In kaum einer historischen Schilderung der „Goldenen Zwanziger Jahre“ fehlt der Verweis auf den allgegenwärtigen Konsum von Rauschmitteln. Drogen stellen ein starkes Symbol dar, in dem sich populäre Narrative über die Weimarer Zeit wie in einem Brennglas bündeln. Ganz gleich ob es sich um den oft bemühten „Tanz auf dem Vulkan“, die großstädtische Atmosphäre moralischer und sexueller Grenzüberschreitungen oder die künstlerische Kreativität genialer und selbstzerstörerischer Persönlichkeiten wie Anita Berber oder Hans Fallada handelt – in all diesen Bildern tauchen die Anspielungen auf Kokain- und Morphiumkonsum ganz selbstverständlich auf und werden in Filmen, Reportagen und Romanen immer weiter tradiert.

Kritische Studien, die nahelegen dass der Konsum von Kokain und Morphium in der Weimarer Republik eher ein soziales Randphänomen darstellte, konnten der Strahlkraft dieses Mythos bislang wenig anhaben. Unter Historikerinnen und Historikern fand lange Zeit keine Diskussion über die höchst unterschiedlichen Darstellungen zur damaligen Verbreitung von Rauschmitteln statt (Hoffmann 2012: 14–16). Da der Konsum von Drogen und seine sozialen Begleitumstände noch immer keinen etablierten Gegenstand der Geschichtswissenschaften darstellt, kann das fantastisch anmutende Szenario einer Gesellschaft, die „in bewusstseinsverändernden und rauscherzeugenden Substanzen […] badete“ (Ohler 2015: 27) stets aufs Neue belebt werden.

Eine methodisch-kritische Auseinandersetzung mit den damaligen Diskursen über psychoaktive Substanzen und Sucht unterbleibt in vielen Darstellungen meist ebenso, wie deren Einbettung in den entsprechenden medizin- und sozialhistorischen Kontext. Die bloße Wiedergabe zeitgenössischer Stimmen, die eine enorme Verbreitung des Kokain- und Morphiumkonsums suggerierten, birgt aber die Gefahr, heutige Problemwahrnehmungen über Drogen auf die Vergangenheit zu projizieren. Aus dieser Perspektive erscheint das Phänomen Sucht als ahistorisches Objekt, das nur mit naturwissenschaftlichen Methoden entdeckt werden musste, um schließlich zum Gegenstand medizinischer und sozialer Behandlungs- und Präventionsstrategien zu werden. Dabei gerät jedoch in Vergessenheit, dass im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Medizinerkreisen kein Einvernehmen darüber herrschte, welche sichtbaren und unsichtbaren Symptome das Krankheitsbild einer Sucht auszeichneten. In weitgehender Unkenntnis der bei der Suchtentstehung im Organismus ablaufenden somatischen und psychischen Prozesse konnten Ärzte diese Kriterien auch nicht zu Diagnosezwecken heranziehen. Der Einfluss sozial, kulturell und moralisch fundierter Werturteile auf die Konstruktion und Stellung der Diagnose Sucht ist daher äußerst hoch zu veranschlagen und darf in der historischen Drogen- und Suchtforschung nicht vernachlässigt werden (Spode 1993: 142–144). Die Historie des Suchtkonzepts ist somit immer auch eine „Geschichte dessen, was in der Medizin als normal galt“ (Wiesemann 2000: 9).

Die folgende Analyse der medizinischen Kokainismusdiskurse im Kaiserreich und der Weimarer Republik zielt darauf ab, jene sozialen, moralischen und kulturellen Implikationen und Zuschreibungen offenzulegen, die im psychiatrischen Konstrukt des Kokainismus bzw. des Kokainisten eingebettet waren und auf ein spezifisches Menschen- und Gesellschaftsbild verweisen. Indem diese Deutungen mit den damals verfügbaren Erkenntnissen über die Verbreitung des Kokainkonsums in Bezug gesetzt werden, ergeben sich neue Perspektiven auf das Ausmaß der sogenannten „Kokainwelle“ der 1920er Jahre. Sucht wird deshalb im Folgenden nicht als biologische Entität hingenommen, sondern als „Produkt interpersoneller Kommunikation“, „soziokultureller Entwicklungen“ und „Resultat gesellschaftlicher Machtstrukturen“ begriffen (Dollinger & Schmidt-Semisch 2007: 8). Keine Rolle für die folgende Darstellung spielen hingegen internationale Kontrollbestrebungen, wie sie etwa in den Opiumabkommen von 1912 und 1925 zum Ausdruck kamen, da sie vor allem auf die Regulierung von Handel und Produktion abzielten und keine Rückschlüsse auf die Verbreitung des Drogenkonsums zulassen (Hoffmann 2012: 229; Briesen 2005: 14). Die Geschichte der medizinischen Verwendung des Kokains, zu der bereits zahlreiche Untersuchungen vorliegen (Fischer 2014: 254), wird nur in Bezug auf die für die Genese der Kokainsucht relevanten Faktoren behandelt.

