Skip to content
BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter (A) November 1, 2023

Metaphysik und Skeptizismus

  • Klaus Vieweg EMAIL logo
From the journal Nietzscheforschung

Die Überlegungen beziehen sich auf einige wenige ausgewählte Fragmente Nietzsches, speziell aus dem Willen zur Macht. Dabei werden nur zwei miteinander verbundene Themen gestreift: Skeptizismus oder Relativismus/Perspektivismus in Bezug auf die Kritik an der Metaphysik.

Den Ausgangspunkt bildet die überraschende These von Richard Rorty: Der Hegel der Phänomenologie des Geistes gilt ihm als ein starker Philosoph, da er ein Dichter sei und zwar in dem gegen die Tradition gestellten Sinne und der Veränderung der Gattung, dass Dichter diejenigen seien, die Dinge neu, die völlig neue Vokabulare schaffen. Der junge Hegel hätte eine Tradition ironistischer Philosophie begonnen, „die bei Nietzsche, Heidegger und Derrida weitergeführt werde“. Nietzsche sei der erste gewesen, der bewusst das getan hätte, was Hegel unbewusst tat.[1] In Nietzsches deutlichen Worten: „Der Philosoph erkennt, indem er dichtet, und dichtet, indem er denkt.“ (NL 19[62], KSA 7, 439) Während die Metaphysiker auf Argumentation und Logik setzen, insistiere die Ironikerin auf Neubeschreibungen, auf Experimentieren mit Vokabularen. Wenn man Rortys These liest – literarische Neubeschreibung statt Argumentation, Ironiker und Skeptiker statt Logiker, Demontierer des kognitiven, metaphysischen Elements der Philosophie und Vorläufer von Nietzsche und Derrida – könnte man meinen, er habe Hegel mit Friedrich Schlegel verwechselt. Zum einen kritisiert Rorty das reduktionistisch-positivistische Verständnis der Metapher, auch Hegel ist kein Vertreter des Protokoll-Sätze-Konzepts à la Wiener Kreis, wo das Metaphorische als für die Philosophie irrelevant gezeigt werden soll. Ohne das notwendige Hindurchgehen durch das Bildliche, ohne die Übersetzung aus der Vorstellung in den Begriff gibt es für Hegel keine Philosophie:

Die Textgattung ‚Dichtung‘ wird massiv erweitert. Als echte Philosophie wird nur die sogenannte ironistische anerkannt, an die Stelle des romantischen Oxymorons ‚Transzendentalpoesie‘ rückt das der ironistischen Theorie. Die Dichtung gilt als verlässlicheres Medium gegenüber der logischen Theorie.[2] In Nietzsche sieht Rorty denjenigen, der dies Neue, die Literarisierung konstituiert habe – eine literarische Kultur, Nietzsche sprach von „künstlerischer Kultur“ (NL 19[34], KSA 7, 427), die keine authentische Religion und Philosophie mehr habe und brauche, eine Zeit „wo wir nichts mehr verehren“, „nichts mehr als Göttliches behandeln“.[3] Harold Bloom spricht von einer „literarischen Kultur“. Der intuitive Mensch erfindet Metaphern, ‚erfindet‘ die Welt als Künstler einer Kultur, in welcher die Kunst die Herrschaft über das Leben beansprucht.[4] Gott und die Metaphysik sind tot, es leben die Zeitlichkeit und die Perspektivität.

