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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter April 5, 2023

Derrida hat Nietzsches Regenschirm verloren. Zu Philipp Felschs Buch Wie Nietzsche aus der Kälte kam

  • Bettina Wahrig EMAIL logo
From the journal Nietzsche-Studien

Abstract

Derrida Has Lost Nietzsche's Umbrella: On Philipp Felsch's Book Wie Nietzsche aus der Kälte kam. This essay discusses the story of the critical edition of Nietzsche’s complete works by Giorgio Colli and Mazzino Montinari as presented in Philipp Felsch’s book Wie Nietzsche aus der Kälte kam. The book, which is based on biographical material of the two editors, takes up an important episode in European intellectual history in its political, cultural historical context. However, it often presents a questionable use of these sources. A closer examination of that the same source material would situate the history of the edition and its editors in a different context. Likewise, Felsch’s account of the history of Nietzsche’s reception in France, and his reception in the neighboring countries, lacks nuance and reveals some remarkable examples of misreading. Like in other genres of history, scholars of discourse history and intellectual history need to read sources closely and critically. When we talk of dealing with primary sources, the work that editors have done in commentaries and editions should be taken into account. Finally, I argue that we should not dismiss recent innovations in editing methods as confusing or “vulcano-like,” but we would do well to appreciate the opportunities offered by the digital humanities, both for a professional readership and a wider audience.

  1. Philipp Felsch, Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung. München: C. H. Beck 2022, 287 S., ISBN 978-3406777011.

Tout au plus le lecteur peut-il rêver; encore faut-il lui en donner les moyens.[1]

Mit Philipp Felschs Buch liegt ein erster Versuch vor, die Entstehung der Kritischen Ausgabe der Werke Nietzsches durch Giorgio Colli und Mazzino Montinari historisch zu rekonstruieren. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Debatten der 1960er und 1970er Jahre über die Bedeutung Nietzsches sowie über diejenige geisteswissenschaftlichen und philologischen Arbeitens. Es war eigentlich an der Zeit, diese Geschichte aufzuarbeiten, allerdings muss gesagt werden, dass es sich bei diesem Buch allenfalls um einen Anstoß hierzu handeln kann, da es auf einer unvollständigen Quellenlage – und einer ganzen Reihe von Fehlinterpretationen und Missverständnissen beruht.

Den Einstieg bietet ein Ereignis aus dem Jahr 1964: ein Kolloquium in der Zisterzienser-Abtei von Royaumont, auf dem Colli und Montinari alte und junge Granden der französischen Geisteswelt treffen sollten – unter den letzteren Klossowski, Foucault und Deleuze, der selbstdie Einladung ausgesprochen hatte[2] – und dort erstmals ihre im Entstehen begriffene Ausgabe der Werke Nietzsches vorstellen konnten.

Damit leitet Felsch szenisch in den Gegenstand seines Buchs ein: die Geschichte der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Worum geht es Felsch dabei? Die Geschichte, so fasst Felsch eine gegen sein eigenes Vorhaben imaginierte Gegenposition zusammen, wie „ausgerechnet der Philologie-Verächter Nietzsche zum Gegenstand einer derart exzessiven Philologie geworden ist“ (25)? Oder die Frage, wieso Nietzsche als „Weltanschauungsschriftsteller zu einem ernstzunehmenden Philosophen aufzuwerten“ versucht wurde (26)? Wie sich, frei nach Adorno, Philologie, „verschworen mit dem Mythos“, einer verfehlten Nietzsche-Renaissance schuldig machte (26 f.)? Hier ist bereits zu sehen, dass seine Narrative oft eher Plattitüden wiederholen als Forschungsfragen aufwerfen. Aber, versichert der Autor, darum geht es doch nicht, sondern darum, wie sich im Briefwechsel von Colli und Montinari, dem „Dokument einer erotisch aufgeladenen Lehrer-Schüler-Beziehung, Bildungsroman zweier italienischer Intellektueller“, eine ganze Nachkriegsgeschichte aufrollt und wie ihr „intimes Journal eines Editionsprojekts“ die „Ideengeschichte des Kalten Krieges in den Blick“ rückt (27). Der Autor möchte „die affektiven, intellektuellen und politischen Energien aus vier Jahrzehnten […] befreien, die in ihren nüchternen Anmerkungsapparaten gespeichert sind.“

Doch zurück zur Struktur des Buches und zu einem kurzen Überblick: Um die Vorgeschichte zu erfassen, setzt Felschs Erzählung im zweiten Kapitel ein mit der Jugend Montinaris in Lucca und dem Zeitpunkt, an dem Giorgio Colli dort Gymnasiallehrer wurde und einen kleinen Kreis von an griechischer Philosophie interessierten Schülern und Schülerinnen um sich versammelte, die sich dem faschistischen Regime widersetzten. Colli vermittelte neben der Lektüre klassischer Autoren auch eine erste Bekanntschaft mit den Philosophien Schopenhauers und Nietzsches. In den folgenden Kapiteln werden jeweils einzelne Jahreszahlen, verbunden mit einem kurzen Motto oder Stichwort, genannt, die sich um entscheidende Wendepunkte der Geschichte der Ausgabe ranken.

Die Erzählung wechselt zwischen den Perspektiven Collis und Montinaris hin und her. Jahreszahlen, die durch Buchkapitel markiert sind, werden so gesetzt, dass der Eindruck eines kurztaktigen Rhythmus von Gegenschnitten und Rückblenden entsteht. So repräsentiert etwa 1948 die direkte Nachkriegszeit, und 1958 ist das Jahr, nach dem sich Colli und Montinari wieder trafen. Ein verschriftlichter Dokumentarfilm. Aber leider in Schwarz-Weiß. Betrachtet man diesen Kapitelaufbau im Zusammenhang, so fällt auf, dass die eigentlichen Gründungsjahre des „Unternehmens Nietzsche-Edition“, getragen von den drei europäischen Verlagen Adelphi, Gallimard und de Gruyter und verteilt auf die Jahre 1962 – dem Kooperationsbeginn von Adelphi und Gallimard – und 1965 – dem Einstieg von de Gruyter –, nur im feuilletonistischen Intro am Anfang markiert werden. Nur im erwähnten Kolloquium, in dem uns Colli und Montinari als „italienische Dilettanten“ (21) vorgestellt werden, die 1964 quasi inkognito nach Royaumont gefahren seien, wird die entscheidende Phase der Etablierung der Ausgabe direkt angesprochen.[3]

Das ausschnitthafte Erzählen fokussiert in weiteren Kapiteln mit 1961 und 1972 zwei Jahre, die für unterschiedliche Anfänge stehen: Das erste steht für den Beginn der Archivarbeiten in Weimar, und das zweite soll das Einsetzen der linksintellektuellen Nietzsche-Rezeption in Frankreich markieren, aber gleichzeitig die Abkehr des Interesses vom Projekt der beiden italienischen Editoren oder sogar dessen Ablehnung. Das Kapitel zu 1985, dem Jahr vor Montinaris Tod, behandelt, zum Teil im Rückblick, den Linksterrorismus in Italien, die Abwehrversuche der Nietzsche-Rezeption in der späten DDR und das angebliche Ende der Wirkungsgeschichte der KGW.

Zwei Gelehrten-Biographien in der italienischen Nachkriegszeit

Das Schlaglichtartige und Personalisierende der Darstellung drückt sich nicht nur in den von Felsch gewählten, immer einzelne Jahreszahlen enthaltenden Überschriften aus, sondern auch in der Art und Weise, wie er die biographischen und persönlichen Verschiedenheiten der befreundeten Herausgeber in Szene setzt. Wichtige Daten werden dabei nur am Rande erwähnt und auf unerwartete Weise erzählerisch eingebettet, so als wolle der Autor sie am liebsten von der Seitenauslinie her betrachten.

