Der Einband des schmalen Bandes ist schwarz, aufgebrochen durch winzige weiße Punkte, pixelartig, in unregelmäßiger Verteilung. Düster wirkt er, unruhig. So trist die Einbandgestaltung, so wenig attraktiv scheint der Titel: In schnörkellosen silbernen Buchstaben gesetzt mutet er kalt an, bürokratisch, distanziert: Verzeichnis einiger Verluste, darüber der Name der Autorin: Judith Schalansky. Es gibt keinen Hinweis auf das Genre, keinen Untertitel, der das Werk als ›Roman‹ oder ›Memoir‹ oder ›Essay‹ ankündigt und damit das Statut des ›Verzeichnisses‹ entkräften und zugleich unsere Lesebereitschaft erhöhen könnte. Ein Verzeichnis ist gemeinhin nichts, das wir freiwillig oder gern, ja überhaupt lesen mögen. Verzeichnisse haben eine unmittelbar praktische Funktion: Sie erfassen Wissen, das man wiederum aus ihnen ziehen kann, und sind zumeist recht eng thematisch umgrenzt. Damit sind ihre engsten Verwandten die Gattungen Katalog, Register, Index oder Glossar. Deren Funktionsgebundenheit und Listen-Form – das Aufzählen, Akkumulieren, Ordnen – machen sie alle zu natürlichen Antagonisten der Literatur.

Noch vor seiner Erscheinung wurde Verzeichnis einiger Verluste mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. In der Begründung der Jury heißt es, Schalansky – eine Grenzgängerin »zwischen Natur und Poesie, zwischen Wissenswelten und Phantasiereichen, zwischen Zählen und Erzählen« – sei es mit ihrem ›Verzeichnis‹ gelungen, »in einem Register umfassender Kenntnisse und ungebändigter Fabulierfreude«Footnote 1 eine ganz neue Gattung zu schaffen. Das Werk sei ein »disparates, eigenwilliges, spielerisches Buch voller Überraschungen«, so Jörg Magenau in der Süddeutschen Zeitung. Die Magie der Worte diene bei Schalansky »nicht dazu billiges Wissen zu verbreiten, sondern der Entzauberung der Welt durch die Wissenschaft etwas entgegenzusetzen«.Footnote 2 Und schließlich bescheinigte Andreas Platthaus Verzeichnis einiger Verluste in der FAZ, es sei »Literatur, wie man sie sonst selten findet«.Footnote 3

Der Reiz des Werkes liegt, so möchte ich zeigen, in dem gestalterischen Prinzip, dessen sich Schalansky bedient und das sie zur Poetik erhebt – und mit dem sie zugleich eine Form des (Nicht‑)Erzählens verwendet, die in der Gegenwartsliteratur einen festen Platz einnimmt. Jenes gestalterische Prinzip ist das der Liste – ›Liste‹ verstanden als Abstraktum, als Denk- und Grundform des menschlichen Umgangs mit Ordnung und Zeit. Zwischen ebendiesen Polen bewegt sich Verzeichnis einiger Verluste: dem Ordnen und der Zeit. Einem jeden Verzeichnis unterliegen Entscheidungen, welche die Ordnung betreffen: Was soll wie, in welcher Reihenfolge (alphabetisch? numerisch? chronologisch? genealogisch? nach Sachgruppen?) gelistet werden? Wie sind die einzelnen Einträge strukturiert? Gibt es Querverweise, Unterkategorien, ein Register? Schalansky hat sich diesen Fragen gestellt und die Anordnung in akribischer Symmetrie realisiert: Jeder Abschnitt des Werks umfasst sechzehn Seiten, das Buch insgesamt sechzehn Abschnitte – im Kern zwölf Kapitel, die Länge eines Jahres, gerahmt von je zwei Vorreden und abschließenden Verzeichnissen. Die Kapitel sind durch schwarze Seiten voneinander getrennt, die, wenn man die schwarzen Innenseiten der Buchdeckel hinzunimmt, ebenfalls sechzehn an der Zahl sind. Dass die Trennblätter zwischen den Kapiteln individuell gestaltet sind, fällt erst bei genauem Hinsehen ins Auge: Die Motive, in glänzendem Schwarz auf mattem Untergrund, sind je nach Lichteinfall mal mehr, mal weniger gut zu erkennen. Hier wird das Zusammenspiel von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Präsenz und Absenz – das Thema des Buches – visualisiert. Am Ende steht ein Personenverzeichnis, in alphabetischer Reihenfolge, mit Informationen zu Geburts- und Todeszeitpunkt. Als Kolumnentitel fungieren die Orte, die jeweils im Mittelpunkt eines Kapitels stehen, sodass sich paratextuell ein weiterer Katalog ergibt, der von den Südlichen Cookinseln über das Alte Rom und die Walliser Alpen bis hin zu Lesbos und schließlich zum Lacus Luxuriae auf den Mond führt.