Die versuchte Amalgamation von Literarischem und Argumentativem, die Beschreibung der Philosophie als „Dichtkunst mit Begriffen“ (NL 19[62], KSA 7, 439) verrät den eigentlichen Ursprung und den Ahnherrn des ‚Erscheinenden‘, des Phänomenalen – den pyrrhonischen Skeptizismus mit seiner Zentralthese, dass ‚er nicht argumentiere, sondern erzählend berichte, was ihm hier und jetzt zufällig erscheint und geschieht‘.[5] Nietzsche zufolge ruhe alles Leben auf Schein, Täuschung, Irrtum und Perspektivität. „Wir glauben, etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.“ (WL, KSA 1, 879) Hier wäre zu fragen: Was sind ursprüngliche Wesenheiten? Woher und was weiß Nietzsche von den ‚ursprünglichen Wesenheiten‘? Es werden die pyrrhonischen Darstellungsweisen als Mischformen zwischen Argument und Verbildlichung präferiert – Tropen, Hypotyposen, Erzählungen, Fragmentsammlungen. Der Skeptizismus, speziell seine Urform, der Pyrrhonismus, gilt als spezielles Exemplar der ‚Widerspenstigkeit‘, als widerborstiger und stets gefährlicher und zu zähmender Kontrahent der etablierten Philosophie. Die Skepsis galt als einen jeglichen Dogmatismus abwehrendes Mittel. Die Rede ist von Protagonisten der Rebellion und permanenten Insurrektion, von Betreibern der intellektuellen Guillotine oder blutsaugenden Vampiren. Kritische, unvoreingenommene und re-vidierende Geisteshaltungen werden als skeptisch verstanden.

Die Dimensionen und Ausdruckarten der Skepsis bleiben im Blick: das ‚scharfsinnige Argument‘ und das ‚erzählend Poetische‘. Der Skepticus gilt als advocatus diaboli der Philosophie, Nietzsche hält zwar die früheren Skeptiker für ‚große‘ und ‚freie‘ Geister – „der einzig ehrenwerte Typus unter dem so zwei- bis fünfdeutigen Volk der Philosophen“ (EH, KSA 6, 284). Aber ebenso repräsentieren sie für ihn eine aus der dècadence entstandene „europäische Krankheit“ (JGB, KSA 5, 139), gar ein „[r]ussisches Nihilin“ (JGB, KSA 5, 137), geprägt von Nervenschwäche und Willenslähmung. Die „grosse Blutsaugerin“, die „mit Fragezeichen überladene Wolke“ (JGB, KSA 5, 138) bilde einen hochwirksamen Tranquilizer der abendländischen Kultur. Dagegen sei eine andere und weit stärkere Skepsis zu richten.

Der „grosse Mensch“ so Nietzsche ist „nothwendig Skeptiker […], vorausgesetzt, daß dies die Größe ausmacht: etwas Großes wollen und die Mittel dazu.“ (NL 11[48], KSA 13, 22) Nietzsche bezieht sich auf eine gewichtige Dimension des Pyrrhonismus, dessen Verständnis als Lebensform, Pyrrhon hat bekanntlich nicht geschrieben, die Weise seines Lebens galt als seine Philosophie. Nur hätten – so Nietzsche zutreffend – die griechischen Skeptiker im Handeln eine Richtschnur für dieses konstituiert, ihre ‚consequenteren Brüder, die Buddhisten‘ hätten das Prinzip ‚man muss nicht handeln‘. Hier wäre sogleich einzuwenden, dass jegliches Unterlassen auch ein Tun ist. Der lange Kampf der philosophischen Meinungen führe scheinbar bis zur hoffnungslosesten Skepsis gegen die Philosophie, schließlich zum Nihilismus. Jedoch wäre die Rede von ‚philosophischen‘ Meinungen abzulehnen, da Meinungen nicht per se philosophisch sein können, sondern die Prüfung noch vor sich haben und Skepsis heißt ursprünglich Prüfen.

Jedenfalls verknüpft Nietzsche die Heraufkunft des Nihilismus mit dem Thema der Lebensform – im Zentrum müsse nicht die Erkenntnissphäre, sondern die Lebenssphäre stehen, nicht im Erkennen, sondern im Schaffen liege das Höchste. So fordert er einen aktiven Nihilismus und eine höhere Skepsis, die als „neuer Weg zum Ja“ (NL 12[1], KSA 13, 201) beschrieben wird, in Form einer langen Wanderung durch Eis und Wüste eben das Hindurchgehen durch einen grundsätzlichen Nihilismus, „ohne bei einer Negation, beim Nein, beim Willen zum Nein stehen zu bleiben“ – anvisiert werde ein Weg zum Umgekehrten, zum dionysischen Ja-Sagen zur Welt, zum ewigen Kreislauf – mit dem bekannten Diktum amor fati, gegen die spinozistische amor intellectualis dei. Allerdings interpretiert Heidegger, in Absetzung von Nietzsches Verabschiedung der Metaphysik, amor fati als eine metaphysische Grundstellung.

