, so ließe sich mitunter diese Offenheit auch auf die Interpretation der religiösen Schriftstellerei anwenden. Der zweite Teil des vorliegenden Beitrags wird versuchen, für eine solche Lesart der religiösen Schriftstellerei zu argumentieren.

Auf der anderen Seite scheint für Habermas die Existenzphilosophie eo ipso mit einem Säkularisierungsbestreben einherzugehen, wobei er erneut betont, dass bei Kierkegaard hingegen die literarische Darstellung ausdrücklich christlich inspirierter Lebensentwürfe im Mittelpunkt stehe.[14] Insofern sei es sogar erstaunlich, dass Kierkegaard überhaupt zum Begründer der Existenzphilosophie werden konnte.[15] Hier knüpft Habermas an seine früheren Ausführungen aus Die Zukunft der menschlichen Natur an. Dort bezeichnete er Kierkegaard bereits als einen zwar postmetaphysischen, aber dezidiert religiösen und theologischen Denker,[16] wobei er des Weiteren anmerkt, dass seine Nachfolger – die Existenzphilosophinnen und -philosophen des 20. Jahrhunderts – einem „methodischen Atheismus“[17] verpflichtet seien. Dies ließe sich ebenso kritisch hinterfragen, insofern uns auch im 20. Jahrhundert eine Linie sogenannter religiöser oder explizit christlicher Existenzphilosophie – man denke etwa an Gabriel Marcel oder Peter Wust – begegnet,[18] und zudem Kierkegaards Ausbuchstabierungen diverser Existenzmodi nicht allesamt christliche skizzieren. Sowohl der Kierkegaard der pseudonymen Schriftstellerei als auch jener der nicht pseudonym verfassten religiösen Reden betont die lebenspraktische Dimension der subjektiven Wahrheit, die im wahrsten Sinne des Wortes ‚erbaut‘, insofern sie auf eine Wirkung beim Rezipienten hin ausgerichtet ist.[19] So können seine Texte ganz allgemein als Appelle für eine verstärkte Existenzinnerlichkeit gelesen werden, ohne dass damit eine vorab festgelegte inhaltliche Dimension einer solchen subjektiven Wahrheit einhergeht.

Diese Ausführungen zur philosophiehistorischen Situierung Kierkegaards seitens Habermas sollen nun zum Anlass genommen werden, um im Folgenden zu fragen, ob Kierkegaard nicht vielmehr gerade durch seine Tätigkeit als religiöser Schriftsteller zum Existenzphilosophen im ‚Hauptberuf‘ wird. Um diese Frage zu beantworten, möchte ich im Verlaufe der vorliegenden Untersuchung zwei Thesen nachgehen und abschließend Kierkegaards zwei ‚berufliche Tätigkeiten‘ (neu) in Beziehung zueinander setzen. These (1): Die religiöse Schriftstellerei ist eine Form indirekter Mitteilung. These (2): Die indirekte Mitteilung ist eine genuin existenzphilosophische Methode. So soll gezeigt werden, dass Kierkegaard qua religiöser Schriftstellerei als Methode indirekter Mitteilung zum Existenzphilosophen im ‚Hauptberuf‘ wird und sich damit dem Kierkegaard-Bild von Habermas gewissermaßen eine andere Akzentsetzung verleihen lässt.