Der jüngere Montinari fand nach dem Ende des Faschismus neben Giorgio Colli und Delio Cantimori verschiedene Lehrer, aber es kommen nur zwei hier vor, die zu Gegensätzen hochstilisiert werden.[4] Felsch vergleicht Colli mit der Zauberberg-Figur Settembrini und Cantimori mit Naphta (73), ein Beispiel dafür, wie politische Differenzen hier mit Motiven aus der Literaturgeschichte aufgeladen werden.[5] Collis Wirken als Privatdozent und Herausgeber von Werken europäischer Klassiker steht auf der einen Seite und Montinaris Studium bei Cantimori, seine Entwicklung zum Historiker und spätere Arbeit für Edizioni Rinascita, den Verlag der Kommunistischen Partei Italiens (KPI), deren Mitglied er war, auf der anderen. Gegenschnitte und Schlaglichter fallen auch auf das intellektuelle Klima in Westdeutschland und in Italien: hier Adorno, da Gramsci und Palmiro Togliatti, langjähriger Generalsekretär der KPI und als solcher Nachfolger Gramscis (68 f.). Für Montinari vermittelten zwei Studienaufenthalte, einer in Ost- und einer in Westdeutschland, den Zugang zur deutschen Kultur und Sprache. Nach seiner Rückkehr leitete er das Centro Thomas Mann, eine von der DDR unterstützte kulturelle Einrichtung, ähnlich den westdeutschen Goethe-Instituten. Ein interessanter Fund ist der Spiegel-Artikel über Montinaris angebliche häufige Reisen nach Ostberlin zur Etablierung des Centro (92), an die Felsch die Vermutung einer Beobachtung Montinaris durch den BND knüpft (93). Seine Arbeit für den Parteiverlag beinhaltete zahlreiche Editions- und Übersetzungsprojekte.

Nach 1956, d. h. nach der blutigen Niederschlagung der ungarischen Revolution und dem Bekanntwerden der Verbrechen des Stalinismus, kehrte sich Montinari von einer orthodox marxistischen Weltanschauung ab. Entscheidender als die Kritik am Sozialismus in Osteuropa war aber die nun einsetzende, von Montinari fortan gelebte Trennung zwischen politischer und kultureller Sphäre.[6]

Die weltanschauliche Krise Montinaris koinzidierte mit einer Wiederbegegnung, in Felschs anekdotischer Diktion: „Wie in der Vergangenheit ist der entscheidende Anstoß für seine Konversion auch diesmal persönlicher Natur“ (95). Er traf Colli wieder, und es begann die gemeinsame Arbeit an der Enciclopedia di autori classici, die Colli ins Leben gerufen hatte und für die Montinari als Editor und Übersetzer agierte.[7]

Die Anfänge der Ausgabe

Auf der Suche nach einer übersetzbaren Nietzsche-Ausgabe bemerkten die beiden, dass es keine zuverlässige Textgrundlage hierfür gab, und nach mehreren Weimar-Aufenthalten, die durch Montinaris Sprachkenntnisse und bestehende Parteikontakte erleichtert wurden, entstand das Projekt einer Neuherausgabe.

Mit der Verbindung zum Archiv in Weimar ab 1961 und dem zeitweiligen Umzug Montinaris dorthin trugen die italienischen Verlagskontakte Collis[8] entsprechende Früchte. Im neu gegründeten Verlag Adelphi fand sich eine erste finanzielle Grundlage für die Erforschung des Nachlasses,[9] dann auch eine Basis für den Einstieg Gallimards für die französische Übersetzung (1962), wodurch die editorische Tätigkeit vorläufig auch finanziell gesichert war. 1964 erschienen die ersten italienischen Bände, und es kam zu dem erwähnten Symposium von Royaumont, in dem Montinari die Chance nutzte, anhand konkreter Beispiele die Notwendigkeit einer neuen, historisch-kritischen Gesamtausgabe zu erklären.[10] Ein wichtiges Hindernis, einen deutschen Verlag zu finden, hätte erwähnt werden sollen, nämlich dass sich ausgerechnet jenes Werk, welches sich inzwischen als Fälschung herausgestellt hatte – Der Wille zur Macht –, als gut verkäuflich darstellte.[11] Die Unterstützung seitens anerkannter deutschsprachiger Nietzsche-Interpreten für eine solche Neuausgabe blieb auch deshalb aus, weil Karl Schlechta in den untergründig politischen Auseinandersetzungen und Machtkämpfen der deutschen Geisteswissenschaften der Nachkriegszeit zwischen allen Stühlen saß.[12] Schließlich setzte sich der auf dem Symposium präsente Karl Löwith beim Verlag de Gruyter ein,[13] dessen Kooperation dann ein Jahr später, 1965, gesichert war.

Die biographischen Umstände, unter denen Montinari in Weimar an der Edition von Nietzsches Schriften arbeitete, werden nur oberflächlich skizziert, und die Darstellung enthält Falschinformationen, wie z. B. die, dass Sigrid Oloff, seine spätere Frau, die er in Weimar kennenlernte, eine Fotolaborantin gewesen sei (168). In Wirklichkeit war sie Bibliothekarin und Archivarin, die an seiner Arbeit von Anfang an Anteil nahm und ihn unterstützte.[14] Nach dem Umzug der Familie nach Florenz 1970 arbeitete sie ab 1978 in einem Verlagshaus und dann als Archivarin am Europäischen Hochschulinstitut. In der Florentiner Zeit, in der ich sie erlebte, waren beide Montinaris außerordentlich großzügige und sehr zugewandte Gastgeber. Sigrid Montinari hat nach dem Tod ihres Mannes dessen Nachlass vorbildlich betreut und die Weiterführung seiner Arbeit sowie sein Andenken nach Kräften gefördert.

Wer sich einen Eindruck verschaffen möchte, wie aus dem ersten Vorhaben, im Rahmen der „azione culturale“ Nietzsche zum Autor der Enciclopedia di autori classici zu machen, die „azione Nietzsche“ wurde, findet im Vergleich zum vorliegenden Buch mehr Halt in der dichten Überlieferung des Briefwechsels durch Giuliano Campioni in dessen Leggere Nietzsche.[15]

Skizzenhaft wird Montinaris Identifikation mit dem „Handwerklichen“ der Editionsarbeit durch ein paar Abbildungen seiner Skizzen und Notizen illustriert. Das Wissen über die Herstellung einer kritischen Edition sei „autodidaktisch“ angeeignet worden, was in merkwürdigem Kontrast steht zu Montinaris editorischem Sachverstand, den er nach elf Jahren editorischer Tätigkeit bereits zu Anfang besessen haben muss,[16] da er nach wenigen Wochen im Archiv einen ziemlich vollständigen Überblick über den Status der Handschriften hatte und sich auch in den schwer zu lesenden Nachlass der späten 1880er Jahre hineingefunden hatte. Dieser bot die entscheidenden Belege für die Notwendigkeit einer neuen, kritischen Ausgabe des gesamten Werks.

Zählt man 1961 als Start der Arbeiten an der Ausgabe, dann umfassten diese bis zum Tod Montinaris[17] genau 25 Jahre. Das Buch befasst sich aber ausführlich nur mit den ersten elf Jahren, d. h. mit der Zeit bis 1972. Schon aufgrund dieses zeitlichen Fokus kommen die zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an dieser Gesamtausgabe und die Art und Weise, wie Montinari mit ihnen zusammenarbeitete, hier kaum vor.[18] Auch dies ist ein Preis des Erzählmusters der dramatischen Reduktion auf wenige Hauptakteure, hier eben Colli und Montinari, die von ihrem beruflichen und wissenschaftlichen Netzwerk weitgehend isoliert betrachtet werden.