Die Konsequenz der Kantischen Lehre sei Nietzsche zufolge das Ende der Metaphysik als Wissenschaft, die Metaphysik sei auch dank Schopenhauer beseitigt, die metaphysisch-logische Dogmatik habe allmählich alles vergiftet. Allerdings hat der späte Nietzsche ausdrücklich bedauert, dass er in seiner Hegel-Deutung der „unintelligenten Wut“ des Schopenhauer gefolgt wäre. Beispielsweise findet sich eine euphorische Würdigung der Kraft der Sprache, sie gilt als „die bewunderungswürdigste logische Operation und Distinktion“, als „Ausdruck der Befähigung des Menschen zur Erzeugung der Logik“ (NL 19[117], KSA 7, 457). Ungeachtet dieser Einsicht wird jedoch Metaphysik einfach mit der Verstandesmetaphysik identifiziert. Die Äußerungen Nietzsches zu Metaphysik und zum Begriff offenbaren die Bezugnahme auf die Logik des Verstandes, die Verstandesmetaphysik. Wie die berühmten fünf Tropen des Agrippa kann durch Nietzsche die Verstandessicht, der Dogmatismus des Endlichen, der Reflexion destruiert werden, bleibt dieses Verfahren ähnlich wie das der genannten Tropen gegen die Logik der Vernunft unbrauchbar, da nur mit Reflexionsbestimmungen operiert wird.

Nietzsche spricht vom „Unsinn aller Metaphysik als einer Ableitung des Bedingten aus dem Unbedingten“ (NL 8[25], KSA 10, 342), zu dem Bedingten werde das Unbedingte hinzugedacht, hinzuerfunden – Substanzen logische Gesetze et cetera. Hier sei es gestattet auf die von Hegel vorgelegte Kritik an der überkommenen, vormaligen Metaphysik zu verweisen, an der Verstandesmetaphysik als einer bloßen Verstandesansicht von Vernunftgegenständen, des Verweilens in endlichen Denkbestimmungen, im unaufgelösten Gegensatzes von Entweder-Oder. Zu Recht werden die Denkbestimmungen als Grundbestimmungen der Dinge, des Bedingten, exponiert, nur erfolgt dies, indem dem Vernunftgegenstand, dem Unbedingten, einfach Prädikate beigelegt werden, ohne Prüfung, ob diese Prädikate Wahres sind. Einseitige Bestimmungen werden mit Exklusion ihrer Entgegengesetzten in ihrer Isolation festgeschrieben, entweder Bedingtes oder Unbedingtes, Unendliches oder Endliches, Unmittelbares oder Vermitteltes. In die jeweiligen Einseitigkeit gerät auch Nietzsche, wenn er beispielsweise das Bedingte oder die Welt als Gegebene ansieht, und das Unbedingte als Grundfiktion. Die Logik handhabe nur Formeln für Gleichbleibens, nicht das „Identificiren des Nichtgleichen“ (NL 19[236], KSA 7, 493), nur die Identität, keineswegs die Nicht-Identität, auf welche die Skeptiker insistieren. Die Grundsätze der Logik wären der Satz der Identität und des Widerspruchs, als ob Hegels Logik nicht existiert hätte. In der Beschreibung der Schemata grauer Begriffe wird die Ambivalenz offenkundig. Im Visier Nietzsches ist zu Recht die formale Logik, die Verstandeslogik, aber eben nicht eine zur Vernunft gebrachte Logik.

Der Standpunkt des Verstandes wird auch in der unzulänglichen Charakterisierung des Begriffs evident, der Verstand erkenne Nietzsche zufolge durch Begriffe, „das heißt unser Denken ist ein Rubrizieren, ein Benamsen“ (NL 19[66], KSA 7, 440), alles Wissen entstehe aus Separation, Abgrenzung, Beschränkung. Die vorgefundene Welt, die Dinge (so Nietzsches verborgener Realismus) würden „durch Begriffe eingefangen, abgegränzt, dann getödtet, gehäutet und als Begriff mumisirt und aufbewahrt“ (NL 19[228], KSA 7, 491). Beispielsweise verfehle der Begriff ‚Mensch‘ etwas „Thatsächliches“ – hier hätte man gerne erfahren, wie dieses ‚Thatsächliche‘ bestimmt wird, mit anderen Worten: wie Nietzsche Zugang dazu hat. Der Begriff ‚Mensch‘ werde „nur durch Fallenlassen aller individuellen Züge von uns gebildet“, es dominiert das Rubrizieren, das Aufstellen von Gattungen. Von den Bestimmungen des Vernunftbegriffs als Einheit von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit scheint Nietzsche weit entfernt.