II Religiöse Schriftstellerei und indirekte Mitteilung

In diesem Abschnitt soll in der hier gebotenen Kürze dafür argumentiert werden, dass auch Kierkegaards religiöse Schriftstellerei grundlegend eine indirekte Form der Mitteilung gebraucht und demnach Letztere ein methodologisches Spezifikum seines gesamten Werkes – und eben nicht nur der pseudonymen Schriften – darstellt.[20] Dazu soll auf einige zentrale Charakteristika der religiösen Reden eingegangen werden, die in der Regel zuvorderst mit der religiösen Schriftstellerei in Verbindung gebracht, von Habermas aber erstaunlicherweise außen vor gelassen werden. Dabei tragen gerade diese Texte wesentlich zum Verständnis der religiösen Schriftstellerei und ihrer indirekten Mitteilungsverfahren bei. Unter den ‚religiösen Reden‘ Kierkegaards möchte ich hier sämtliche als ‚erbaulich‘ und ‚christlich‘ bezeichnete Reden sowie die ‚Abendmahlsreden‘ verstanden wissen. Gerade unter Aspekten der Form und Gestalt lassen sich diese Reden der verschiedenen Titel und Unterklassifizierungen zum Trotz als ein relativ einheitliches Genre von predigtartigen Texten verstehen.[21] Da die Entstehung der Mehrzahl der als ‚erbaulich‘ betitelten Reden jedoch in die Zeit vor dem Corsarenstreit fällt, lässt sich so die Tätigkeit religiöser Schriftstellerei über die Unterscheidung der beiden Werkphasen hinweg konstatieren. Wenn nun diese Reden[22] als Verfahren indirekter Mitteilung ausgewiesen werden können, erweist sich Letzteres einmal mehr als ein Leitmotiv des Kierkegaard’schen Œuvres, wodurch zugleich die Kontroverse, ob nun Kierkegaards Werk insgesamt oder erst die Phase nach dem Corsarenstreit eine genuin religiöse Schriftstellerei darstellt, für die hiesigen Überlegungen ausgeklammert werden kann.

In Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller äußert sich Kierkegaard jenseits aller Pseudonyme über sein Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller. Er beschreibt dort den persönlichen, individuellen Entwicklungsprozess seiner schriftstellerischen Tätigkeit und betont die hinter den Pseudonymen stehende Intention, seine Leser zu einer je eigenen Wahrheit hinzuleiten, die nur durch diese selbst realisierbar sei. Er sieht seine Möglichkeiten darauf begrenzt, einen Menschen prinzipiell auf das Existenzproblem, seine Selbst- und Weltverständigung,[23] aufmerksam zu machen. Der Empfänger der Mitteilung kann dazu bewegt werden, dass er urteilt, aber nicht wie er urteilt. In Hinblick auf dieses Wie bleibt die Mitteilung gewissenmaßen ‚ohne Gewähr‘ und somit offen.[24] In dieser Hinsicht schreibt Kierkegaard wie ein früher Existenzphilosoph,[25] welcher an den Einzelnen appelliert, sein Leben in Eigenregie und Eigenverantwortung zu führen und zu gestalten.

Bekanntlich lässt sich bei Kierkegaards indirekter Mitteilung zwischen einem Darstellungs- und einem Aneignungsaspekt unterscheiden.[26] Letzterer bezeichnet die Selbsttätigkeit der Aneignung durch den Rezipienten, durch die der Empfänger in einen persönlichen Kontakt mit dem Inhalt der Mitteilung treten kann. Sowohl der Darstellungs- als auch und insbesondere der hier lediglich kurz umrissene Aneignungsaspekt finden sich jedoch nicht nur in den pseudonymen Schriften, sondern auch und gerade in den religiösen Reden, die so eine weitere Gestalt indirekter Mitteilung darstellen.[27] Zwar ändert sich im Genre der Reden, in denen Kierkegaard nicht hinter die Maske eines Pseudonyms zurücktritt, die Darstellungsform, nicht aber die auf Aneignung zielende Indirektheit der Mitteilung. Dies trifft auf die Reden insgesamt zu, und in diesem Sinne knüpfen die christlichen Reden der zweiten Werkphase qua ihrer indirekten Methode an die bereits zuvor im Werk Kierkegaards präsenten erbaulichen Reden an. Kierkegaard hat zum Beispiel selbst sein Vorlesungsmanuskript zur „Dialektik der ethisch und ethisch-religiösen Mitteilung“[28], welches Grundmotive seiner Theorie indirekter Mitteilung umreißt, ursprünglich als eine Vorlesung zur Homiletik konzipiert.[29] Dies zeigt, dass Kierkegaard die indirekte Mitteilung als eine Methode religiöser Schriftstellerei ernstnimmt und gezielt dort einsetzt, wo es um die Vermittlung sowohl allgemein-religiöser (wie in den erbaulichen Reden) als auch dezidiert christlicher Motive (wie in den christlichen Reden und Abendmahlsreden) geht.