Durch die breiten Pinselstriche, mit denen ein Zeitbild nur schlagwortartig gemalt wird, erscheint das Netzwerk von Gesprächspartnern und Mitarbeitenden rund um Weimar wie in einem Nebel, in dem sich das Phantom „DDR“ aus „Mauer“ und „Wüste“ (so eine Kapitelüberschrift), einem Stasi-Spitzel und wenigen Gesprächspartnern, u. a. dem Leiter der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten, Helmut Holtzhauer, sowie dem Leiter des Goethe- und Schiller-Archivs, Karl-Heinz Hahn, gespensterhaft erhebt.

Die Behauptung, Montinari habe sich in seiner Weimarer Zeit nicht für Politik interessiert (z. B. 131), ist unbegründet. Wenn Montinari in seinen Briefen aus Weimar Politik nicht erwähnt, dann zeugt dies nur von der gebotenen Vorsicht gegenüber dem Überwachungsstaat der DDR, nicht von einer kompletten Abkehr von der Politik. Wer einen faschistischen Staat erlebt hat und danach die Überwachungsmethoden eines sozialistischen wie desjenigen in der DDR[19] erkennt oder zumindest erahnt, wird keinesfalls seinen Beobachtern schriftlich geben, was er von ihnen hält. Ein italienischer Kommunist, der sich in der DDR aufhielt, hatte im Übrigen auch allen Grund, sich vor westlichen Geheimdiensten zu hüten, es sei nur an Felschs eigene Vermutung ein paar Dutzend Seiten zuvor erinnert (93).

Nach Royaumont

Wie erläutert, hat das Kolloquium von Royaumont außer der kurzen Einleitungspassage im Buch kein eigenes Kapitel, obwohl es aufgrund der nachfolgenden Unterstützung Löwiths bei de Gruyter den Durchbruch für die Ausgabe brachte. Die Zeitspanne zwischen 1964 und 1969, in der sich die Beziehung mit dem Verlag und den Mitherausgebern konsolidierte, ist gerade aus der Perspektive der Beziehung zwischen Colli und Montinari auf der einen und den drei Verlagen auf der anderen Seite entscheidend. Montinari setzte seine Prinzipien gegenüber Colli,[20] dem Verlag und den deutschen Mitherausgebern durch und wurde auch zum eigenständigen Autor innerhalb des Unternehmens.[21] Die Diskussion Montinaris mit Verlag und Mitherausgebern wird bei Felsch berührt, aber zusätzlich zu den Briefen der Herausgeber wäre hier eine Betrachtung aus der Perspektive des Verlags oder der Verlage entscheidend. Um dem Unternehmen eine finanzielle Basis und akademische Durchschlagskraft zu verleihen, dachte Wenzel vom Beginn an eine Mitfinanzierung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.[22] Es hätte sich gelohnt, gerade Wenzels Initiativen genauer zu betrachten, so sein Projekt, sich auch die Briefausgabe zu sichern, das Herausgebergremium so aufzustellen, dass auch Fördergelder akquiriert werden konnten, schließlich sein Vorschlag, eine das Werden der Edition begleitende Zeitschrift zu gründen, was sich in den Nietzsche-Studien dann auch realisierte. Welchem Denkkollektiv gehörte Wenzel, als Wissenschaftler und als Verleger, an? Wie kamen wissenschaftliches und wirtschaftliches Selbstverständnis hier zusammen? Es nimmt Wunder, dass Felsch, als Autor eines Buchs über die Geschichte des Merve-Verlags, hier nicht nachgebohrt hat.[23] Es muss auch gefragt werden, ob das reichliche Archivmaterial, das Felsch konsultiert hat, nicht mehr über die Rolle von Gallimard hergegeben hätte. Dass die von Felsch mehrfach erwähnte leidenschaftliche Auseinandersetzung um Zweck und Umfang des kritischen Apparats zwischen den Herausgebern eine Rolle spielt, kann nicht bestritten werden.

Die Nietzsche-Rezeption hatte bereits vor Royaumont auf beiden Seiten des Rheins neue Fahrt aufgenommen. Deleuze hatte sich mit seinem Nietzsche-Buch die ersten akademischen „Sporen“ verdient.[24] Aufgrund des Prinzips Drama, nach dem dieses Buch komponiert ist, müssen Colli und Montinari aber bereits zu diesem Zeitpunkt in schwere Wasser geraten – Deleuze – oder vielmehr Derrida – ante portas! Aber der Tagungsband beginnt mit einer Vorbemerkung, die das bevorstehende Erscheinen der Gallimard-Ausgabe begrüßt. Auch in Deleuzes Abschlusskommentar deutet nichts darauf hin, dass die Herausgeber isoliert gewesen seien, sieht man einmal davon ab, dass auf der Tagung und somit auch in seinem Resümee Texthermeneutik und philosophische Ausdeutung thematisch dominierten.[25] Das Erscheinungsjahr des Tagungsbandes markiert auch den Beginn der französischen Werkausgabe. Deleuze und Foucault erkennen in ihrem Vorwort zur Ausgabe die große Bedeutung der Arbeit von Colli und Montinari und die Notwendigkeit einer philologisch fundierten Re-Lektüre von Werk und Nachlass in vollem Umfang an. Sie benutzen sogar die Beispiele aus dem Vortrag von Montinari in Royaumont.[26] Das ist das Gegenteil von Felschs Behauptung über Montinaris Vortrag: „Obwohl es kleine Auslassungen, Fehllektüren, Sinnverdrehungen sind, die er präsentiert, fühlt er sich zu weitreichenden Folgerungen berechtigt“ (162). Eine solche These lässt sich in keiner Weise nachvollziehen, wenn man die seitenlange Dokumentation der Verdrehungen, Verkürzungen, Auslassungen und Verstellungen vor sich hat, die im Kolloquium präsentiert wurden. Aus ihnen zieht Montinari den Schluss – und hierin folgen ihm Deleuze und Foucault in vollem Umfang und fast wortgleich –, dass nur durch die chronologische Einordnung der Fragmente und ihre Zuordnung zu den Werken, in die sie münden und die sich wiederum im weiteren Denk- und Schreibprozess fortsetzen, ein Neueinsatz der Nietzsche-Interpretationen möglich wird. Auch die von Felsch herausgelesene Forderung, „mit der Interpretation zu pausieren“ (162), findet sich in dem Text von Montinari nicht.[27]

Aufgrund des dramatischen Skripts, das dem Buch zugrunde liegt, sehen wir aber weiterhin zwei einsame Figuren, die nun zwar immerhin nicht mehr wie „Dilettanten“, aber doch wie Helden in der Brandung isoliert stehen in der kabbeligen See aus deutschen Traditionsphilosophen, die sich in Befürworter und Gegner der Schlechta-Ausgabe aufteilen, und den ersten Vertretern der französischen Posthistoire.

