I.

Als Herausgeber und Verleger der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte im Jahr 1923 eine große Syntheseleistung ankündigen, um alle möglichen Spuk- und Geistergeschichten noch einmal zur Geistes-Geschichte zu straffen, ist dieser doppelte Singular sogleich von einigen Sorgen umstellt. So hat der kurze editorische Verweis auf die »jetzig[e] wirtschaftlich[e] Lage in Deutschland« nicht nur das unternehmerische Wagnis des Projekts adressiert, sondern auch die feste Überzeugung beigebracht, dass die »Vertiefung in die eigene Geistesgeschichte heute nötiger ist als je«. Die unbequeme aktuelle Situation verlangt neben Geschäftssinn eine Rückversicherung in den Reservaten des Geistes, und auch wenn dieser Geist, der in seiner geschichtsmächtigen Einzahl seit dem 19. Jahrhundert die philosophischen Fakultäten erfolgreich durchwanderte, nicht unbedingt selbst ein Krisenprodukt ist, bietet er sich offenbar als stabiler Zufluchtsort angesichts aktueller Wirtschaftskrisen an. Die unruhige Geschichte kontingenter Realitäten wird, so scheint es, in der geistesgeschichtlichen Tiefendimension selbst aufgehoben oder kompensiert. Während also die wirtschaftliche Lage kurz am Außenrand des Projekts erscheint, haben solche ökonomischen Zumutungen in der »Gesamtheit« der Geistesgeschichte wenig oder nichts verloren, wo neben der Literaturgeschichte vor allem die »Geschichten der Philosophie, Ethik und Religion, der bildenden Kunst, Musik und Sprache sowie des öffentlichen Lebens« gepflegt werden sollen.Footnote 1

Darum verwundert es nicht, dass die akuten Sorgen sehr schnell den Weg vom Aktuellen und Materiellen zum Wesentlichen und Geistigen genommen haben. Denn so sehr im Jahrhundert davor die Deutung von Goethes Faust zu einer Königsdisziplin geisteswissenschaftlicher Literaturinterpretation aufgerückt war, so sehr kann man die Ouvertüre des neuen Journals, Konrad Burdachs langen Aufsatz über »Faust und die Sorge«, als eine demonstrative Realisierung dieses Sorgenprogramms quittieren. Dort wird nämlich die Allegorie der Sorge, die im Schlussakt des zweiten Dramenteils aus der krisenhaften Spuk-Gemeinschaft ihrer Begleiterinnen Mangel, Not und Schuld heraustritt, den Unternehmer Faust heimsucht, erblinden und in Selbstverkennung enden lässt, von den Umständen »negativer, lähmender, niederziehender« Bedrängnis zu einer »Kraft« gewendet, die das »Materielle« im »Menschendasein« überwindet und schließlich zur »Erfüllung der Forderung des Geistes« antreibt. Aus materiellen Kümmernissen und Nöten ist ein spiritueller »Zug zur Höhe« erwachsen.Footnote 2