Der Verfasser solcher Reden tritt nicht als Lehrer auf, sondern lässt den Hörer bzw. den Leser[30] an seinem zutiefst persönlichen Versuch, zu mehr Existenzinnerlichkeit zu gelangen, teilhaben.[31] Ein solcher Versuch kann, weil es um die Existenz eines Einzelnen geht, immer nur indirekt kommuniziert werden, da er sich qua Konkretheit und Singularität einer direkten begrifflichen, verallgemeinernden Mitteilung stets entzieht. Die Rede ist so zugleich Ausdruck einer gewissen Selbstlosigkeit des Redners und Freiheit des Hörers.[32] Letztere besteht darin, dass sich der Hörer den Inhalt der Rede im kritischen Selbstvollzug aneignet und einer Prüfung unterzieht. Auf diesen Akt der subjektiven Aneignung verweist auch Habermas in seiner Kierkegaard-Analyse, fügt jedoch hinzu – und das ist für unsere Überlegungen von Relevanz –, dass es Kierkegaard dabei gezielt um eine Aneignung des christlichen Glaubensparadox gehe.[33] Eine derart teleologische Ausgerichtetheit der indirekten Mitteilung – sei es hinsichtlich einer religiös-christlichen oder auch einer andersartig inhaltlich bestimmten Existenzweise – scheint meines Erachtens jedoch der Offenheit und dem anti-dogmatischen Charakter als zwei wesentlichen Merkmalen der indirekten Methode zu widersprechen. Kierkegaard spricht sich nicht das Recht zu, den christlichen Glauben von anderen einzufordern. In diesem Kontext sei an seine Äußerungen erinnert, er habe bewusst auch seine christlichen Reden ‚Reden‘ und eben nicht ‚Predigten‘ genannt, da er sich zu solchen nicht bevollmächtigt gesehen habe.[34] Er kann lediglich versuchen, den christlichen Glauben als eine mögliche Lebensweise darzustellen und seinen Hörer dazu zu bringen, jenen Existenzmodus eigens in Existenzinnerlichkeit zu prüfen. So sei es auch nicht das Ziel dieser Reden, „das unsagbare Absolute zum Ausdruck zu bringen, sondern ihren Leser in ein selbstgewähltes Verhältnis zu diesem Absoluten zu versetzen“[35], so Fürstenberg. Wie der Hörer der Rede sich anschließend selbst zum Christ-Sein positioniert, steht außerhalb der Macht des Redners; die Subjektivität entscheidet hier über die Verwirklichung einer christlichen Religiosität.[36]