Von den klassischen fünf Tropen des pyrrhonischen Skeptizismus wird besonders auf die Diaphonia, den ersten Tropus der Verschiedenheit, der Diversität sowie auf den dritten Tropus, das Nervenzentrum, das Argument der Relativität, rekurriert. Die Philosophie könne „nur noch das Relative […] betonen“ (NL 19[37], KSA 7, 429) und notwendig den Perspektivismus vertreten, als „complexe Form der Spezifität“ (NL 14[186], KSA 13, 373), der Besonderheit. Für die Weltauslegung hat jeder seine Perspektive. Das Dasein erlaube unendliche, sich wechselseitig ausschließende Perspektiven. Dies entspricht dem dritten Tropus des Agrippa –, worin die Relativität alles Wissens behauptet wird. In der Philosophie repräsentiert die isosthenisch-antinomische Methode den paradigmatischen Anwalt der Negativität, zur Geltungsprüfung einer Position, eines Gesetzten. Sein Kerneinspruch lautet: Alles Wissen ist relativ. Nun ist dies mitnichten das totale Fiasko für alle Wahrheitsansprüche, der Schein trügt. Denn solch Relativismus gleicht dem von den Pyrrhonikern selbst bemühten Kathartikon, dem selbst sich mit abführendem Abführmittel. Es kann gezeigt werden, dass der skeptische Einwand sich selbst in sich schließt und aufhebt. Sofern die Behauptung „alles Wissen ist relativ“ fixiert wird, schließt diese Behauptung sich selbst ein, die Relativität wird ins Gesicht der Relativität geschleudert – der Spieß wird umgedreht, die Retorsion oder peritropé. Es muss hinzugefügt werden: „alles Wissen ist unbedingt, absolut“. Somit stehen zwingend zwei unverzichtbare Positionen nebeneinander: Absolutheit und Relativität, Unmittelbarkeit und Vermittlung, Nicht-Relationales und Relationales, Unbedingtes und Bedingtes – die Einseitigkeit der positiven, affirmativen wie der negativen, verneinenden Option, die ‚beide‘ sowohl dogmatisch und relativistisch sind – die Antinomie als das höchstmögliche Resultat des dualistischen Verstandes. Die Kontradiktion von Dogmatismus und Skeptizismus scheint ein unauflösbares Dilemma, eine unüberwindliche Aporie zu sein.

Die Ausrede der bloßen Verschiedenheit, der souveränen Besonderheiten, geht auf den ersten Tropus des Agrippa zurück – die Diaphonia – von den pyrrhonischen Skeptikern als schier unüberwindliche Waffe gegen die Philosophie angesehen. Darin besteht ein Kernmoment des Relativismus, der sich angeblich gegen einen Terror des Allgemeinen richtet, aber selbst den ‚Terror des Besonderen‘, den Terrorismus der Diversität pflegt. Es wird abgewiesen, dass in der Besonderheit ein Allgemeines gedacht werden muss. Nur sollten die Protagonisten dieser Position das Wort ‚Philosophie‘ vermeiden, womit sie ungewollt die Allgemeinheit ‚einkaufen‘. Jede besondere Philosophie soll nur in ihrer Isoliertheit, in der Diversität gedacht werden, als ob nicht auch Kirschen oder Aprikosen Obst sind. Wenn philosophisch das Ich angesprochen wird, so ist evident, dass darin das Ich als Allgemeines sowie die Besonderheit und Einzelheit eines solchen Ich in Einheit artikuliert werden – die Struktur (die ‚Natur‘) des Begriffs als Zusammenschluss des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen.