Allerdings hat die zeitgenössische Geschichte selbst dem Geistigen dieses Geistes einen ruinösen Schatten oder Doppelgänger zur Seite gestellt. Denn die »jetzig[e] wirtschaftlich[e] Lage in Deutschland« war nicht nur von Reparationszahlungen, Ruhrgebietsbesetzung, steigender Arbeitslosigkeit, schrumpfenden Einkommen und Staatsbankrott, sondern schon seit 1918 von Inflation und Hyperinflation geprägt. Die damit verbundenen Sorgen, die sich auf Preisentwicklungen, etwa auf den Anstieg der Kosten für ein Pfund Brot von 3,50 Mark im Jahr 1922 auf 700 Mark im Januar 1923, auf 100.000 Mark im August und auf 670 Millionen Mark im Oktober 1923 bezogenFootnote 3, haben sich zuweilen zu lähmenden Nöten besonderer Art verschärft. Was die Zeitgenossen »Nullen-Tick« oder »Zahlen-Tick« nannten, wurde als »nervöse Störung« identifiziert, »die durch die gegenwärtigen phantastischen Zahlenreihen verursacht wird. Zahlreiche Fälle dieses ›Ticks‹ sind unter Männern und Frauen aller Schichten aufgetreten; die Opfer sind unter der Anstrengung zusammengebrochen, Tausende von Milliarden auszurechnen. Viele dieser Personen sind sonst ganz normal, außer dass sie den Wunsch in sich verspüren, ständig endlose Zahlenreihen niederzuschreiben«.Footnote 4 Ein numerisches, also unkörperliches oder geistiges Ereignis hat sich in der Alltagswelt materialisiert; und schon der Begriff der Inflation weist darauf hin, dass es sich hier um einen speziellen Moment in der Wirkungsgeschichte eines speziellen Geistes handelt. Auch wenn der Inflationsbegriff erst spät, mit dem amerikanischen Sezessionskrieg, in die Sprache der politischen Ökonomie eingezogen ist, hat seine Etymologie das Pneuma oder den Spiritus des Geistes schon länger beansprucht: ›Inflation‹ geht auf das lateinische flare, ›blasen‹, flatus, ›Blasen‹, ›Hauch‹, ›Wehen‹, und inflare, ›blasen, ›aufblasen‹, ›aufblähen‹ zurück – das pneumatische Wortfeld hat nicht nur die Geschichte des Geistes, sondern auch die Entstehung und die Wechselfälle neuzeitlichen Geldwesens und insbesondere des Papiergelds bzw. Kredits begleitet.Footnote 5

II.

Von diesem Zusammenhang wusste allerdings bereits Goethes Faust, der am Beginn seines zweiten Teils die Mehrdeutigkeit eines solchen Geister- und Geistesgeschehens vorführt. Was nämlich angesichts von Notstand, politischem Zerfall, Wirtschaftskrise, Staatsbankrott und den damit verbundenen »Sorgen«Footnote 6 in der kaiserlichen Pfalz passiert, wird in der darauf folgenden Mummenschanzszene als Selbstauslegung des Geistigen arrangiert. Dabei handelt es sich zunächst um das Erscheinen »luftige[r] Gespenster« (5501), sodann um den überraschenden Auftritt eines allegorischen Karnevalswagens, der schnell als Gefährt von Reichtum bzw. Plutus alias Faust identifiziert werden kann; schließlich wird diese Allegorie selbst zum Sprechen gebracht, und zwar in Gestalt eines »Knaben«, der den Amtstitel »Wagenlenker« trägt und mit allen Merkmalen des Luftigen, Flatterhaften und Flüchtigen ausgestattet ist. Einerseits lässt diese Allegorie, die sich auf Zuruf selbst nennt und erklärt, keinen Zweifel daran, was sie ist und wie sie sich versteht: nämlich als poetischer Geist (»Bin die Verschwendung, bin die Poesie«; 5573) oder Geist schlechthin, der sich später als Euphorion und »Heilige Poesie« (9863) zur Aureole am Himmel spiritualisieren wird. Andererseits zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie – als Allegorie der Allegorie – nicht nur etwas anderes sagt, als sie bedeutet, sondern auch etwas anderes tut als bloß bedeuten.Footnote 7 Sie öffnet einen hermeneutischen Betrieb, um ihn zu überschreiten, und führt damit an jene Grenze heran, an der durch Interpretation und hermeneutische Umschrift Bedeutungen zu Handlungen und – wie zu Beginn des ganzen Dramas – anfängliche Worte zu Taten werden sollen.