Die Souveränität des Hörers ist zu wahren, ja mehr noch, geradezu zu steigern, und so können auch die christlichen Reden als ein Versuch zur Förderung von Subjektivität in existenzphilosophischer Manier betrachtet werden. Hierbei ist, wie schon bei den erbaulichen Reden, vor allem der antipersuasive Charakter des Erbaulichen relevant.[37] Dazu lässt sich anmerken, dass Kierkegaard eben keineswegs seine Leser bloß überreden möchte, sondern als Redner die Freiheit und Selbstständigkeit des Hörers achtet und fördert – hierin distanziert er sich vom persuasiven Aspekt des antiken Rhetorikideals, welches das Überreden und Überzeugen (persuadere) als die eigentliche Redekunst ansieht. Die mit dem antipersuasiven Duktus verbundene, adressatenbezogene Pointe der indirekten Mitteilung kommt in der literarischen Gattung der Reden in besonderer Prägnanz zur Geltung. So heißt es in den Zwei Reden beim Altargang am Freitag, welche zu den sogenannten ‚Abendmahlsreden‘ von 1851 zählen: „Ein Mensch hat keinerlei Vollmacht, er kann dir nicht gebieten, daß du glauben sollst, kann dir nicht ebendamit, daß er mit Vollmacht gebietet, zum Glauben helfen.“[38] Zwischen 1847 und 1851 hat Kierkegaard 13 solcher ‚Abendmahlsreden‘ verfasst. Einige dieser Reden nehmen im Vergleich zu den anderen Reden in einer bestimmten Hinsicht eine hervorzuhebende Stellung ein: Gemäß der Liturgie war es zur Zeit Kierkegaards üblich, sich zum Beichtgottesdienst und Abendmahl in der Kirche anzumelden und eine kleine Ansprache vorzubereiten und zu halten. Drei der verfassten Abendmahlsreden hat Kierkegaard auch tatsächlich gehalten und sich damit direkt an ein Publikum von Zuhörern gewandt. Dies ist insofern ein Alleinstellungsmerkmal, als dass seine anderen Reden zwar in Form einer Rede verfasst sind, sich aber von vorneherein an Lesende richten und nicht eigens gehalten wurden. Drei dieser Abendmahlsreden hingegen verfasste Kierkegaard von Anfang an mit der Absicht, sie auch tatsächlich zu halten. Aus Sicht des heutigen Interpreten unterstreichen diese Abendmahlsreden mithin einmal mehr den performativen Akt indirekter Mitteilung, der auf prüfenden und selbstreflexiven Nachvollzug seitens des Adressaten hin ausgerichtet ist. Die Tatsache, dass Kierkegaard einige der Abendmahlsreden wirklich gehalten hat, bestätigt die beim Verfassen der Reden bedachte, wohlnuancierte adressatenbezogene Pointe dieser Texte und hebt die Performativität indirekter Mitteilung in besonderer Weise hervor. So weist Niels Jørgen Cappelørn darauf hin, dass diese Reden zum Beispiel direkte Hinweise auf die räumliche Szenerie in der Vor Frue Kirke in Kopenhagen enthalten und dezidierte Anspielungen auf die Zuhörer und ihre spezifische Situation auf dem Gang zum Altar aufweisen.[39] Hermann Deuser spricht so von einem „eigenwillige[n] Ineinander von Argument, persönlicher Ansprache und bildkräftiger Szene.“[40] Das Ziel der Rede ist erst dann erreicht, wenn eine prüfende Aneignung des Inhalts der Rede durch den Hörer erfolgt ist: „Was sie ist, das ist sie allein ‚für‘ und ‚durch‘ ihre Rezeption, Leser und Leserin sind ihr Ziel“[41]. Die eigentliche Arbeit der Rede liegt also nicht beim Verfasser, sondern beim Rezipienten; dies ist ihr „pädagogisch-dialogischer Charakter“[42] – alles zielt auf eine innerliche, eigenverantwortliche Aneignung. Auf diese Aneignung, dieses innere Handeln des Menschen, legt Kierkegaard ohnehin von Beginn seines Werkes an einen besonderen Fokus.[43] Eine der Drei Reden beim Altargang am Freitag, „die Sünderin“, setzt in ihrem letzten Absatz mit den auf den ersten Blick recht unscheinbaren Worten an: „Nun ist die Rede vorüber.“[44] Dieses Ende ist jedoch mehr als ein rein stilistisches, denn es sagt auch, wie Fürstenberg scharfsinnig bemerkt: „Der Worte ist genug. Lasst Taten folgen.“[45]

Auch wenn diese Reden unter Kierkegaards eigenem Namen veröffentlicht wurden, so stellen sie deshalb allein noch keine direkte Form der Mitteilung dar, zumal eine solche Mitteilungsform in Fragen der Existenz nach Kierkegaard prinzipiell unmöglich ist. Pseudonymität ist eben kein notwendiges Kriterium indirekter Mitteilung.[46] So bleibt Kierkegaard als religiöser Schriftsteller und in den religiösen Reden ein Existenzphilosoph avant la lettre und die Reden treten als eine weitere Gestalt indirekter Mitteilung hervor.[47] Hierzu sei noch angemerkt, dass in Bezug auf die zweite schriftstellerische Schaffensphase in der Forschung auch von einer zweiten Phase indirekter Mitteilung gesprochen wird,[48] in der nun der Ausdruck der Lehre in der Existenz des Lehrenden, nicht zuletzt durch die weitestgehende Aufhebung pseudonymer Schriftstellerei, nachdrücklicher in den Mittelpunkt rücke. Als Durchführung und Praxis indirekter Mitteilung sind die religiösen Reden um die Vermittlung subjektiver Wahrheit bemüht und stellen „den Versuch dar, über das zu reden, was eigentlich nicht verbalisiert werden kann“[49] – eben die Existenz des Einzelnen oder, wie Habermas es formuliert, die ‚ethisch-existentielle Freiheit des lebensgeschichtlich individuierten Einzelnen‘.