So spricht Felsch bezüglich der Zeit nach dem Erscheinen der ersten Bände von „erbittertem Widerstand“ und „schallenden Ohrfeigen“.[28] Um einen breiten Widerstand – auch in Deutschland und in Italien? – zu belegen, hätte es der Dokumentation von mehr Debattensträngen bedurft als nur des zweimaligen Austausches polemischer Leserbriefe in Le Monde (1967 und 1969). Aufgrund seiner Kuriosität soll der Austausch hier kurz referiert und präzisiert werden. In einer Leserzuschrift reagiert Jean Beaufret (in Royaumont anwesend)[29] auf ein in Le Monde abgedrucktes Interview mit Michel Foucault[30] als Verantwortlichem für die Herausgabe der Edition bei Gallimard: Die Zeitung habe einige, flankierend zum Interviewtext abgedruckte, ausgewählte posthume Fragmente als „unveröffentlicht“ bezeichnet, die zwar posthum, aber in der Großoktavausgabe schon veröffentlicht worden seien. Foucault antwortet und dankt knapp für diese „Präzisierung“: Er erklärt, die Stellen seien bewusst ausgewählt worden als Beispiele dafür, wie die Editoren der GOA den Nachlass entstellt und dabei die Fiktion des „posthumen Werks“ Wille zur Macht erzeugt hatten.[31] Felsch setzt Beaufrets Einwurf in unmittelbare Beziehung mit dem Wortlaut der Vorbemerkung der Herausgeber („note justificative“) zu den Fragmenten im zuerst erschienenen Band der Gallimard-Ausgabe (Die fröhliche Wissenschaft und dazugehörige Fragmente). Diese „note“ – auf die ich noch zu sprechen komme – liest er als Bestätigung der Kritik, denn es sei dort pauschal von „‚unveröffentlichten‘ (anstatt von ‚nachgelassenen‘) Fragmenten“ die Rede, was Felsch anscheinend extrem peinlich findet (181). Allerdings drehte sich der Austausch von Argumenten zwischen Beaufret und Foucault gar nicht um die editorische Vorbemerkung, sondern um die Textbeispiele aus der Zeitung.[32]

Als weiteren Beleg für den Widerstand gegen die Edition zitiert Felsch im Anschluss eine Äußerung Jean-Michel Palmiers von 1969, die Ausgabe würde das „Verständnis von Nietzsche nicht verändern“, selbst wenn einige bislang unveröffentlichte Fragmente hinzukämen (181).[33] Das Ende der Debatte müssen wir aber selbst in Le Monde nachlesen: Für Jean Beaufret, der auf Palmier antwortet,[34] geht diese Aussage zu weit. Er verteidigt nun die Colli-Montinari-Ausgabe, allerdings mit dem zweifelhaften Argument, sie würde die mit angeblich guten Absichten von Alfred Baeumler betriebene Editionstätigkeit fortsetzen. Colli setzt in einer kurzen Zuschrift einen Schlussstrich unter die Debatte, aus der ich die letzten Sätze zitiere:

D’autre part, nous n’avons pas présenté comme inédits ceux des écrits posthumes qui avaient déjà été publiés. Jean-Michel Palmier dit enfin que notre projet „est loin d’être aussi neuf qu’on l’a dit“. À quoi je répondrai que disputer de l’originalité d’un projet n’a pour moi aucun intérêt, mais qu’il s’agit bel et bien ici d’une réalisation. Notre édition est tout simplement la première édition scientifique de Nietzsche. Et cela, c’est quelque chose de nouveau.[35]

So klar es ist, dass die Akteur*innen der Nietzsche-Rezeption in Frankreich schon während des Kolloquiums von Royaumont (1964, publiziert 1967) ein breites Spektrum von teilweise inkompatiblen Positionen und Habitus darstellten, so wenig weist diese Zeitungsdebatte darauf hin, dass es vor allem die späteren Akteur*innen aus Cerisy-la-Salle waren, die sich gegen die Ausgabe sperrten. Felsch selbst klassifiziert Beaufret als Vertreter der französischen Heidegger-Adepten, wozu die „jungen Wilden“ in Cerisy-la-Salle, die Felsch dann im Kapitel Warten auf Foucault fast nur interessieren, trotz intensiver Heidegger-Rezeption auch in diesen Kreisen ja nicht zu zählen sind.

Il n’y a pas de rapport textuel[36]

Mit den Ausschnitten aus der Berichterstattung in Le Monde bereitet Felsch die Lesenden auf den aus seiner Sicht eigentlichen Eklat vor: die Konferenz „Nietzsche aujourd’hui“, 1972 in Cerisy-la-Salle. Einige Daten zur Vorgeschichte müssen hier nachgetragen werden: 1969 wurde das Centre Universitaire expérimentale de Vincennes (später Paris-VIII) gegründet, in dem zahlreiche bekannte linke Intellektuelle forschten und lehrten, unter ihnen eine große Zahl der Teilnehmenden der Konferenz von 1972. 1969 übersetzte und kommentierte Angèle Kremer-Marietti einen Teil des Bandes X der Kröner’schen Nietzsche-Edition, darunter die nachgelassene Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873), zusammen mit weiteren Entwürfen und Notaten aus Nietzsches Basler Zeit. Den Buchtitel Le livre du philosophe für diesen Übersetzungsband hatte Kremer-Marietti ebenfalls aus der Kröner-Ausgabe übernommen.[37] 1970 startete die Zeitschrift Poétique, Ort für die Ausarbeitung französischer postmoderner Literaturtheorie, Philosophie und Ästhetik. Den ersten Artikel schrieb Roland Barthes. Wohin die Reise gehen sollte, verkündeten weitere „Namen“: Hélène Cixous,[38] Philippe Lacoue-Labarte, Paul de Man, Jean Starobinski, Peter Szondi, Tzvetan Todorov.[39] Die kurze Einleitung der Herausgeber ruft zur Synthese von Theorie und Literaturkritik, literarischem und analytischem Schreiben auf. Der folgende Band von 1971 bringt als ersten Artikel die „Mythologie blanche“ von Derrida, weitere Texte von Todorov[40] und auch zwei Stücke Nietzsche-Philologie und -exegese: eine Textauswahl Nietzsches aus der Basler Zeit, die Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe unter dem Titel Rhetorique et langage dort übersetzen und veröffentlichen,[41] sowie Lacoue-Labarthes Aufsatz Le détour,[42] in dem er den Text von Ueber Wahrheit und Lüge in der Übersetzung von Kremer-Marietti in einen genetischen Zusammenhang mit Nietzsches Basler Überlegungen zur Rhetorik bringt. Ueber Wahrheit und Lüge war auch in Sarah Kofmans Aufsatz Nietzsche et la métaphore[43] zentral, genauso wie in Derridas erwähntem Essai zur Metaphernanalyse, der mit dem materialistisch-nominalistischen Münze-Wort-Vergleich von Anatole France einsetzt.[44] Derrida erwähnt die parallele Verwendung dieser Metaphorik in Ueber Wahrheit und Lüge und wendet dann die von ihm entwickelten Prinzipien der Textkritik an, um die Unterscheidung zwischen eigentlicher und metaphorischer Rede zu kassieren. Ueber Wahrheit und Lüge wurde also 1969, nicht 1971, und nicht von Lacoue-Labarthe und Nancy übersetzt, wie Felsch behauptet (185).[45] Der kurze Text und die Verbindung von Rhetorik und Erkenntniskritik spielten allerdings für die verschiedenen Ansätze der „Dissemination“ in der Debatte eine Rolle und bildeten einen Resonanzboden für einen theoretischen Neuanfang, der in Cerisy-la-Salle, aber eben nicht nur dort, seinen Ausdruck fand.