Die Bedeutung dieses allegorischen Lenkers also besteht darin, dass sein Handeln »Schnippchen« schlägt und täuscht (5582), dass es Dinge in Nichts und Werte in Schein verwandelt und gerade damit einen systematischen und funktionalen Zusammenhang mit dem Reichtum herstellt. Wenn nämlich der Reichtum den Knaben Lenker »Geist von meinem Geiste« (5623) nennt, so lenkt das damit verbundene Tun den Reichtum aus sich heraus, um ihn zu verteilen und in Umlauf zu bringen: »Das, was ihm fehlt, das teil’ ich aus« (5579). Dem Reichtum fehlt sein eigenes Austeilen. Er ist Reichtum nicht als gehorteter Schatz, sondern nur im Austeilen und Zirkulieren; darum kann Plutus das Handeln und Verteilen des Lenkers als Potenzierung seines Eigensten erkennen: »Du handelst stets nach meinem Sinn,/bist reicher als ich selber bin« (5624 f.). Aus dem Hort des Schatzes herausgetreten, ist der Reichtum reicher als er selbst. Allerdings geschieht das Erscheinen, d.h. das Herausführen des Reichtums in die Zirkulation nur durch eine Verwandlung, die aus dem Reichtum nichts als sein eigenes Scheinen macht. Der Reichtum ist reich nur kraft dieses Verwandlungsgeschehens, durch sein Verschwinden in Gleißen, Glänzen und Schein, das bei Goethe in kühner Verwechslung von heiligem und monetärem Geist als Pfingstwunder angesprochen wird: »Wie doch der Schelm so viel verheißt/Und nur verleiht, was golden gleißt« (5604 f.). Und: »Die größten Gaben meiner Hand,/Seht! hab’ ich rings umher gesandt./Auf dem und jenem Kopfe glüht/Ein Flämmchen, das ich aufgesprüht;/An diesem hält sich’s, dem entschlüpft’s,/Gar selten aber flammt’s empor, Und leuchtet rasch in kurzem Flor;/Doch vielen, eh’ man’s noch erkannt,/Verlischt es, traurig ausgebrannt« (5630-39). Diese Metamorphosen vollziehen sich schließlich als semiotisches Tun, in dem sich die Ökonomie der Zeichen mit den Zeichen der Ökonomie verschränkt, wie es in einer Entwurfsskizze zu den Austeilungen des Lenkers heißt: »Das ist die Münze der Poeten,/Die Fülle jedermann verheißt /Und selten Gold, sosehr es gleißt.«Footnote 8 Einerseits vollzieht sich dieses Zeichenhandeln mit der Austeilung von Zeichen, die sich im Bedeuten verzehren, mit Zeichen also, die nicht verweisen, sondern ihre Bedeutung selbst verschwenden und ihre Referenten nur um den Preis einer Verwandlung zur Asche aufscheinen lassen. Andererseits hat Goethe das unbändige Pneuma des poetischen Geistes in Anlehnung und Konkurrenz zum »Geistigen« des Kredits definiert, dessen Wesen ebenfalls fessellos ist: »Der weiteste Gedanke/Ist solchen Reichtums kümmerlichste Schranke« (6113 f.).Footnote 9 Poesie wie Kredit treffen sich in einem Ideellen, das nach Goethes Nomenklatur Verschwendung und Selbstverschwendung, Verzehrung und Selbstverzehrung ist: »Alles Ideelle, sobald es vom Realen gefordert wird, zehrt am Ende dieses und sich selbst auf. So der Kredit (Papiergeld) das Silber und sich selbst.«Footnote 10 Poetische wie kreditökonomische Zeichen sind nicht Zeichen von etwas, sondern Zeichen eines Fehlens von Realität.

In der Selbstauslegung des Geistes hat sich also eine eigentümliche Doppelgestalt ergeben, in der das Geistige der Poesie wie des Kredits ununterscheidbar werden, vom selben Pneuma getrieben sind und doch in unterschiedliche Richtungen streben. Der pneumatische Aufschwung hat nicht nur zum Flug des Euphorion, sondern auch zur wundersamen Fabrikation der Geldscheine geführt (»Unmöglich wär’s, die Flüchtigen einzufassen«; 6086), die schließlich Depression und Staatsbankrott gleichermaßen beenden: »In diesem Zeichen wird nun jeder selig« (6082). Damit gibt die allegorische Manifestation des Reichtums bei Goethe wohl einen Hinweis darauf, wie spirituelle Akte oder semiotische Aktionen auf materielle Aktiva einwirken und – als finanzökonomisches Pneuma – gerade darum einen besonderen Einsatzbereich im Geldkörper beanspruchen können. Ähnliches ist übrigens auch im November 1923 passiert: Eine körperlose Transformation, die Einführung der Rentenmark – wie Goethes bzw. Fausts »Zettel« (6058) oder das »Papiergespenst der Gulden« (6198) wurden sie als Hypothek auf staatlichen Grundbesitz ausgegebenFootnote 11 – hat die Hyperinflation umgehend gestoppt.