Die Reihenfolge wie auch das Register und die Erzählweise der zwölf Kapitel sind weniger streng geordnet: In einigen tritt die Autorin selbst mal mehr, mal weniger deutlich hervor, ob auf den Spuren des verlorenen Südsee-Atolls Tuanaki (so auch der Titel des Kapitels) oder in einer Schreibklausur in den Walliser Alpen (»Guerickes Einhorn«). In anderen Kapiteln wird personal erzählt, fokussiert auf die jeweiligen Protagonisten (»Villa Sacchetti«; »Die sieben Bücher des Mani«), oder auktorial im Stile eines Berichts (»Kaspischer Tiger«). Fiktionale Ich-Erzähler sind die verschnupfte, in die Jahre gekommene Greta Garbo unterwegs in New York, erzählt in modernistischer Manier in »Der Knabe in Blau«, oder der Pfarrer Gottfried Adolf Kinau, der sein Leben der Astronomie, insbesondere dem Studium des Mondes, widmete (»Kinaus Selenografien«). Im Kapitel »Enzyklopädie im Walde« wendet sich der obsessiv-passionierte Sammler und Archivar Armand Schulthess direkt an eine potenzielle – geliebte – Besucherin seines Anwesens, das Archiv und Inventar, eine begeh- und erlebbare Enzyklopädie ist; die Tour wird zu einer Art Liebeslogbuch.

Jedes Kapitel beginnt mit einer wissenschaftshistorischen Einordnung: Thema und Sachverhalt werden zunächst kurz erläutert, markiert durch einen Asterisk, dann ihr Verlust – ihr Verschwinden, ihr Untergang, ihre Zerstörung – beschrieben, markiert durch ein Kreuz. Die Markierungen, gängige Symbole für Geburts- bzw. Todesdaten, schreiben die verlorenen Dinge ein in das menschliche Leben, zu denen sie letztlich immer Bezug haben: Verlust und Vergänglichkeit als Teil der conditio humana. Der Tod und der Umgang mit dem Sterben sind das eigentliche Thema des Buches. Im Vorwort macht Schalansky dies explizit: »Erst jetzt, da ich die Arbeit an diesem Buch, in dem die vielfältigen Phänomene der Zersetzung und Zerstörung eine tragende Rolle spielen, fast beendet habe, sehe ich ein, dass es nur eine der unzähligen Arten darstellt, mit dem Tod umzugehen …«.Footnote 4 Dies gilt für ihr Thema, es gilt aber umso mehr auch für die von ihr gewählten formalen Prinzipien. Überspitzt könnte man formulieren: In Situationen der existenziellen Not suchen Menschen Halt und Trost in Formen der Ordnung, mit anderen Worten: Sie machen Listen. Umberto Eco, ein großer Listenliebhaber und Verfechter des Listenschreibens als poetisches Mittel, brachte es einmal auf die Formel: »Wir mögen Listen, weil wir nicht sterben wollen.«Footnote 5 Das Führen von Listen, das Fortschreiben, Ansammeln, Hinzufügen von Einträgen erlaubt, auf formaler Ebene, die Illusion von Kontinuität und Fortleben im Akt des Immer-Weiter und ermöglicht letztlich die Annäherung an, ja den Ausdruck von Unendlichkeit.