III Indirekte Mitteilung als existenzphilosophische Methode

Inwiefern die indirekte Mitteilung Kierkegaard’scher Provenienz zu einem genuinen Werkzeug der Existenzphilosophie wurde, bringt Alexander Lohner im Rahmen seiner Charakterisierung von Peter Wust als Existenzphilosoph auf den Punkt: „Nicht was einer sagt, macht ihn zum Existenzphilosophen, sondern wie er es sagt. Nicht die Ergebnisse des Denkens sind hier ausschlaggebend, sondern vielmehr der Ansatz, mit welchem der Denker zu fragen beginnt“[50]. Kierkegaards indirekte Mitteilung – das Wie – wurde zu einem methodologischen Charakteristikum der Existenzphilosophie. Ein Grund dafür liegt in einer ihrer Besonderheiten, welche darin besteht, den konkreten Vollzug der menschlichen Existenz zu thematisieren, ohne dabei eine inhaltliche Ausbuchstabierung dessen, was ein gelingendes Leben ausmacht, fest- oder gar vorzuschreiben und den Leser aus seiner individuellen Verantwortung zu entlassen. Die Wahrheit liegt hier in einem Wie und nicht in einem Was[51] und damit in der lebensgeschichtlich individuierten Existenz des Einzelnen.

Habermas setzt die mitteilungstheoretischen Überlegungen Kierkegaards zunächst ebenfalls in Bezug zur Existenzphilosophie und resümiert treffend: „Kierkegaards Abwertung der Normalsprache und der Normalform des kommunikativen Handelns erklärt sich aus der Fixierung auf den Vollzug der Existenz des Einzelnen, dessen Seinsweise sich systematisch der vergegenständlichenden Beschreibung … entzieht“[52]. Die ethisch relevanten Aspekte des gelebten Lebens lassen sich eben nur performativ, im „rekonstruierenden Nachvollzug“[53], erschließen. Darauf folgt dann die Typisierung Kierkegaards als eines Existenzphilosophen im ‚Nebenberuf‘:

Allerdings betreibt Kierkegaard diese existenzphilosophische Analyse nur nebenbei. ‚Existenzphilosoph‘ ist er nur im Nebenberuf. In der Hauptsache ist er religiöser Schriftsteller, der in der Teilnehmerrolle des mäeutischen Autors … mit seinem Gegenüber in eine außerordentliche Kommunikation über das Wie des authentischen Lebens eines Anderen eintreten möchte.[54]

Dabei konzentriere sich der religiöse Schriftsteller auf die subjektive Aneignung „des paradoxen Kerns der christlichen Lehre“[55].

Dagegen ließe sich nun aus meiner Sicht und im Anschluss an die bisherigen Ausführungen zweierlei einwenden: (1) Die existenzielle Analyse der Unhintergehbarkeit der Subjektivität thematisiert Kierkegaard keinesfalls nur nebenbei. Sie steht im Zentrum der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift und bildet das theoretische Fundament indirekter Mitteilung. Ausführlich legt das Pseudonym Climacus dort die Unmöglichkeit dar, dass der Existierende seinen Selbst- und Weltbezug in eine direkte Form der Mitteilung bringt. Zudem betont er expressis verbis, dass der Mensch auch außerhalb des Christentums in Innerlichkeit existieren könne: „Daß man auch außerhalb des Christentums mit Innerlichkeit existieren kann, hat unter anderem das Griechentum hinreichend bewiesen.“[56] Und auch die religiösen Reden beharren keineswegs dogmatisch auf der christlichen Lehre – vor allem mit Blick auf die Mannigfaltigkeit dort thematisierter anthropologischer Fragestellungen weisen auch sie gar säkulare Züge auf.[57] Dadurch wird auch die strikte Gegenüberstellung, welche Habermas zwischen dem „säkularen Geist“[58] eines Climacus und dem religiösen Schriftsteller Søren Kierkegaard aufmacht, fraglich.