III.

Die Papiergeldszene aus Goethes Faust ist also bemerkenswert nicht nur darin, dass sie das Spirituelle und Geistige in finanzökonomische Materialitäten übersetzt und den Ereignissen der notorischen ›Geistesgeschichte‹ selbst einen ironischen Nebensinn verpasst. Vielmehr haben die exegetische Szene und die Selbstauslegung des poetischen Geistes auch eine Verwirrung gegenüber den Positionen von interpretans und interpretandum gestiftet und die Frage nach dem Sinn und Verständnis der Allegorie um die Frage danach verdoppelt, welcher Interpretationsakt diese selbst wiederum sei. Die Potenzierung der Allegorie hat also weniger zu einer Einheit des Sinns geführt, um den sich die Bedeutungselemente des Textes versammeln, als zu einer Aufspaltung, mit der jeder in der Interpretation erschlossene Sinn auf eine Interpretation verweist, die dieser Sinn bereits ist. Poetischer und finanzökonomischer Geist interpretieren sich somit wechselseitig, werden verwechselbar, unterscheiden sich nicht, um dennoch Unterschiedliches zu bedeuten bzw. tun. Diese Verflechtung von interpretierten Interpretationen in einem sich selbst auslegenden Geist spiegelt vielleicht einen größeren Zusammenhang. Wenn es nämlich stimmt, dass spätestens mit Hegel die Philosophie insgesamt zur Arbeit der Interpretation überschwenkte, weil sie den Bezug zwischen Subjekt und Objekt durch die sprachliche Beziehung zwischen Subjekten oder Geistern ersetzte; und wenn es stimmt, dass umgekehrt die Dichtung zu philosophischem Rang aufstrebte und – wie noch einmal Goethes Faust als »absolute philosophische Tragödie« – die »Vermittlung des subjektiven Wissens« mit dem »Absoluten« versuchteFootnote 12, dann schwindet der Abstand zwischen Philosophie und Dichtung und damit die kategorische Differenz zwischen Interpretation und Interpretiertem tatsächlich »gegen Null«.Footnote 13

Wahrscheinlich hat sich aus dieser kritischen Überlagerung von Distanz und Ununterscheidbarkeit im Verhältnis zwischen Interpretation und interpretandum eine weitreichende Aufteilung des hermeneutischen Felds und der Logik des Interpretierens im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt. Auf der einen Seite wurde am Abhang der Hegel-Schule und in den entstehenden Geisteswissenschaften eine Interpretationsweise eingerichtet, die sich durch die Reichweite des ›Verstehens‹ definiert. Sie orientiert sich prozedural an einer Wiederherstellung und Sammlung des Sinns, technisch an Werkinterpretationen und Einzelwerkanalysen, institutionell an der Trennung von (sekundärer) Interpretationswissenschaft bzw. Hermeneutik und (primären) Quellen aus der Geschichte des Geistes.Footnote 14 Bezogen auf einen Vorgang, »in welchem wir aus Zeichen, die außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen«Footnote 15, lässt sich das interpretierende Verstehen – in systematischer Hinsicht – als Kommunikation des Geistes mit sich selbst und somit als eine repetitive Verwicklung mit Quellendokumenten charakterisieren. Es zeichnet sich durch ein paradoxes Sinnregime aus, das wiederholt, was nicht unbedingt gesagt wurde, oder bereits Gesagtes zum ersten Mal ausspricht.Footnote 16 Im Spiel zwischen Verkennung und Offenbarung wartet das einstmals Geäußerte auf seine Erneuerung im wieder-gegebenen Wort.