Foucault, der in Cerisy-La-Salle nicht vertreten war (aber das Kapitel mit der Jahreszahl heißt Warten auf Foucault), unternahm in seinem Essai Was ist ein Autor? 1969 den Versuch, einen unkritischen Werk- bzw. Autorbegriff zu unterminieren, und er polemisierte dabei gegen die „régime[s] de propriété“. Eines seiner Beispiele, an denen er seine kritischen Fragen zu den Begriffen von „Autor“ und „Werk“ aufwirft, ist die Ausgabe der Werke Nietzsches. Anhand der Frage, wo man die Grenze zwischen Gelegenheitsnotizen und nachgelassenen Fragmenten ziehen solle, problematisiert er den Begriff des „Werks“. Diese Frage, wo der Unterschied zwischen einem scheinbar unzusammenhängenden Fragment und einem Wäschezettel liegt,[46] taucht bei Foucault ungefähr zeitgleich mit seiner Beteiligung an der Nietzsche-Edition auf. Für die Interpretation dieser Bemerkung zieht nun Felsch aber nicht etwa die oben erwähnte Introduction générale zum ersten Band der Gallimard-Ausgabe hinzu, die Foucault zusammen mit Deleuze verfasst hatte, sondern aus demselben Band die kurze, dem Teil mit den posthumen Schriften vorangestellte editorische Vorbemerkung der Herausgeber, d. h. Collis und Montinaris. Folgender Ausschnitt aus dieser Vorbemerkung ist hier entscheidend: „Nous avons éliminé des projets et brouillons de lettres, des notes et des remarques d’ordre pratique ou fortuit, p. ex relatives à des questions pécuniaires – paiements, comptes – ou à des annonces, renseignements sur les prix, promenades, auberges, etc.“[47]

In der Tat sind die Beispiele, die Foucault nennt, hier sehr ähnlich, aber sie illustrieren vorrangig seine Erkenntnis- und Ontologiekritik: Der „Autor“ und das „Werk“ werden als Effekte des „Glaubens an die Grammatik“ und des „Glaubens ans Subjekt“ (in den bekannten Wendungen Nietzsches) reformuliert – Grundsatzfragen, die auch in den Diskussionen in Cerisy-la-Salle gestellt werden. Foucaults Infragestellung der „régimes de propriété“ als Indiz für seine „Entfremdung“ von der Ausgabe zu werten, ist doch sehr gewagt. Die Unterscheidung zwischen zuvor bereits veröffentlichtem und unveröffentlichtem Nachlass, wie sie Beaufret moniert hatte, spielt keine Rolle.

Felsch zitiert die Beiträge zum Kolloquium von 1972[48] nicht nach der zweibändigen Publikation, sondern nach einer 1975 in den Nietzsche-Studien erschienenen Zusammenfassung Maurice de Gandillacs[49] oder aber, sofern solche vorliegen, nach späteren Übersetzungen ins Deutsche. Von den insgesamt 26 Beiträgen werden nur wenige genannt. Neben Deleuze und Richard Roos wird nur Derrida länger referiert. Das muss erstaunen, da ja dieses Treffen zum Hauptzeugen für die ungnädige Aufnahme der neuen Edition in Frankreich gemacht wird. Roos, der energisch für eine „philologische Nietzsche-Lektüre“ plädierte, handelte sich in der Tat den Vorwurf des „Diskurspolizisten“ ein,[50] aber eine durchgängige Missachtung oder gar Ablehnung der Ausgabe müsste schon ein wenig dichter belegt werden. Durch das schlaglichtartige Erzählen werfen sich wieder einmal die bekannten Diadochen Derrida und Foucault die Stichworte gegenseitig zu. Wir bekommen zu sehen, was wir ohnehin schon kennen, nicht aber die Falten im Diskursgewebe des „Zeitschnitts“ 1972. Nietzsche-Lektüren als Quelle linker Theoriebildung drehten sich um viele Fragen, so der politischen Aktion, der Ontologie, der Semiologie (daher auch das Interesse für Nietzsches Rezeption der Rhetorik), des Aufruhrs, aber auch (wenn vielleicht am Rande) der Auseinandersetzung mit den fraglichen oder manifesten reaktionären Elementen seiner kulturpolitischen Einsätze. Ein gegen den Strich gelesener Nietzsche konnte so helfen, andere „Klassiker“ bzw. deren Texte ebenfalls gegen den Strich zu lesen.

Dass zwischen dem „Denkkollektiv“, das[51] in Cerisy-la-Salle auftrat, und der intellektuellen Atmosphäre, in der sich Colli und Montinari bewegten, deutliche Unterschiede herrschten, ist greifbar, allerdings hier auch wieder zeitlich unklar eingeordnet. Die Briefe Collis und Montinaris, mit denen diese These auf Seite 164 belegt werden soll, stammen aus den 1960er Jahren, die indirekten Zitate etwa aus Deleuzes Pensée nomade gehen auf Cerisy-la-Salle, d. h. 1972, zurück.[52] Von Deleuzes, um es vorsichtig zu sagen, extrem freien Umgang mit den Texten Nietzsches zur Aussage von Felsch:

Wenn nämlich alle Versuche, den authentischen Nietzsche zu rekonstruieren, hinfällig sind, dann ist nicht nur das Projekt einer historisch-kritischen Ausgabe zum Scheitern verurteilt – dann lässt sich nicht einmal mehr ein prinzipieller Einwand gegen die Art und Weise formulieren, wie seine Schwester mit seinem Erbe umgesprungen ist (164).

führt allenfalls ein Trampelpfad – und zwar einer von Missverständnissen: Erstens benötigt sogar Deleuze in der Pensée nomade immer noch eine Abfolge, einen Denkweg für sein neues Konzept der mit-denkenden Lektüre. Das nomadische Denken ist kein Selbstbedienungsladen. Nomaden sind auch keine Kängurus oder einsame Hüpfer. Zweitens zeigt sich hier deutlich, dass Felsch die philologisch-editorische Arbeit an der Textüberlieferung, des Ringens um einen zuverlässig lesbaren Text, per Kurzschluss mit dem Allgemeinbegriff „authentisch“ zusammenwirft, um den Herausgebern dann ein Festhalten an dieser Idee von Authentizität vorzuwerfen, der sie gar nicht anhängen.

In einem Absatz, der eigentlich die Diskussionen der 1960er Jahre um den editorischen Umgang mit dem Nachlass und v. a. den Quellen behandelt, bringt Felsch auch ein Zitat von Montinari, das aus den 1980er Jahren stammt und in dem er erläutert, welche Verwandlungen gelesene Quellen von den Lesespuren, zu den Spuren in den Fragmenten und den veröffentlichten Texten und über alle diese Stufen zurück durchmachen, wenn wir sie in diesem Prozess verfolgen: Nietzsches Lektüre „gehört somit in den Text, verweist aber gleichzeitig über den Text hinaus“ (177).[53] Die angeblichen Positionierungen der Herausgeber für einen „authentischen“ Nietzsche (Montinari), gegen einen überbordenden Apparat (Colli),[54] oder hier für die Annahme poröser Grenzen zwischen Autor, Lektüre und Text, bleiben unvermittelt nebeneinander stehen. Haben sich mit der fortschreitenden Arbeit an der Werkausgabe weitere Perspektiven ergeben? Oder hat Felsch hier übersehen, dass von einer materialistisch-historistischen Position aus, wie sie Montinari in Auseinandersetzung mit Cesare Cases und Delio Cantimori entwickelt hat, die Zitate inhaltlich zueinander passen, aber nicht zur Annahme, Montinari oder Colli hätten einen naiven Begriff von Authentizität gepflegt? Diese Fragen ließen sich nur mit einer genauen Lektüre der Äußerungen der Nietzsche-Herausgeber und deren zeitlicher Zuordnung beantworten.