Dies mag zunächst paradox klingen. Im Gegensatz zum ›bloßen‹ Aufzählen verläuft das Erzählen notwendigerweise in der Zeit, es ist sequentiell, syntagmatisch. Prinzipien der Ordnung dagegen sind zumeist nicht zeitlich, sie sind abstrakt, paradigmatisch. Selbst eine chronologische Ordnung nutzt die Zeit als Parameter nur insofern, als sie die Abfolge von Ereignissen zu ihrer Grundlage macht, nicht aber als Phänomen der Erfahrung. Dies gilt auch für das Verzeichnis; es eröffnet einen Raum, kein Zeitfenster. Schalanskys Vorbemerkung stellt dies eindrücklich vor Augen: »Während der Arbeit an diesem Buch verglühte die Raumsonde Cassini in der Atmosphäre des Saturn; zerschellte der Marslander Schiaparelli in der rostigen Gesteinslandschaft jenes Planeten, den er hätte untersuchen sollen; verschwand eine Boeing 777 spurlos auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking…«.Footnote 6 Es folgen zwei Seiten, auf denen Verlorengegangenes, aber auch Wiedergefundenes, Neuentdecktes aufgelistet wird. Als Bindeglied fungiert die Zeit; die einzelnen Ereignisse teilen das, was in mittelalterlichen Handschriften eine Rubrik, ein rubrizierter, in roter Schrift geschriebener Titel, markierte. Im Vorwort gibt Schalansky einen Überblick über die verschiedenen Techniken und Genres, mit der Unvermeidlichkeit des Verlusts umzugehen: Rituale des Erinnerns; die Einrichtung von Archiven, Museen und Bibliotheken; das Führen von Enzyklopädien; das Sichern auf Datenspeichern. Das Sammeln als Versuch, durch die schiere Anhäufung von Material seinem naturbedingten Untergang entgegenzuwirken. Doch die Kehrseite des Sammelns ist das Horten; die Kehrseite der Schätze der Müll. So wird denn auch bei Schalansky die Erde selbst zum »Trümmerhaufen vergangener Zukunft«Footnote 7 und die Sehnsucht nach Ordnung zur Utopie in einem chaotischen Archiv.

Es gibt jedoch Anlass zur Hoffnung: Eben die Form, die auch den administrativen, nach Ordnung sinnenden Geist befriedigt – die Liste –, wird als poetisches Mittel zum Träger und Vermittler von Erinnerung. Schalanskys Kapitel sind durchzogen von Spielarten der Liste: Geschichte als Ablauf der immer gleichen Handlungsfolgen; ein Katalog der wilden Tiere, der zugleich das Imperium Romanum entstehen lässt; immer wieder listenhafte Beschreibungen von Personen, Orten, Kunstwerken, der Natur.Footnote 8 Zugleich wird die enge Verschränkung vom Lesen und Sammeln zum roten Faden des Buches: légein bzw. legere, ursprünglich ›sammeln‹, findet sich schon bei Homer in der Bedeutung von ›erzählen‹.Footnote 9 Das Sammeln von Verlusten als Generator von Erzählung und Erinnerung.

Dabei sind Listen und Verzeichnisse erst einmal nicht narrativ. Etymologisch ist die Liste im Wortsinne ›randständig‹ – im Alt- und Mittelhochdeutschen, wie im Mittellateinischen, bezeichnete lista einen Saum, einen bandförmigen Streifen oder eine Borte, bevor sie über das Italienische als Begriff für ein Verzeichnis oder ein Register ihren Weg in die kaufmännische Sprache fand.Footnote 10 Eine Liste ist ihrem Ursprung nach also gleichsam der Rockzipfel des Erzählens, dort, wo sich die Fäden auflösen oder noch nicht verkettet sind. Für Jurij Lotman markiert das Enumerative vor diesem Hintergrund das Andere des Erzählens: Verzeichnisse verkörpern für ihn das Nicht-Narrative, aus dem heraus sich alles Narrative konstituiert. Erst auf der Basis des Nicht-Narrativen – wir könnten auch sagen: des Noch-Nicht- oder Nicht-Mehr-Narrativen – wird eine Erzählung, d. h. Handlung, möglich.Footnote 11 Auch in der Umkehrung funktioniert das Lotman’sche Prinzip: Jede Handlung lässt sich zurückführen, herunterbrechen, auf eine Liste von einzelnen Elementen. Das Gerüst einer Erzählung ist immer eine Liste.