Kierkegaard bleibt darüber hinaus nicht bei diesen theoretischen Ausführungen zur indirekten Mitteilung stehen, sondern bringt sie in einer Praxis indirekter Mitteilung zur Anwendung – und das insbesondere in den religiösen Reden. Damit wären wir bei meinem Einwand (2): Kierkegaard ergänzt die theoretische existenzphilosophische Analyse gewissermaßen um eine existenzphilosophische Praxis. Letztere manifestiert sich in der religiösen Schriftstellerei und den hier besprochenen Reden im Besonderen, da deren ausdrückliches Ziel die Aneignung, mithin die Subjektivität des Rezipienten, ist. Dort stehen existenzielle Verantwortung, Reduplikation des Inhalts in der Form und Ausdruck der Lehre in der Existenz des Lehrenden im Mittelpunkt. So rekurriert Kierkegaard beispielsweise im „Vorwort“ zu den Zwei Reden beim Altargang am Freitag auf den von Habermas als „säkularen Geist“[59] typisierten Climacus der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift und resümiert seine schriftstellerische Rolle wie folgt:

[A]llwo der Verfasser, persönlich sich seiner Unvollkommenheit und Schuld selber am besten bewußt, sich keinerwege einen Wahrheitszeugen nennt, sondern lediglich einen Dichter und Denker eigner Art, welcher, ‚ohne Vollmacht‘, nicht Neues zu bringen gehabt hat, sondern die ‚Urschrift der individuellen humanen Existenzverhältnisse, das Alte, Bekannte und von den Vätern Überlieferte, noch einmal hat durchlesen wollen, womöglich auf eine noch innerlichere Weise‘.[60]

Indem Kierkegaard als religiöser Schriftsteller in seinen Reden die Vielfalt individueller humaner Existenzverhältnisse in Theorie und Praxis thematisiert, wird er qua indirekter Mitteilung zur Initialfigur der Existenzphilosophie. Hier zeigt sich, wer Adressat der religiösen Reden Kierkegaards ist, nämlich der „verwirrte, entwurzelte Einzelne“[61], der auf eine Förderung, ja Erbauung verstärkter Innerlichkeit und Subjektivität angewiesen ist, um seine Existenz in einem ausgeprägten Selbstbewusstsein und in Eigenverantwortung führen zu können. Dabei erzeugen die Reden, wie Thorsten Lerchner treffend konstatiert, keine absolute und endgültige Wahrheit mehr, sie „erzeugen ihren Gehalt nicht als festumrissene Lehrsätze eines Autors, sondern dadurch, dass sie textimmanent auf suchende Leserinnen und Leser berechnet sind, das heißt zu suchenden Leserinnen und Lesern sprechen.“[62] So fügen sich denn auch die religiösen Reden in ein durchgängig präsentes Grundanliegen des Kierkegaard’schen Œuvres ein, das ansonsten so polyphon und vieldeutig ist. Hierbei handelt es sich um die Dimension des Erbaulichen, verstanden als einer persönlich-existenziellen Suche nach einer „Wahrheit für mich[63]. In diesem Sinne wäre dann zugleich sein Werk in toto erbaulich, das heißt antispekulativ und existenziell zu nennen: „Dieser Begriff des Erbaulichen ist mehr philosophischer und nicht streng theologischer Natur“[64] –, und so ließe sich Kierkegaard mit Habermas aufgrund des erbaulichen Charakters seiner Schriften in die Reihe postmetaphysischer Denker einordnen.