Während der Nachvollzug des Verstehens in der geistesgeschichtlichen Epoche sich als historisch begrenzte Teilmenge interpretierender Verfahren erweist, hat sich andererseits und am anderen Ende des Spektrums eine Interpretationstechnik ausgebildet, die sich als eine Übung des Verdachts oder des Zweifels kennzeichnen lässt. Wie man es mehrfach am Beispiel der Trinität von Marx, Nietzsche und Freud aufweisen wollte, formierte sich darin ein Widerstand gegen eine als Doktrin zur Enthüllung des Sinns verstandene Phänomenologie geistiger Sachverhalte, der sich durchaus als Ausbau von entmystifizierenden, desillusionierenden, ikonoklastischen Neigungen begreifen lässt. Es geht nicht mehr um die Auslegung der Regungen des Sinns oder Bewusstseins, sondern gerade um die Entzifferung von Verschlüsselungstechniken, die ›unbewusst‹ und etwa in Abhängigkeit von Produktionsverhältnissen, Machtwillen oder Triebstrukturen wirksam werden.Footnote 17 In Genealogien der Wertvorstellungen, Theorien der Ideologie und Analysen der Illusion handelt es sich darum, dass die Gegenstände des Interpretierens selbst bereits Interpretationen darstellen und sich somit weder auf reine Anfänge oder Ursprünge zurückführen noch über Grenzgesten und Abschlussoperationen erschöpfen lassen. Interpretationen sind Interpretationen von Interpretationen. Dabei werden Zeichenformen virulent, die – wie die Hieroglyphen des Tauschwerts, neurotische Symptome oder Wertsemantiken überhaupt – nicht eine Einheit und Tiefe des Sinns im Innern umschließen, sondern in der Äußerlichkeit verharren, dia-bolischen Charakter gewinnen und immer schon von etwas auf etwas für etwas oder jemanden, den Interpreten, verweisen. Zeichen sind interpretierende Aktionen, die Machtrelationen als Sinnbeziehungen auslegen und die Arbeit an der Interpretation zwangsläufig als kritische Praxis – als Korrektur systematischer Entstellungen – bestimmen. Mit dieser Wendung ist die Sache der Interpretation zwar nicht in allen ihren Varianten materialistisch ausgerichtet, sie kann allerdings den Ansprüchen von Materialität und Materialismus nicht leichthin ausweichen. Wenn Materialismus im weitesten Sinn die Frage nach der Aufklärung von Abhängigkeiten impliziert, die sich ungewusst und also naturwüchsig oder schicksalshaft manifestieren, so folgt er der immanenten Notwendigkeit einer Interpretation, die sich der Auseinandersetzung mit materiellen Voraussetzungen, unverfügbarem Wissen und Aktualitätszumutungen, hier und jetzt, stellt und sich damit als entschiedener Gegensatz zur Hermeneutik des Geistes positioniert.Footnote 18

IV.

Mit dieser Aufteilung oder Spaltung des hermeneutischen Felds wurde zugleich die Bedingung dafür geschaffen, dass sich die Einheitsformel des ›Geistes‹ und damit auch die Verschränkung von Bewusstsein, Erkenntnis und Wissen aufzulösen vermag. An den Kreuzungspunkten von Philosophie, Philologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften werden von nun an nicht nur die Fragen nach den diversen materiellen Abhängigkeiten in der Produktion kultureller Artefakte ermöglicht. Vielmehr wurde damit auch ein umstrittenes, polemogenes Feld eröffnet, das weniger durch eine Kohärenz von Sinnstrukturen als durch die konfliktuelle Bemächtigung von Interpretationen und Bedeutungen geprägt ist. Dies mag den transdisziplinären Traum über ein »Gesamtkorpus« oder eine »Enzyklopädie der Interpretationstechniken«Footnote 19 – vom Dolmetschen raunender Göttersprüche über skripturale Exegesen und Lektüren im ›Buch der Natur‹ bis zu modernen Daseins- oder Tiefenhermeneutiken – hervorgebracht haben. Vor allem aber hat sich dabei der Status des Interpretierens verändert und die Auslegung selbst zum Gegenstand im exegetischen Prozess verschoben. Einerseits also lassen sich Darstellungsweisen unterschiedlicher – textueller, bildlicher, formaler, medialer – Art als Interpretationsakte erfassen, welche historische Wirklichkeiten nicht abbilden, reflektieren oder bezeugen, sondern selbst konstituieren, die unterschiedlichsten Wissensgebiete durchqueren und eigentümliche Wirksamkeiten entfalten. Dabei wird die Kohärenz des Arbeitsgebiets weniger durch definite Objektsfelder oder Disziplinen als durch den Rekurs auf eine spezifische Frageform gegeben. Demnach sollten Interpretationsakte als historische Antworten und Lösungen begriffen werden, während sich deren Analyse dann auf die Ausarbeitung der vorgängigen, darin eingeschlossenen, implizierten oder schlicht vergessenen Probleme und Fragen bezieht. Interpretationen interpretieren Fragen und Probleme, die in ihren Antworten und Lösungen weiterhin insistieren.