Inwiefern Aufzählen und Erzählen miteinander verschränkt sind und auf formaler Ebene Verlusterfahrung produktiv verbinden können, zeigt sich besonders eindrücklich in den beiden mittleren Kapiteln, die gleichsam die Herzstücke von Verzeichnis einiger Verluste bilden: »Sapphos Liebeslieder«, über die antike Dichterin Sappho, und »Das Schloss der von Behr«, über das Herrenhaus des Adelsgeschlechts der von Behr in der Nähe von Greifswald, das in den Kindheitserinnerungen der Autorin eine besondere Rolle spielt. Beide Kapitel sind – im Gegensatz zu allen anderen – in kurzen Paragraphen verfasst, die einmal mehr die Vignetten- und Listenhaftigkeit der Komposition verdeutlichen. Zugleich werden im wörtlichen Sinne Leerstellen sichtbar: Im Falle Sapphos verweisen sie auf das Fragmentarische in der Überlieferung der Gedichte, im Falle des Schlosses darauf, dass die Erinnerung der Autorin nicht kohärent oder kausallogisch funktioniert, sondern schlaglichtartig einzelne Episoden und Momente hervorruft. Bei Sappho ist es das kulturelle Gedächtnis, dessen Erinnerung bruchstückhaft (geworden) ist, bei der Autorin die aus dem eigenen Erleben und Erfahren gewonnene Erinnerung, die einhergeht mit der Unzuverlässigkeit des Selbst.

Am Anfang des Sappho-Kapitels nennt Schalansky die Musen, wie Hesiod sie in seinen Ursprungsmythen beschreibt: »Die Musen wissen alles. Sie wissen, was gewesen ist, was ist und was sein wird. Ihr Vater ist Zeus, ihre Mutter Mnemosyne, eine Titanin, die Göttin der Erinnerung.«Footnote 12 Damit ist auch die Literatur, in welcher Form auch immer, ein Kind der Erinnerung: Im Literarischen findet das Erinnern gewissermaßen seinen Ausdruck und seine Erfüllung. Sich an ihre Kindheit erinnernd schreibt Schalansky: »Sommer 1984. Es ist meine erste Erinnerung, weiß ich, glaube ich, behaupte ich.«Footnote 13 Zwischen diesen Polen schwebt die Erinnerung der Autorin: Sie beschreibt eine Zeit, bevor sie den Tod kannte, bevor sie irgendetwas erwartete und bevor sie ein Bewusstsein für ein Zuvor und ein Danach entwickelte. Die Erinnerungen sind lose, episodisch; eine Auflistung mehr als eine Erzählung. Zugleich wird hier nun das formale Prinzip der Liste verdichtet: Indem man als Leserin in der Lektüre Verbindungen zieht und Kohärenz stiftet, kippt im Kopf das Enumerative ins Narrative: Es entspinnt sich die Möglichkeit eines großen Ganzen, ohne dass dieses erfüllt wird.

Sappho fungiert als Folie, auf die das Erinnerungskapitel Schalanskys zurückscheint: Bei Sapphos Liebesliedern, entstanden um 600 v. Chr., wiegt das Nichtwissen schwer – die Entstehung, die Kontexte, der Großteil der Texte selbst liegen im Dunkeln. Die erhaltenen Fragmente und Zeugnisse lassen aber auch hier ein mögliches Ganzes entstehen, das kraft seiner Leerstellen umso eindrücklicher wirkt. Das Kapitel weist eine eigentümliche Rhythmik dadurch auf, dass in unregelmäßigen Abständen viele der Paragraphen mit »Wir wissen nicht«, »Wir wissen nur« oder aber »Wir wissen« eingeleitet werden. In den kritischen Editionen der Gedicht-Fragmente verweisen Markierungen wie Klammern oder Auslassungspunkte auf die Leerstellen, das Nichtwisssen. So bleiben die Inhalte vielfach rätselhaft: Die Liebe zwischen den Frauen, die Sappho thematisiert, beschreibt, in ihrem Verlangen evoziert, erscheint ebenso geheimnisvoll – und zugleich umso intensiver. Eine Sprache der Liebe, die alles zu explizieren sucht, droht schnell dem Pornographischen anheim zu fallen. Das Sappho-Kapitel zeigt gleichsam dessen Gegenteil: Im nur Angedeuteten, Fragmentarischen, im Raum des Möglichen wird Liebe, lesbische wie jede andere, lesbar.