Gegen Ende seines Kierkegaard-Kapitels deutet Habermas, an die berühmte Typisierung des Menschen als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, aus dem Anfangskapitel der Krankheit zum Tode anknüpfend, eine gehaltvolle säkulare Kierkegaard-Lesart an, welche der Frage nachgehen könnte, wie ein „säkularer Geist wie Climacus“ an Anti-Climacus, das Pseudonym der Krankheit zum Tode, anschließen könnte, „wenn Kierkegaard ihn noch einmal zu Wort kommen ließe“[65]. Die Macht, zu der sich der Mensch qua Selbst verhalten muss, da er das Verhältnis als Ganzes nicht selbst gesetzt haben kann, müsste in einer solchen Lesart nicht als christlicher Schöpfergott ausgelegt werden, sondern könnte „ebenso gut als Einsicht in die Ambivalenz der Einbettung einer ethisch ihrer selbst bewusst gewordenen Existenz in einen gesellschaftlich und kulturell zugleich ermächtigenden und beschränkenden, im Ganzen unbeherrschten Kontext der Geschichte gedeutet werden.“[66] Im Rahmen unserer Überlegungen ist dies insofern interessant, als Kierkegaard den ‚säkularen‘ Climacus nach der Krankheit zum Tode (1849) tatsächlich noch einmal zu Wort kommen lässt, nämlich – wie gesehen – in den Abendmahlsreden von 1851. Das legt zusätzlich nahe, dass auch und insbesondere der religiöse Schriftsteller Kierkegaard in den religiösen Reden nicht dogmatisch verfährt und ausschließlich auf der christlichen Lehre und Lebensform als einzigen und für alle Menschen gleichermaßen adäquaten Ausweg aus der Verzweiflung des Selbst beharrt. Insofern könnte selbst ein säkularer Existenzphilosoph an den religiösen Schriftsteller Kierkegaard gehaltvoll anknüpfen.

So findet sich für Martin Heidegger gar der Kern des philosophischen Werkes von Kierkegaard in den erbaulichen Schriften. Heidegger merkt hierzu in einer Fußnote in Sein und Zeit würdigend und kritisch zugleich an:

Im 19. Jahrhundert hat S. Kierkegaard das Existenzproblem als existenzielles ausdrücklich ergriffen und eindringlich durchdacht. Die existenziale Problematik ist ihm aber so fremd, daß er in ontologischer Hinsicht ganz unter der Botmäßigkeit Hegels und der durch diesen gesehenen antiken Philosophie steht. Daher ist von seinen ‚erbaulichen‘ Schriften philosophisch mehr zu lernen als von den theoretischen – die Abhandlung über den Begriff der Angst ausgenommen.[67]

Auf seine Unterscheidung zwischen ‚existenziell‘ und ‚existenzial‘ bezugnehmend, lokalisiert Heidegger Kierkegaards philosophisches Verdienst somit primär in den religiösen Reden. Dies ist für unsere Überlegungen – unabhängig von einer Bewertung dieser Interpretation – insofern aufschlussreich, da sich ‚existenziell‘ im Sinne Heideggers auf den konkreten Vollzug der Existenz bezieht und demnach genau die Akzentsetzung der erbaulichen, christlichen sowie der Abendmahlsreden betont, auf die es Kierkegaard ankommt: nämlich der Ausdruck der Lehre in der Existenz des Lehrenden und der prüfende sowie performative Nachvollzug seitens des Hörers und Lesers – ebenjene Indirektheit der Rede.

Der religiöse Schriftsteller zielt auf prüfende Aneignung des Inhalts durch den Hörer und ist damit auf eine existenzielle, indirekte Mitteilungsform angewiesen. Letztere zeigt sich in der religiösen Schriftstellerei sogar noch einmal potenziert, da die Praxis verstärkt im Zentrum steht, und so resümiert Hagemann sogar, dass kein Werkteil so sehr eine indirekte Form der Mitteilung verlange wie der erbauliche.[68] In seinem Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller scheint Kierkegaard demnach Theorie und Praxis indirekter Mitteilung zusammenzubringen. Insofern die indirekte Mitteilung dort zur Anwendung kommt und kommen muss, wo es um Fragen der konkreten Existenz und ihres Vollzugs geht, vermag sie ihre Adressaten zu ausgeprägter Existenzinnerlichkeit anzuleiten. Diese muss jedoch inhaltlich durch jeden Einzelnen selbst bestimmt und entworfen werden, da es sich dabei um jene individuelle Sphäre des Einzelnen handelt, in die keine fremde Hand einzudringen vermag – sie ist dem Redner unzugänglich, hier kommt es einzig und allein auf den Hörer an. Dies bringt die Unhintergehbarkeit der Subjektivität, die Einzigartigkeit der Innerlichkeit eines jeden Einzelnen zum Ausdruck, und so kann Kierkegaard festhalten, „daß jener andere, und so denn immer jeder einzelne, eine Welt für sich ist, sein Allerheiligstes hat, wo keine fremde Hand eindringen kann.“[69]