Von Anführungszeichen, Missverständnissen und noch mehr Missverständnissen

Vor rund 50 Jahren hat „Nietzsches Regenschirm“[55] seinen Flug begonnen, nämlich in Derridas Beitrag La question du style im genannten Kolloquium von Cerisy-la-Salle. Die zurückgelegte Strecke ist erstaunlich, denn in dem 55-seitigen Text ist die Geschichte eigentlich nur eine stilistisch gut eingeführte Klimax, eben der erfolgreiche Abschluss der „Stilübung“. Den größeren Teil nimmt eine heute schwer zu lesende Re-/Dekonstruktion von Nietzsches misogynen und antifeministischen Aussagen ein, die sich per dekonstruierende Parodie in ihr Gegenteil verkehren und am Ende die Schlussfolgerung rechtfertigen: „[Il] n’y a pas une vérité de Nietzsche ou du texte de Nietzsche.“[56] Neben der Dekonstruktion von Heideggers Ontologie, wie Felsch es interpretiert, wird hier aber implizit eine Auseinandersetzung mit Lacan geführt.[57] Wie bereits ein Jahr zuvor, lässt Derrida eine Kluft zwischen „Wahrheit“ und „propre“[58] entstehen und praktiziert eine Engführung von Erkenntnis- und Kulturkritik. Nietzsches 1881 notierten und mit Anführungsstrichen versehenen Satz „„ich habe meinen Regenschirm vergessen““ (Nachlass 1881, 12[62], KSA 9.587) macht er schließlich zum Ausgangspunkt eines virtuosen „exercice de style“ frei nach Raymond Queneau, und er stellt die Frage: a) ob dieser Satz überhaupt etwas zu bedeuten hat, b) wenn ja, was, und c) ob immer dasselbe. Diese Frage verbindet er mit der neu zum Bewusstsein gekommenen Problematik des Status der (nachgelassenen) Texte eines Autors überhaupt und gibt die oben erwähnte „note justificative“ der Herausgeber in eigenen Worten wieder, die erläutert, welche Elemente des handschriftlichen Nachlasses als posthume Fragmente gedruckt werden sollen: „[Les éditeurs] qui déclarent n’avoir retenu, dans leur travail de sélection et de mise au point des manuscrits, que ceux qui communiquent avec ce qu’ils jugent être un travail ‚élaboré’ de Nietzsche.“[59]

Anschließend stellt Derrida die Frage, wie die Editoren herausbekommen wollten, welche der Fragmente / Manuskripte mit dem „travail ‚élaboré‘“ zusammenhingen und welche nicht. Eine solche Entscheidung könne nur willkürlich oder aber das Ergebnis eines „somnambulisme herméneutique“ sein. Wobei die Frage ist, welches der schlimmere Vorwurf hier ist, Somnambulismus oder Hermeneutik, oder ob beide auf dasselbe hinauslaufen. Derridas hyperbolische Spekulation, dass vielleicht das ganze Werk Nietzsches aus Elementen von der Art des zitierten Satzes bestehe, unterminierte allerdings auch seinen eigenen zuvor mühsam errungenen Deutungszusammenhang („il n’y a pas de verité“), so dass dieser zusammen mit dem Somnambulismuspostulat im gewollten Strudel der Parodie (und der différence-kreierenden Wiederholung) endete. Ungewollt ist aber wohl, dass Derridas Argumentation schon früher implodiert, dann nämlich, wenn man die „note justificative“ genau und im Original liest. Colli und Montinari schreiben: „Parmi les textes et les travaux préparatoires à tout ce qui, d’une façon générale, se retrouve sous une forme élaborée dans les ouvrages publiés par Nietzsche lui-même, n’ont été omis que ceux qui, par rapport à leur version ultérieure, n’en diffèrent que de façon purement formelle.“[60] Es sollen also nur diejenigen Fragmente vom Abdruck in den Nachlassbänden ausgeschlossen werden, die einen besonders engen textlichen Bezug zu den abgeschlossenen Schriften haben, indem sie z. B. fast wortgleich sind, und es ist hier vor allem an Vorstufen und Varianten gedacht.[61]

Die zweite Frage, die Foucault gestellt hatte, liegt erst einmal auf einer anderen Ebene, nämlich mit welcher Rechtfertigung Gelegenheitsnotizen (wie Wäschelisten oder Briefentwürfe) nicht an der Stelle abgedruckt würden, wo sie niedergeschrieben wurden.[62] Während Derrida den Herausgebern in seiner missverstehenden Textlektüre eine möglicherweise zu enge Auffassung des Werkbezugs unterstellt – wobei dann dem Regenschirm-Fragment sozusagen ein Ausbruch aus dem herausgeberischen Definitionsgefängnis gelungen wäre –, stellt Foucault wie erläutert die Frage nach dem „propre“, der Originalität von Autor und Werk sowie der Grenzen des Textes.

Für die Derrida-Spielerei, die sich also am Ende als ungenaues Lesen herausstellt, bemitleidet Felsch die Herausgeber,[63] da sie ja anscheinend ihre editorischen Prinzipien nur mit einer Serie von sprachlichen Lapsus erläutern könnten. In seiner Zusammenfassung des Arguments von Derrida fügt Felsch dieser Serie von fehlerhaften Lektüren ein weiteres, eigenes Element hinzu, indem er zusammenfassend – auf dieselbe Stelle der „note justificative“ bezogen – von „der Erklärung der Herausgeber, nur Nietzsches ‚eigene‘ Texte berücksichtigt zu haben“,[64] spricht. Wie oben erläutert, geht es aber Colli und Montinari um die Definition derjenigen nachgelassenen Fragmente, die als Vorstufen oder Varianten in der Ausgabe weder unter den gedruckten bzw. nachgelassenen Schriften noch als Nachlass erscheinen, sondern im kritischen Apparat dokumentiert werden.[65]

Das Regenschirm-Fragment wurde zuletzt noch einmal mit der Hilfe von Felsch auf Flughöhe gebracht und wieder von der unvermeidlichen, reproduzierten Seite aus dem Notizbuch flankiert, in einer Januarausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Wir Wissenschaftshistoriker*innen wissen nur allzu gut: Bilder schaffen Evidenz. Dabei hat es sich längst ausgeflogen. Die Herausgeber haben durchaus gezweifelt, ob das Fragment 12[62] eine Gelegenheitsnotiz oder ein ihren Editionsprinzipien entsprechendes posthumes Fragment darstellt. Sie entschieden sich für die Behandlung als Fragment, weil es in Anführungsstrichen stand. Und sie haben mit diesem Entschluss Recht behalten.[66] Dies ist seit 2016 bekannt. Das Zitat stammt aus Grandvilles satirischem Roman Un autre monde (1844) in der Übersetzung von Oskar Ludwig Bernhard Wolff (1847), wie dem Nietzsche-Kommentar von Andreas Urs Sommer zu entnehmen ist.[67] Ein Beispiel dafür, dass die geduldige Kleinarbeit am Kommentar vielleicht den einen oder anderen Regenschirmflug stoppt, dafür aber neue Mitfluggelegenheiten für Stifte, Federn und Metaphysikkritiken bietet, hier für Figuren aus der genannten Satire. Nietzsche hatte diese 1881 oder vielleicht auch früher gelesen. In einer Art „Prolog im Himmel“ streiten sich die Feder und der (Zeichen-)Stift, wer für die entstehende Geschichte die dominante Rolle spielen soll. Da die Existenz der Feder bereits durch die Reklame in Frage gestellt sei, muss sie sich dem Herrschaftsanspruch des Stiftes vorläufig unterordnen. In zeichnerisch-textlicher Kooperation kreieren die beiden Quasi-Subjekte drei „Neo-Götter“, die unter Heranziehung aller erdenklichen Formen von mythologischem Synkretismus eine „Neo-Welt“ erschaffen und diese erkunden, wobei einer von ihnen so gründlich nassgeregnet wird, dass er seinen Regenschirm vermisst,[68] was man auch als Strafe für den metaphysischen „Synkretismus“[69] lesen kann, dem die „Neo-Götter“, aber auch die von ihnen erschaffenen Weltbürger*innen, frönen. Die aufgefundene Quelle zeigt, dass erst das Zirkulieren von Texten, Zitaten, Bezügen zwischen den verschiedenen Textstufen, vermittelt durch die Kommunikation und Vernetzung der Leser*innen klassischer und abwegiger Texte, solche Zuordnungen erlaubt. Der „Ernst im Spiel“ mit Texten und Textstellen braucht Leser*innen von Profession und solche von Gelegenheit. Denn: Was wäre aus Derridas Aufsatz geworden, wenn die Herausgeber die Anführungszeichen für bedeutungslos erklärt und dieses Notat den Pack- und Einkaufslisten gleichgesetzt hätten?