Die Listenhaftigkeit des Buches steht in einer ständigen Spannung zu den Inhalten, verspricht doch die Form klare Strukturen, Praktikabilität, Objektivität, den Geltungsanspruch des Faktualen. Schalansky aber untergräbt diese Erwartungen konsequent: In ihren Betrachtungen, Reflexionen und Erzählungen setzt sie der strengen formalen Ordnung des Verwaltens und Archivierens durch das Erzählen eine alternative Ordnung, die des Narrativen, entgegen. Darin finden Erinnerungen, Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste ihren Ausdruck, die sich allesamt mit Verlusterfahrungen beschäftigen. Verlorenes kann zwar verzeichnet, nicht aber zurückgeholt werden; hier kommt das bloße Auflisten an seine Grenzen. Literatur dagegen vermag das Verlorene ebenso wiederentstehen zu lassen wie die mit dem Verlust verbundenen Emotionen. Dabei entstehen Ordnungen, die individuell und subjektiv sind und die sich ihrem Verzeichnen widersetzen.

Dieses Widersetzen von Ordnungen, das gestalterisch auf Formen des Enumerativen und Faktualen aufbaut, möchte ich als eine im Entstehen begriffene Poetik der Liste beschreiben. Verzeichnis einiger Verluste fügt sich nämlich ein in eine wachsende Anzahl von literarischen Werken der Gegenwartsliteratur, in denen die Liste das poetische Grundprinzip ist. Interessanterweise lässt sich für dieses poetische Prinzip kein geographisches oder linguistisches Zentrum ausmachen; Beispiele finden sich in Europa ebenso wie in Nordamerika oder Ostasien. Zu nennen wären hier Bluets der amerikanischen Autorin Maggie Nelson; The White Book der Koreanerin Han Kang, Unrast der polnischen Autorin Olga Tokarczuk oder das Jahreszeiten-Quartett des norwegischen Autors Karl Ove Knausgård ebenso wie das Werk der Französin Annie Ernaux oder Aus der Zuckerfabrik der Schweizer Autorin Dorothee Elminger.Footnote 14 Auffällig ist zudem, dass die betreffenden Werke keiner bestimmten literarischen Tradition zuzuordnen sind. Zugleich ist ihnen gemein, dass sie sich wie Verzeichnis einiger Verluste einer gattungsspezifischen Einordnung entziehen; sie sind teils Memoir, teils poetische Reflexion, teils philosophische Abhandlung, teils klassische Erzählung. Ihnen gemein ist, dass sie assoziativ erzählen; es gibt keinen kohärenten, unmittelbar nachvollziehbaren Plot; die Episoden sind Vignetten, im Licht gebrochene Facetten eines größeren Zusammenhangs. Zugleich ist in allen die Stimme der Erzählerin oder des Erzählers (oder einer Reihe von Erzählfiguren) sehr präsent und die Werke tragen oftmals autofiktionale wie autobiographische Züge. Ihre Ordnungsprinzipien sind thematisch, paradigmatisch, assoziativ; ihre Thematik der Verlust und die Vergänglichkeit.

In Bluets beispielsweise verarbeitet die Autorin eine unglückliche Liebeserfahrung. Sie beginnt damit zu beschreiben, wie sie sich in eine Farbe – die Farbe Blau – verliebt; ihr Liebesverhältnis bezeichnet sie als »blauen Rausch«.Footnote 15 Zugleich wird Blau zum Ausdruck und Sinnbild ihres Liebeskummers, nachdem ihr Liebhaber sie betrogen hat. Das Werk ist strukturiert in 240 zumeist kurzen nummerierten Paragraphen; manchmal umfassen sie nur einen Satz oder wenige Sätze, nur zwei oder drei Mal sind sie länger als zwei Seiten. Die Geschichte der Liebe ergibt sich eher zufällig; sie ist verstreut zwischen den assoziativ gereihten Absätzen, die sich mit den verschiedensten Arten von Blau befassen, darunter Beschreibungen von blauen Augen, Goethes Farbenlehre, Blaublindheit, dem Blues, Melancholie und Depression (ausgehend von dem englischen Ausdruck feeling blue), blauen Blumen und Andy Warhols Blue Movie. An einer Stelle bezeichnet Nelson ihre Art zu schreiben als »Propositionen«Footnote 16 – und verweist damit auf die Tradition der Logik und des philosophischen Traktats, die listenhaft und gerade nicht narrativ operieren; man denke an Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico-PhilosophicusFootnote 17 oder Thomas von Aquins Summa theologica.