IV Conclusio

Kierkegaards religiöse Reden bewahren die Offenheit und Unabgeschlossenheit der inhaltlichen Dimension einer jeden indirekten Mitteilung und stellen Wegmarken zur Förderung von Subjektivität, das heißt von Existenzinnerlichkeit, in existenzphilosophischer Manier dar. Zuallererst eine solche unvoreingenommene Herangehensweise an diese Reden macht es möglich, die „Unausschöpfbarkeit des religiösen Schriftstellers“ auch „jenseits seiner Fixierung auf dessen religiöse Korrektivfunktion“[70] sichtbar werden zu lassen. Es sind zum einen die theoretischen Reflexionen über eine der Existenz adäquate Mitteilungsform sowie zum anderen deren performative Umsetzung in der Praxis des Philosophierens, die Kierkegaard auch in methodologischer Hinsicht zu einer Initialfigur der Existenzphilosophie haben werden lassen. In diesem Sinne resümiert Thomas R. Flynn zur indirekten Mitteilung im Kontext des Existenzialismus des 20. Jahrhunderts treffend: Diese sei die „indirekte Art und Weise, die sympathische Aufmerksamkeit des Publikums zu erlangen, um Werte und Gefühle zu vermitteln, die andernfalls vielleicht intellektualisiert oder gar von vorneherein abgelehnt werden.“[71] Die religiöse Schriftstellerei als eine Methode indirekter Mitteilung trägt somit wesentlich zur philosophiehistorischen Wirkung Kierkegaards auf die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts bei. Dies gilt auch für die frühen und späten pseudonymen Schriften, das heißt sowohl für den säkularen Geist des Climacus, der im Kierkegaard’schen Gesamtwerk präsent bleibt, als auch für einen christlichen Anti-Climacus. Darüber hinaus müssen existenzphilosophische Ansätze, wie eingangs bereits angemerkt – und das gilt auch für diejenigen des 20. Jahrhunderts –, nicht zwangsläufig mit einem Säkularisierungsbestreben einhergehen. Die indirekte Mitteilung Kierkegaards bleibt – und so ließe sich die schon angesprochene Auflistung verschiedener Ausprägungsformen von Existenzphilosophie seitens Sartres geringfügig erweitern[72] – wegweisend für die Existenzphilosophie atheistischer, religiöser und agnostischer Ausprägung.

Der ‚Beruf‘ des religiösen Schriftstellers schließt mithin denjenigen des Existenzphilosophen keineswegs aus, vielmehr erfüllt er qua indirekter Mitteilung ein wesentliches Kriterium des Existenzphilosophen. Letzterer scheint den religiösen Schriftsteller – freilich neben anderen Arten von Schriftstellerei – zu umfassen. So ließe sich der Akzent in Habermas’ Kierkegaard-Typisierung anders setzen, ohne diese dabei gänzlich umzukehren: In der Summe ist das Gesamtwerk des Dänen in erster Linie existenzphilosophischer Natur, welches in Form der religiösen Schriftstellerei und der religiösen Reden eine besondere Ausbuchstabierung erfahren hat. Kierkegaards religiöse Schriftstellerei ist demnach eine spezifische Gestalt und Ausdrucksform genuin existenzialistischen Philosophierens. Jeder religiöse Schriftsteller im Sinne Kierkegaards, sprich insofern er auf seine Indirektheit der Mitteilung achtet und Wert legt, ist Existenzphilosoph, aber nicht jeder Existenzphilosoph ist religiöser Schriftsteller.[73] Existenzphilosoph ist Kierkegaard im ‚Hauptberuf‘ und das nicht zuletzt durch seine Tätigkeit als religiöser Schriftsteller, die jedoch – so viel muss relativierend hinzugefügt werden – ihrerseits weitaus mehr ist als bloß ein ‚Nebenberuf‘.

Ich danke den anonymen Gutachter*innen des Kierkegaard Studies Yearbook für die hilfreichen und wertvollen Anmerkungen und Hinweise zur Überarbeitung des Manuskripts. Für eine kritische Durchsicht des Textes danke ich ebenso Christoph Kann und Dennis Sölch.

Published Online: 2023-07-11
Published in Print: 2023-07-11

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 26.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/kierke-2023-0016/html
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