Auch im 20. Jahrhundert blieben der Trend zur Ästhetisierung oder Literarisierung der Philosophie, damit die skeptischen Herausforderungen, auf der Tagesordnung. Zum einen erlebten und erleben die Gedanken des Relativismus, des Perspektivismus, der ästhetischen Skepsis eine Renaissance. Die Todesanzeigen für Wahrheit, Wissen oder Metaphysik häuften sich. Wer auf diese angeblich überlebte Denkungsart systematisch rekurriert, gerät in den Verdacht der unbelehrbaren Starrsinnigkeit, des Altmodischen – old style. An die Stelle der Metaphysik – so die Verheißung – treten verschiedene Varianten einer ‚nach-metaphysischen‘ Philosophie. Nur, dass wir ein paar Jahrhunderte weiter sind, ist in keiner Weise ein Argument, das die Heutigen eine bessere Philosophie haben, sondern nur ein Indiz der Arroganz. Die Erkenntnis der Wahrheit wird „für eine törichte, ja sündhafte Anmaßung erklärt, wie die Vernunft, und wieder die Vernunft, und in unendlicher Wiederholung die Vernunft angeklagt, herabgesetzt und verdammt“.[6]

Die innere Crux des poetischen Philosophierens liegt darin, dass ein absolutes, lebendiges Ganzes angenommen wird, welches jedoch in Form von Individualitäten, bestimmten Gestalten, vereinzelten Lebendigkeiten besteht. Die Götter der Poesie sind beschränkte Gestaltungen, „vereinzelte Individualitäten; deren Bewegung gegeneinander wohl ein Symbol der absoluten Lebensbewegung ist, aber ein Symbol ist nur die versteckte Darstellung desselben“.[7] Jede dieser Gestalten „muß notwendig andere Gestalten neben sich haben und der Himmel muß sich mit Göttern bevölkern.“[8] In der Vielheit der Götter der Poesie wie der Mythologie, im ‚bunten Gewimmel der alten Götter‘, in der ‚unbestimmten Vielgötterei‘ liegt die Aporie, die in der Rede von den ‚besonderen Göttern‘ ihren Ausdruck hat. Jede dieser ‚fragmentarischen Gottheiten‘ repräsentiert für sich ein unbedingtes Principium. Diese Gottheiten geraten in „mannichfaltige Verwirrung“ mit den anderen und mit ihrer eigenen Gestalt, die ihrer notwendigen Vollkommenheit selbst widerspricht.[9] Der Gegensatz zwischen Bedingten und Unbedingtem ist nicht, wie es angekündigt wurde, aufgehoben, die Extreme sind nicht wirklich synthetisiert worden. Es wird das Paradox fragmentarischer Absoluta beziehungsweise absoluter Fragmente angenommen. Den „Göttern der Poesie“ eignet eine komische Selbstvergessenheit ihrer ewigen Natur.

Da er sich auf theoretisches Argumentieren einlässt, war der bisherige Pyrrhonismus in Nietzsches Augen ein Komplice der traditionellen Philosophie. Die pyrrhonische ‚Willensschwäche‘ oder ‚Willenslähmung‘ müsse überwunden werden. Die Agogé im Sinne Pyrrhons wird radikal in eine ästhetische Lebensform transformiert und diese Lebensform zu eigentlich philosophischen proklamiert. Nur wäre zu fragen, ob ‚Wollen‘ und ‚Ablehnung‘ völlig ‚a-theoretisch‘ sind und ob man mit dem Vollzug der ‚Ablehnung‘ ungewollt nicht doch wieder ins ‚alte Spiel‘ der Theorie eingetreten ist. Der Versuch der radikalen Verabschiedung der ‚theoretischen‘ Dimension der Skepsis scheint doch nicht so leicht zu bewerkstelligen sein.