Han Kangs Verlust trägt – wie ihr Name, Han – die Farbe Weiß. Sie beginnt mit einer Liste von weißen Dingen:

Swaddling bands

Neborn gown

Salt

Snow

Ice

Moon

Rice

Waves

Yulan

White bird

›Laughing whitely‹

Blank paper

White dog

White hair

ShroudFootnote 18

Einige der Einträge auf der Liste sind kulturspezifisch: Yulan ist eine Magnolien-Art mit weißen Blüten; ›weiß lachen‹ ein koreanischer Ausdruck für ein aufgesetztes Lachen, der weder im Deutschen noch im Englischen eine Entsprechung hat. Weiß als Farbe der Trauer fungiert als Bindeglied zwischen den einzelnen Reflexionen. Die Begriffe werden in den folgenden kurzen Kapiteln aufgegriffen; es gibt aber auch weitere Kapitel, über weiße Knochen, kleine weiße Tabletten oder Nebel, die sich nicht in der Liste finden. Kangs Text ist eine autobiographische Aufarbeitung über den Tod ihrer älteren Schwester, die kurz nach ihrer Geburt verstarb. Han Kang hat sie also nie kennengelernt, ja ihre Existenz ist erst durch den Tod ihrer Schwester möglich geworden. Vor diesem Hintergrund ist bereits in der Liste, die das Werk eröffnet, die ganze Tragik des Verlustes erhalten: Sie beginnt mit Windeln und endet mit einem Leichentuch – bei Han Kangs Schwester fällt beides zusammen; das erste Gewand ist auch das letzte. Die Kapitel sind kurz, meist weniger als eine Seite, und in unregelmäßigen Abständen finden sich Schwarzweiß-Fotografien, welche die Autorin, allein, im Halbdunkel, oder ihre Hände, nähend oder etwas reinigend, zeigen.

Auch bei Knausgård gibt es Bilder: Jedes seiner Jahreszeiten-Bücher ist illustriert – Im Herbst von Vanessa Baird; Im Winter von Lars Lerin; Im Frühling von Anna Bjerger; Im Sommer von Anselm Kiefer. Diese sind – im Gegensatz zu den Fotografien bei Kang und den Illustrationen bei Schalansky – farbig. Auch wenn gerade in den Bänden zum Herbst und Winter dunklere Töne vorherrschen, ist der Eindruck insgesamt ein fröhlicherer. Doch auch Knausgård thematisiert die Vergänglichkeit, das Fortschreiten der Zeit, gemessen an den sich wechselnden Jahreszeiten und dem Heranwachsen seiner Kinder, deren Aneignung der Welt Knausgård beobachtet und beschreibt, in »Brief an eine ungeborene Tochter« antizipiert. Wie kleine Kurzgeschichten stehen diese Vignetten nebeneinander. In der Summe gewährt Knausgård einen Einblick in den Familienalltag. Aber es gibt auch andere Kapitel, die Detailbeobachtungen und -beschreibungen gewidmet sind (Wespen; Wasser; Rohre; Q‑Tips) und die nur lose, nämlich durch die Perspektive des erlebenden und erzählenden Knausgårds, miteinander verknüpft sind. Auch hier sucht man vergebens nach einer zusammenhängenden Geschichte, nach Kohärenz und einem großen Ganzen; auch Knausgård zeichnet auf, verzeichnet sein Leben.