Nietzsches Bibliothek und Lektüren

Unerwähnt bleibt im Buch das große Projekt „Nietzsches Bibliothek und Lektüren“,[70] das ab 1983 vom Ministero di Pubblica Istruzione finanziert wurde. Als Frucht seiner akademischen Lehre und mithilfe anlaufender zusätzlicher Förderungen konnte Montinari viele junge Mitarbeiter*innen hinzugewinnen. In Montinaris Berliner Zeit kamen Akademiker*innen zu dem Kreis dazu sowie Beiträge für die Nietzsche-Studien, Publikationen aus mehreren von ihm veranstalteten Kolloquien und stabile, langjährige Kooperationen. Den Horizont dieses Projekts bildete die Idee einer Geschichte der europäischen Kultur[71] im späten 19. Jahrhundert. Der Reichtum der überlieferten Dokumente von und zu Nietzsche (veröffentlichtes Werk, Nachlass, Brief, nachgelassene Bibliothek) bot die Basis dafür, diesen Autor nicht als Solitär, sondern als Teil eines kulturellen Netzwerks zu verstehen. Auch wenn damit die methodologischen Fragen nach dem Verständnis von Begriffen wie „Autor“ und „Werk“ unbeantwortet bleiben mögen, haben wir es nicht mit dem Konzept eines vereinzelten und in einer Werkausgabe festgefrorenen Autors zu tun.

Ich hatte das Glück, Montinari in zwei späten Jahren seines Schaffens beobachten zu können und mich an Zuarbeiten für die Erstellung der Kommentare zu beteiligen,[72] in einer Zeit, in der sein Aufsatz Nietzsche in Cosmopolis erschien und aus dem Kreis der Forschenden um „Nietzsches ideale Bibliothek“ bereits Wesentliches zu Nietzsches Zeitgenossen erschienen war.[73] Dass Montinari keine größere, umfassende Nietzsche-Interpretation veröffentlicht hat, mag an seinem viel zu frühen Tod liegen, der vielleicht dadurch mitbedingt war, dass der größte Teil der editorischen Arbeit, zum Teil unter schwierigen finanziellen Rahmenbedingungen, auf seinen Schultern lastete.[74] Zum anderen hatte seine Zurückhaltung gegenüber der Geste einer eigenen, umfassenden Werkinterpretation einen Grund in der Sache, in der Art und Weise, wie er selbst an Nietzsche heranging. Seine konzisen Essays zu einzelnen, aber zentralen Fragen der Werkinterpretation berühren indirekt methodische Fragen wie die nach dem Zusammenhang von philologischer und philosophischer Lektüre; sie sind beispielhafte Werkstücke, an denen vermittelt wird, wie weit und wohin abseits ausgetretener Pfade man kommt, wenn man die Texte, ihre Vorstufen und ihren historischen und gedanklichen Zusammenhang genau und vorurteilslos analysiert.

Genaues Hinsehen auf Texte kann schulen für einen nüchternen Blick auf die eigenen Werte und Vorurteile beim Lesen, aber auch beim Blick auf die eigene Gegenwart – und deshalb war der Habitus des Gelehrten, für den Montinari steht, in meiner Erinnerung eng mit seiner Haltung verbunden. Viele der physiologischen und literarischen Autoren aus Frankreich, die Nietzsche las, z. B. Paul Bourget und Charles Féré, oder die Brüder Goncourt, waren, so eine häufige mündliche Äußerung von ihm, „tranquillamente reazionari“, „in aller Seelenruhe Reaktionäre“, aber sie waren nicht Nietzsche, nur weil dieser sie exzerpierte,[75] und sie gehörten auch nicht zu jener reaktionären, menschenfressenden Moderne, aus deren Zeug die deutschen und italienischen Faschisten gestrickt waren.[76] Als Konsequenz bleibt die Aufgabe – und hier ist Nietzsche nur ein beispielhafter Fall aus der Geschichte der europäischen Kultur –, im Nachvollzug des veröffentlichten und nachgelassenen Materials in letzterem kein „Gewimmel“ zu sehen, sondern „un immenso laboratorio sperimentale, aperto. In cui Nietzsche inizia spesso strade che poi non percorre fino in fondo.“[77]

Editionen und Werkausgaben

Der insgesamt kurze Abschnitt im Buch über das Nachleben der Ausgabe lässt es für Lesende, die nicht schon mit den grundsätzlichen Sachverhalten des aktuellen „état des textes de Nietzsche“ vertraut sind, so aussehen, als habe sich Nietzsches Nachlass in einem unübersichtlichen Gewimmel verloren. Das bezieht sich auf die KGW IX,[78] die unter Änderung der Editionsstrategie eine diplomatische Wiedergabe der Fragmente versucht, was Felschs letzter Informationsstand zu sein scheint. Die Herausgeber versuchen, durch die transkribierte Wiedergabe des Schriftbildes den Prozess des Schreibens über mehrere Zeitschichten hinweg nachvollziehbar zu machen.[79] Entziffern und Datieren gehörten damit weiterhin zum editorischen Alltag. Rechtfertigungen und Gegenargumente bezüglich der einen oder anderen Form der Wiedergabe lassen sich finden, entscheidend ist im hier vorliegenden Fall der Geschichte der kritischen Nietzsche-Editionen, dass personelle Kontinuitäten und Diskontinuitäten[80] zusammen mit komplizierter werdenden Finanzierungsstrukturen und neuen technischen Möglichkeiten ein Spektrum von Projekten hervorgebracht haben, welche die Texte Nietzsches und das Verständnis ihrer Genese einem breiteren Leserkreis zugänglich gemacht haben. Ob Zeitungsrezensenten eine Werkausgabe noch von einem Vulkan unterscheiden können (217) oder nicht, ist kein Erfolgskriterium und erst recht kein Gegenargument. Mit neuen Konzepten und neuen technischen Möglichkeiten arbeitende Ausgaben oder Teilausgaben sind fast notwendig auch ihre eigenen Piloten; der Forschungsgegenstand und das Forschungsinstrument verwickeln sich, aber das ist uns Wissenschaftshistoriker*innen doch schon früher einmal aufgefallen, oder? Die Fortsetzung der Arbeit an den Kommentarbänden, finanziert von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften,[81] wird von Felsch nicht erwähnt, ebenso hätte unbedingt der nächste Schritt der Herausgabe genannt werden müssen, nämlich die digitale Werkausgabe der Forschungswebsite Nietzsche Source. Diese ab 2009 publizierte digitale Ausgabe der KGW und KGB ist die Digitale Kritische Gesamtausgabe Werke und Briefe (eKGWB). Mit dieser konnten wichtige Grundgedanken Collis und Montinaris in der Anlage sogar besser verwirklicht werden, da hier die gedruckte Edition auf Grenzen gestoßen war.[82] Die in der KGW und der KGB erstellten Texte wurden unter Hinzuziehung aller bekanntgewordenen Errata und Kommentarstellen so wiedergegeben, dass sie die KGW, KGB und KSA ersetzen kann, abgesehen von den Kommentaren.[83] Die eKGWB erlaubt eine Suche über das gesamte Material und zusätzlich die zeitliche Zuordnung und die Information über den Status der aufgefundenen Textstellen (Schriften, posthume Fragmente, Briefe). Die digitalisierten Texte der KGB und KGW können fortlaufend korrigiert werden, wenn weitere Lesefehler auffallen, und die Darstellung erlaubt auch das Auffinden von Textstellen in den gedruckten Ausgaben. Mit der zweiten von Nietzsche Source veröffentlichten Ausgabe, der Digitalen Faksimile-Gesamtausgabe (DFGA),[84] ist das handschriftliche Archiv selbst allgemein zugänglich und liegt offen: Eine Zeitleiste ermöglicht zu erfassen, wann welche Notizbücher, Mappen usw. von Nietzsche bearbeitet wurden, und die DFGA bietet eine Beschreibung der Manuskripte und gibt die Handschriften digitalisiert komplett wieder. Die beiden Editionen kommunizieren über ein Konkordanzsystem, das derzeit für alle Manuskripte im Aufbau ist und das es ermöglicht, für jede in der DFGA publizierte Nietzsche-Manuskriptseite die entsprechenden in der eKGWB publizierten Transkriptionen anzuzeigen.[85] Im Jahr 2022 wurde Nietzsche Source von etwa 45.000 Leser*innen aus der ganzen Welt genutzt, mit mehr als einer Million aufgerufener Seiten: Die Colli-Montinari-Ausgabe im Internet ist also lebendiger denn je und ein tägliches Arbeitsinstrument für die Gemeinschaft der Nietzsche-Spezialist*innen.