Andererseits lädt diese Konstellation dazu ein, den Singular des Geistes durch den Kollektivsingular des Wissens, also durch den Rekurs auf eine Vielfalt von Wissensformen zu ersetzen, die sich nicht aus einem gemeinsamen Ursprung von Bewusstsein, Vernunft oder Erkenntnis ableiten lassen. Dabei geht es nicht nur darum, eine Diversität von Wissenskulturen zu konzedieren und auf spezifische Differenzen und Wechselverhältnisse aufmerksam zu machen: etwa auf das Verhältnis zwischen ars und scientia, zwischen theoretischen und praktischen, expliziten und impliziten, alltäglichen und wissenschaftlichen, bewussten und unverfügbaren, öffentlichen und geheimen, hegemonialen und apokryphen Wissensformen, deren immanente Regeln nicht unter ein einheitliches Format subsumierbar sind. Unterstellt man vielmehr, dass jede Wissensordnung bestimmte Repräsentationsweisen ausbildet, privilegiert und damit ihre Persistenz sichert, so ist es gerade die produktive, hervorbringende oder ›poietische‹ Aktivität, die selbst eine interpretierende Kraft gewinnt. So wenig es nämlich gleichgültig ist, ob sich Kenntnisse in Erzählungen, Diagrammen, Formeln, Karten, Aufzählungen oder Berichten darstellen, um damit ihre Unterscheidbarkeit in der Anschauung, im Symbolischen oder Begrifflichen zu garantieren, so sehr formiert sich mit ihnen ein Auslegungsprozess, der etwa in der Art und Qualität einer konkreten Anordnung von Aussagen, Daten, Ereignissen, Beobachtungen etc. besteht.

So ließe sich etwa – um ein Beispiel zu nennen – mit der Kategorie des ›Ökonomischen‹ seit dem 17. Jahrhundert nicht nur eine tiefgreifende Veränderung des Wissens, seiner Repräsentationsweisen und Grenzziehungen verzeichnen, sondern auch ein privilegierter Ort in der Selbstdeutung neuzeitlicher Gesellschaften, von dem aus Kommunikationen, Austauschprozesse, Dingverhältnisse, Wertschätzungen, Bedürfnisse und Leidenschaften auf spezifische Weise zurechtgelegt und in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden. Ökonomische Tatsachen sind Interpretationen des sozialen Felds. Dabei haben insbesondere liberale Marktmodelle Antworten und Lösungen für die Frage geliefert, wie eine dunkle und verworrene Empirie des Sozialen in einen exemplarischen Schauplatz von Ordnung, Integrationsmechanismen, Ausgleich, sinnvollen Allokationen und somit von gesellschaftlicher Vernunft übersetzt werden kann, und insgesamt an eine systematische Darstellungsform appelliert. Man kann darin die Wirksamkeit eines Interpretationsakts erkennen, der das Selbstverständnis von Gesellschaften instruiert, soziale und symbolische Praxen ausrichtet und intuitiv gerechtfertigte Evidenzen für Funktionsbegriffe und Handlungsoptionen bereitstellt. Die ausgleichenden Kräfte des Markts liefern demnach ein außergewöhnliches Reservoir an Bildern und Erzählungen, aus dem Gesellschaften ihre Selbstrepräsentationen gewinnen. Sie verhandeln die Konsistenz einer möglichen Welt. Sie rechtfertigen sich nicht einfach durch das, was ist, sondern durch das, was wirklich sein könnte; und wie pragmatisch oder visionär die politische Ökonomie seit ihrer Entstehung verfahren mag, sie hat sich niemals mit der Wiedergabe oder dem Protokoll eines tatsächlichen Wirtschaftsgeschehens konstituiert. Das Konzept des Markts nahm Gestalt an, bevor der Markt zu funktionieren begann. So sehr die politische Ökonomie sich bemüht, sich über die Auslegung von Realverhältnissen zu behaupten, so sehr wird diese Wirklichkeit als noch unfertig, als noch allzu inkohärent, als unvollständiger Prozess vorgestellt. Ihr Realismus ist prospektiv, es geht stets darum, eine in den Dingen und Verhältnissen angelegte Virtualität zu vollenden. Das prägt die doppelte Struktur des modernen ökonomischen Wissens oder, wenn man so will, seine hermeneutische Macht: Das Konzept des Markts ist darin Modell und Wahrheitsprogramm zugleich und also mit der Aufforderung verbunden, Marktgesetze selbst wahr zu machen. Gegebenheiten tauchen unter dem Zeichen ihrer Programmierbarkeit auf, Realität in der Perspektive ihrer Realisierung. Der Markt ist eine Interpretation mit dem Vermögen, Wirklichkeiten zu programmieren.