In einer kürzlich erschienenen Rezension über Knausgårds sechstes und letztes Buch seiner autobiographischen Romanserie, die im Norwegischen Min kamp heißt, hat Fredric Jameson Knausgårds Stil als »itemisation«, ›Auflistung‹, beschrieben.Footnote 19 Jameson versucht den großen Erfolg von Knausgårds Romanen zu verstehen, die weder Außergewöhnliches noch außergewöhnlich erzählen; es wird sprachlich unauffällig Alltägliches berichtet – in Jamesons Worten ›aufgelistet‹, ›verzeichnet‹. Jameson verhehlt sein Missfallen nicht; Knausgårds Stil, so argumentiert er, sei ein Symptom unserer Zeit, in der sprachliche Innovation und ästhetischer Anspruch verloren gingen:

I will call Knausgaard’s kind of writing ›itemisation‹. We have, in postmodernity, given up on the attempt to ›estrange‹ our daily life and see it in new, poetic or nightmarish, ways; we have given up the analysis of it in terms of the commodity form, in a situation in which everything by now is a commodity; we have abandoned the quest for new languages to describe the stream of the self-same or new psychologies to diagnose its distressingly unoriginal reactions and psychic events. All that is left is to itemise them, to list the items that come by.

Nicht nur Objekte, auch Menschen und ihre komplexen Gefühlswelten fallen, so Jameson, der Auflistung zum Opfer:

There are feelings and emotions in these volumes and they are the usual ones – love, grief, apprehension, inferiority, anger etc. But they are not expressed; they too are itemised. There are personal relations and tense interpersonal situations; but these too are not exactly dramatised, they are simply listed, and noted down.

Das bloße Auflisten sei also das Problem, ja gar der Makel (»flaw«) der Romane: Knausgård präsentiere uns »simply a collection of his own personal thoughts« statt eines rhetorisch oder literarisch ausgestalteten Essays; das Belanglose, Alltägliche seiner Erzählungen ständen daher auch jeglicher Transponierung auf eine höhere Ebene entgegen: »they remain what they were before, transient and of no particular interest. Nor are they lifted into the timeless eternity of classical literature, posterity and the canon: you can dip into them wherever you like and they will not be any more quotable or Virgilian; they will, in fact, remain quite as nondescript as before.«

Nicht jedes literarische Werk muss vergilisch sein (was immer dies heute heißen mag) oder dem Maßstab der Zeitlosigkeit eines Klassikers genügen – dies sind Urteile, die sich schwerlich aus unserer gegenwärtigen Position treffen lassen; sie mögen a posteriori getroffen werden. Auch wenn mir Jamesons literarisches Anspruchsdenken zu weit geht, so zeigt er doch mit scharfem Blick auf, inwiefern Aufzählen und Erzählen in enger Verschränkung zu einem poetischen Prinzip unserer Zeit geworden sind. Dass es sich dabei um ein poetisches Prinzip handelt, streitet Jameson freilich ab; er disqualifiziert das Auflisten als jedem literarischen Anspruch entgegengesetzt. Dabei verkennt er aber die Faszinationskraft, die eben diese Nähe zum ›bloßen‹ Aufzählen ausübt; er verkennt das poetische Potenzial der Form. Dies ist nicht der Verfall ästhetischen Anspruchs, sondern eine Verschiebung hin zum Listenhaften, das Erinnerung und Schreiben neu konfiguriert. Julika Griem hat das Potenzial dieser Form erkannt, wenn sie Knausgård zugesteht, er kultiviere »in der repetitiven Anhäufung banal wirkender Details eine Poetik der Form- und Spannungslosigkeit«.Footnote 20 Nur ist es gerade keine Formlosigkeit, sondern das Aufzählen, das zum formalen Prinzip avanciert. Das Spröde, Alltägliche, das in der Form des listenhaften Beschreibens zutage tritt, wird gerade wegen seiner Nähe zu den Großformen des Auflistens (Archiv, Sammlung, Inventar) produktiv; es eröffnet eine Echokammer für die eigenen Erinnerungen und Lebensdetails. Die genauen kognitiven Strategien, die hier eine Rolle spielen, wären zu untersuchen; ich vermute, dass Immersionseffekte gerade nicht durch die Evozierung von Empathie oder Identifikation entstehen, sondern durch Reflexe des Gleichen, des Wiedererkennens des Eigenen, das, gerade weil es alltäglich ist, tröstlich wirken mag. Dies gelingt Knausgård in seinen Min Kamp-Romanen nicht immer – hier ist Jamesons Kritik durchaus gerechtfertigt –; die Texte überspannen in ihrer Massierung das Prinzip des Auflistens, sodass der erzählerische Anspruch und das »Etcetera«, das bei Knausgård immer ausbuchstabiert wird, bisweilen in eine ungefällige Spannung treten. In seinem Jahreszeiten-Quartett dagegen lässt sich die Poetik der Liste klar erkennen; hier tritt der Anspruch an erzählerische Ganzheit hinter dem Fragmentarischen und den Einzelbeobachtungen zurück.