Diese Arbeit im Werden, verstanden als enge Verflechtung zwischen Nietzsches Schreiben im zeitlichen Verlauf sowohl der intra- als auch der intertextuellen Bezüge und der eigenen „Arbeit an den Quellen“ (Campioni), ist nach Montinaris Tod in verschiedenen Konstellationen weitergegangen. Neben den editorischen Arbeiten darf die Veröffentlichung des Katalogs von Nietzsches Bibliothek und die Übertragung ins Digitale von Nietzsches idealer Bibliothek nicht vergessen werden.[86] Felsch erwähnt weder Nietzsche Source[87] noch die Arbeiten an der Bibliothek.[88] Außer für flüchtige Leser*innen verliert sich das „eigentliche“ Werk mit der „Digitalisierung“ umso weniger im Chaos. Das Projekt wurde und wird von mehreren nationalen und internationalen Förderinstitutionen unterstützt.[89]

Wenn zukünftige Herausgeber von Nietzsches Werken eine Beschränkung auf die gedruckten oder zum Druck vorbereiteten Werke Nietzsches damit rechtfertigen, dass hier ein Autor bzw. sein Werk auf sein „Proprium“ zurückgeführt werde und gar die „Rückkehr des Autors“ proklamieren, dann haben wir es hier mit Synkretismus zu tun, mit einem „in aller Seelenruhe“ vorgetragenen methodisch reaktionären Standpunkt, der dem selektiv lesenden Synkretismus der Interpretation, den bereits Montinari beklagte, kaum etwas wird entgegensetzen können.

Von der „wirklichen Wirklichkeit“[90]

Es dürfte deutlich geworden sein, dass sich Montinaris Nietzsche-Forschungen und die von ihm angeregten Untersuchungen keinesfalls auf eine unkritische, nur an den „Tatsachen“ des Gesagten orientierte Überlieferung beschränkte. Der „tüchtige Schuster, der gute Schuhe macht“,[91] arbeitete in einer Werkstatt. Den Vergleich mit dieser („officina“ im Italienischen) habe ich von ihm selbst gehört, während ich das Privileg genoss, zusammen mit anderen jungen Forschenden im großen Esszimmer der Familie zu arbeiten, mich nach Wunsch in seinem nebenan gelegenen Arbeitszimmer in der Forschungsliteratur und in Nietzsches in Kopie vorliegenden Quellen umsehen konnte, und er uns mit dem von ihm initiierten und immer weiter wachsenden Forschungsnetzwerk vertraut machte. Die praktische Tätigkeit eines Gramsci’schen Intellektuellen, nicht etwa die eines sozusagen von der Moderne zurückgelassenen einsamen Handwerkers, war das Leitbild.

Gerade weil ein formal nicht geschlossenes, teils aphoristisches, ein inhaltlich nicht zum Ende kommendes Werk zur synkretistischen Lektüre einlädt, ist es notwendig, dem Fluss der Gedanken Nietzsches durch die Chronologie ihres Entstehens und ihrer wechselseitigen Verflechtung hindurchzufolgen. Wenn es doch ein Fazit gibt, dann vielleicht dieses von Montinari in seinem Buch über Nietzsche: „Nietzsche non è creatore, bensì distruttore di miti.“[92]

Wie man nun liest – dekonstruktiv, close, werkimmanent, historisch, kulturhistorisch, diskurstheoretisch – es kommt des Öfteren vor, dass man sich verliest. Der Unterschied zwischen diesem verzeihlichen Vorgang und dem Vertrauen auf das „on dit“ oder den ersten Anschein ist allerdings erheblich. Und ich möchte ihn in Bezug auf eine weitere Interpretation Montinaris durch Felsch deutlich machen. Auf Seite 139 lesen wir: „Am deutlichsten hat Montinari sein Selbstverständnis als Herausgeber einige Jahre später formuliert: Che cosa ha veramente detto Nietzsche – ‚Was Nietzsche wirklich gesagt hat‘ – lautet der Titel seiner einzigen Nietzsche-Monografie.“[93] Felsch verwechselt Buch- und Reihentitel. Che Cosa hanno veramente detto … ist der Reihentitel, der allerdings zusätzlich in den Buchtitel integriert ist. In dieser von Ubaldini publizierten populären Reihe wurden u. a. zahlreiche bedeutende wissenschaftliche, literarische und philosophische Autoren porträtiert. Insgesamt hatte die Reihe bereits ca. 55 Bände, als Montinaris Beitrag erschien. Auf dem Cover erscheinen der Name des Porträtierten und das Wort „veramente“ in einer anderen Farbe. Auf dem Reihentitel selbst (auf der Buchrückseite) ist das Wort „veramente“ in Anführungszeichen geschrieben, und so erscheint die Reihe auch in den meisten digitalen überregionalen Bibliothekskatalogen. Ich kann mich daran erinnern, mit Montinari über die Problematik dieses Wortes (in Wahrheit, wirklich) in Bezug auf diesen Buchtitel diskutiert zu haben, und er erwiderte, dass auch er darüber nicht sehr glücklich sei, aber die Gelegenheit, einige Prinzipien des Verständnisses von Nietzsche einem breiten Publikum vermitteln zu können, als vorrangig betrachtete.[94]

Dass das Buch nicht sein „letztes Wort“ sein sollte, geht aus der Widmung eines Exemplars an Sigrid Montinari hervor:

A Sigrid, con la promessa di un libro „vero“ questo tentativo nato a Weimar.

Mazzino

Natale 1975[95]

Abb. 1: Widmung von Mazzino Montinari an Sigrid Oloff Montinari. Buch aus der privaten Bibliothek der Familie Montinari
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Widmung von Mazzino Montinari an Sigrid Oloff Montinari. Buch aus der privaten Bibliothek der Familie Montinari

Abb. 2: Titelblatt und Titelrückseite von Montinaris Che cosa ha veramente detto Nietzsche. Buch aus der privaten Bibliothek der Familie Montinari
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Titelblatt und Titelrückseite von Montinaris Che cosa ha veramente detto Nietzsche. Buch aus der privaten Bibliothek der Familie Montinari

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Published Online: 2023-04-05
Published in Print: 2023-10-27

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