Philosophische Texte haben ohne Zweifel eine ästhetische Komponente, Kunstwerke eine philosophische Dimension, eine poetische Philosophie oder eine philosophische Poetik ist weder Fisch noch Fleisch, weder Poesie noch Philosophie. Insofern sich diese Konzepte der Argumentation stellen, haben die Isosthenie-Einwände tödliche Wirkung. Insofern auf die ‚ästhetische Offenbarung‘ gesetzt wird, wird das Terrain der Philosophie verlassen. Auf einen relativistischen Ästhetizismus oder Perspektivismus kann keine moderne Philosophie der Freiheit gegründet werden. Die heute gefeierte radikale Unverbindlichkeit und unendliche Diversität garantiert gerade nicht die verheißene Vielfalt und ist nicht die Hüterin von Freiheit und Toleranz. Im Gegenteil, sie erweist sich als Despotie des Relativen, die auch Prinzipien wie Freiheit und Menschenrechte zur Disposition stellen ‚muss‘. Alles Tun bezieht seine Legitimation nur noch aus der je partikulären Überzeugung. Die Protagonisten der ‚fröhlichen Skepsis‘ meinen den ‚Terror des Allgemeinen‘, die Macht des Diskurses gebrochen und alle Verbindlichkeit aufgelöst zu haben, mit der einen, aber fatalen Ausnahme ihres eigenen Anspruchs auf absolute Gültigkeit des Unverbindlichen als ihrer Lebensform – einem Terror des Besonderen.

Der Skeptizismus ist und bleibt der entscheidende und ewige Herausforderer der Philosophie. Wer recht erkennen will, muss zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben, so Aristoteles. Es geht um das Widerstehen gegen alles vermeintlich Festgefügte, als Ausdrucksweisen der Auflehnung gegen alles angeblich Evidente und ewig Sichere – der Skeptiker als Protagonist dieser ‚Widerspenstigkeit‘, als widerborstiger und stets gefährlicher und zu zähmender Kontrahent der etablierten Philosophie. Auch David Hume empfahl dringend dieses Bad im pyrrhonian doubt, man müsse einmal ernsthaft von diesem exzessiven Skeptizismus überzeugt gewesen sein, ungeachtet dessen, dass dieser maßlose Zweifel letztlich nur ein jeux d‘esprit und poetisches Amüsement sei. Diese Ambivalenz gilt wohl auch für Nietzsche, einerseits kräftiger Vertreter der Negativität und Relativität, andererseits bleibt es für den Skeptiker prekär, Wissensansprüche aufzustellen und zu legitimieren –, somit kann bloße Negativität nicht als Prinzip einer Philosophie auftreten. Fälschlich wird der dem nur reflektierenden Denken zu Recht gemachte Vorwurf für einen das Denken überhaupt treffenden Vorwurf gehalten. Die Philosophie muss in Hinsicht auf ihren skeptischen ‚Schatten‘ zwei Forderungen genügen: Sie muss erstens der Gefahr trotzen, von skeptischen Einsprüchen destruiert zu werden, den Äquipollenzattacken muss Paroli geboten werden, den scharfsinnigen Isosthenie-Argumenten ist standzuhalten, Philosophie muss die Inklusion des Skeptischen vollbringen. Nietzsche sieht viele „welche an das negative Ziel (dass jede positive Metaphysik Irrthum ist) gelangt sind“, aber wenige, die sich von der Metaphysik befreit haben, um mit Überlegenheit auf sie zurückzusehen (MA I, KSA 2, 42). Nur damit ist die Sache der Metaphysik nicht abgegolten. Der Rorty-These kann nur zur Hälfte zugestimmt werde. Die von ihm präferierte Ironistin ist ein hinreißendes, verführerisches Wesen, dem man durchaus verfallen kann. Man ‚muss‘ diese faszinierende Schöpfung leidenschaftlich mögen, sonst droht man in den Abgrund des Dogmatismus zu fallen, darin liegt ihre beständige Kraft und Unzeitgemäßheit. Aber es gibt Gründe, dass man sich vielleicht nicht fest an diese Skeptikerin bindet. Es ist eine verführerische Stimme, welche die vorbeifahrenden philosophischen Schiffe anlockt, bloß um diese zu entern und zu versenken. Solch Philosophieren ist ein Kathartikon, ein probates Abführmittel für den Verstand, aber noch lange keine eigene konsistente, kohärente Philosophie.

Online erschienen: 2023-11-01
Erschienen im Druck: 2023-10-25

© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 26.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/NIFO-2023-004/html
Scroll to top button