Allerdings insistierte in diesen Lösungen und Antworten weiterhin das Problem, aus welchen historischen Ressourcen sich das Ordnungsbegehren des Marktmodells und seiner Varianten speiste. Dabei ergab sich ein signifikanter Befund, der den neuzeitlichen Bestimmungen von Ökonomie und Markt das implizite oder vergessene Fortwirken eines älteren theophanischen Geistes zu attestieren vermochte. Hatte die oikonomía in der Antike eine gute Haushaltsführung und eine sorgfältige Verwaltungstechnik umrissen, so gewann sie in der christlichen Rezeption einen Bedeutungsaspekt, der auf die irdische Verwirklichung des göttlichen Heilsplans und eine angemessene Verteilung von Heilsgütern verwies. In der christlichen Theologie umfasste der Ökonomiebegriff die Dimension göttlicher Weltregierung, er bezeichnete des Wirken und Walten Gottes, und spätestens seit dem Mittelalter trat die Ökonomie in Gestalt einer Weltordnung auf, die den Charakter der Providenz reklamierte.Footnote 20 Mit dem Übertrag des Ökonomiebegriffs auf politische und soziale Verhältnisse wurde also nicht einfach eine Säkularisierung theologischer Ordnungsfiguren vollbracht. Es geschah vielmehr eine umgekehrte Bewegung: Dem säkularen Einsatz des Ökonomischen ging die theologische Besetzung weltlich-antiker Begriffsinhalte voraus; und gerade mit der ›Verweltlichung‹ der Ökonomie seit dem 17. Jahrhundert wurde der Weltlauf selbst nach den Gesetzmäßigkeiten göttlicher Providenz strukturiert. Noch bei Adam Smith ist in diesem Zusammenhang von einem »großartigen und schönen System«, von der »alles regelnde[n] Vorsehung« die Rede, deren Gang für die »Glückseligkeit der Menschen« sorgt.Footnote 21 Zur Beförderung dieser »Glückseligkeit« müssen wir »Mitarbeiter der Gottheit« werden und, »soweit es in unserer Macht steht, die Pläne der Vorsehung ihrer Verwirklichung näher bringen«.Footnote 22 In Fortsetzung von verschiedenen Versuchen der Theodizee kam die politische Ökonomie der Neuzeit – samt liberaler Marktmodelle – als Vorsehungsparadigma auf die Welt, das bis heute die Aktualität von Krisen und Crashs durch die Wirksamkeit eines höheren Geists aufgehoben und gerechtfertigt sieht. Es scheint, dass dem Geist, nachdem er sich aus diversen Filialen der Geisteswissenschaften zurückgezogen hat, in manchen Branchen der Ökonomik ein Zufluchtsort erhalten blieb. Hier hat die Geschichte des Geistes immer noch ihr Ende überlebt.