Verlusterfahrungen und die Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit – der eigenen wie der allgemein menschlichen – auf formaler Ebene mit fragmentarischen Erzählstrategien auszudrücken, ist natürlich keineswegs neu. Doch unterscheiden sich die genannten Werke von anderen Erzählungen – man denke in jüngerer Zeit beispielsweise an Jonathan Safran Foers Extremely Loud and Incredibly Close (2005) über die traumatischen Erfahrungen nach 9/11 – dadurch, dass sie das Nicht-Narrative maximieren; sie gehen nicht von einer zugrunde liegenden Erzählung aus, die durchbrochen wird, sondern sind von vornherein verzeichnend, enumerativ, assoziativ angelegt.

Ein Hypotext, den man anführen könnte, ist Roland Barthes’ Fragments d’un discours amoureux (1977), der als Mischung aus subjektiver Enzyklopädie und Wörterbuch eine Annäherung an das Changieren zwischen Hoffen und Bangen, An- und Abwesenheit des Geliebten versucht.Footnote 21 Auch hier ist die Form des Enzyklopädischen, des Auflistens von Begriffen, das literarische Prinzip. Wie bei Maggie Nelson sind die einzelnen Paragraphen, die Barthes’ Text ausmachen, nummeriert, allerdings nicht durchgängig, sondern innerhalb der Lemmata, die das gesamte Werk strukturieren. Auch hier steht die strenge äußere Ordnung dem Gefühlschaos und der Sehnsucht nach Ordnung und Klarheit auf der inhaltlichen Ebene entgegen. Weitaus älter, aber nicht weniger einschlägig ist das sogenannte Kopfkissenbuch der japanischen Adligen Sei Shonagon, die um das Jahr 1000 die Listenform und Poesie so miteinander verschränkt, dass Erzählungen und Handlungsmuster nur angedeutet werden. In den Leerstellen zwischen ihren Beschreibungen und Listen eröffnen sich Möglichkeitsräume ganz ähnlich, wie wir sie in den aktuellen Texten finden.Footnote 22 (Nelson, darauf sei verwiesen, erwähnt Sei Shonagon, wenn auch nicht als formales Vorbild, sondern wegen ihrer Beschreibung von blaugrauen Pferden.Footnote 23)

Judith Schalanskys Verzeichnis einiger Verluste ist, so möchte ich resümieren, exemplarisch für eine Tendenz in der Gegenwartsliteratur, die – durchaus im Bewusstsein einer Tradition des Erzählens im Modus des Aufzählens – die Liste als poetisches Prinzip nutzt. Man könnte dies als den Verfall von Sicherheiten, den Verlust von klaren Narrativen, die Abkehr von Halt und Verlässlichkeit in unserer Zeit, von wachsender Komplexitätsreduktion und Kurzformen der Kommunikation werten. Die Wiederentdeckung der Liste als poetisches Prinzip spiegelt den Zeitgeist wider wie kaum eine andere Form; doch ist sie viel älter, zeitlos, überzeitlich gar. Im Ergebnis werden Zeit und Zeitlichkeit anders, neu, verfremdet erfasst und dadurch anders fassbar: Die Pragmatik des Auflistens, des Verzeichnens, des ›itemising‹ stellt der Unordnung des Seins die Illusion von Ordnung entgegen; sie ist Methode, mit Verlusterfahrung umzugehen, am Ende Ganzheit, vielleicht sogar Unendlichkeit zu erschaffen. Der Ausblick ist also ein optimistischer, das Auflisten letztlich auch der programmatische Appell, auf die Macht der Literatur zu vertrauen: »Nichts«, so schreibt Schalansky, »kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden«.Footnote 24