Der Forschungsstand – Widersprüche und Kontroversen

Dass der Handel und der Konsum von Kokain und Morphium nicht nur in populärhistorischen Darstellungen immer wieder zur atmosphärischen Beschreibung der Vergnügungskultur der Weimarer Republik herangezogen wird, kann insofern nicht überraschen, da dieses Motiv direkt an die Wahrnehmung der Zeitgenossen anknüpft. Damals wie heute postulieren viele Autoren eine unauflösliche Verbindung zwischen Rauschmitteln und den devianten Milieus der Halbwelt und Bohème und damit auch zu Verbrechen, Prostitution und Homosexualität (Hoffmann 2012: 11–15).

Diese Assoziationen und vor allem das Motiv der „Drogenwelle“ werden in verschiedenen Variationen immer wieder verwendet, ohne das klar wird, welche konkreten Inhalte die an Naturgewalten erinnernde Semantik dieses Begriffs eigentlich transportieren soll. Zu lesen ist etwa von einer „Morphin- und Kokainwelle nach dem Ersten Weltkrieg“ (Geiger 1975), einer von der Vorkriegszeit bis in die Zwanziger Jahre reichenden „Welle von Kokainmißbrauch“ (Strasser & Schweer 1994: 93–94), einer „Morphinsuchtwelle“ (de Ridder 2000: 24), einer „gewaltige[n] Kokainwelle“ die in den 1920er Jahren „Europa überschwemmt“ (Hirschmüller 2013: 37) oder sogar drei „Cocain-Welle[n]“ zwischen der Jahrhundertwende und den 1920er Jahren (Geschwinde 2007: 446). Auch Tilmann Holzer (2007: 111) und Detlef Briesen (2005: 73) bekräftigen die Existenz einer „Drogenwelle“ in Deutschland. Briesen räumt jedoch ein, dass die erhöhte Sensibilität von medizinischer und juristischer Seite im Verbund mit der stärkeren Verfolgung des Konsums vermehrt abweichendes Verhalten produzierte.

Demgegenüber stehen wenige Autoren, die von einer eher geringfügigen Ausbreitung des Rauschmittelkonsums in der Weimarer Republik ausgehen. Zu ihnen gehört Annika Hoffmann, deren quellenkritische Studie zur Etablierung des Drogenproblems im 19. und frühen 20. Jahrhundert die bislang wohl detaillierteste Untersuchung zu dieser Problematik darstellt. Mithilfe ihres sozialwissenschaftlichen Analyserahmens wies sie nach, wie die von Medizinern kolportierten Berichte über die infektiöse Ausbreitung der „Rauschgiftsuchten“ in einer Art, „medialem Verstärkerkreislauf“ von der Tagespresse aufgegriffen und verbreitet wurden und auf diesem Weg auch die Sichtweise der Gesundheitsbehörden prägten. Indem sich die Experten aus verschiedenen Fachbereichen gegenseitig zitierten und in ihren Ansichten bestätigten, verfestigte sich die Problemwahrnehmung der Akteure zusehends, ohne das valide Erkenntnisse über die tatsächliche Verbreitung des Konsums von Morphium und Kokain vorlagen (Hoffmann 2012: 113–120).

Eine ähnlich relativierende Einschätzung nahm Jan Haverkamp vor, der, ausgehend von vier ausgewählten medizinischen Publikationen aus den 1920er und 1930er Jahren, bemerkte, die „häufig vermutete starke Verbreitung von Kokain lässt sich nach 1925 nicht bestätigen“ (Haverkamp 2012: 42). Dieser Schlussfolgerung ließen sich aber unschwer zahlreiche zeitgenössische Artikel entgegenhalten, deren Autoren im Kokainismus eine reale Bedrohung für die „Volksgesundheit“ erblickten.

In einem der aktuellsten Beiträge zu diesem Diskurs sieht Stefan Wulff den Begriff der „Drogenwelle“ durch Hoffmanns Studie zwar „massiv infrage gestellt“, bemängelt jedoch eine etwas zu einseitige Reduktion auf einen „Wahrnehmungswandel beziehungsweise Problematisierungsprozess“, die eine „bedeutsame Zunahme des Konsums von Rauschmitteln“ gleichsam negiere. Dem hält er den Anstieg der Aufnahmen drogenabhängiger Patienten in der von ihm untersuchten Hamburger Staatskrankenanstalt Friedrichsberg entgegen, die auf „gewisse Veränderungen auf der Ebene des Rauschmittelkonsums“ hindeuteten, die „im lokalen Maßstab und im Binnenraum der psychiatrischen Anstalt“ durchaus Bedenken und Beunruhigung auslösen konnten (Wulff 2016: 186–187).

Die Existenz einer „Morphium- und Kokainwelle“ bleibt in der Forschungsliteratur also ebenso umstritten wie die Motive jener Mediziner, die den Begriff prägten und popularisierten.

Die moralische Ambivalenz der Suchtkrankheit

Um die Plausibilität dieses Wellennarrativs zu hinterfragen, gilt es nicht nur medizinische Statistiken und Wissensbestände über die Entwicklung des Drogenkonsums zu untersuchen. Ebenso bedeutsam ist die Frage, welche Befürchtungen Ärzte und Öffentlichkeit eigentlich konkret mit dem Konsum von Kokain verbanden, immerhin einem Medikament, das in der Weimarer Republik in Apotheken erhältlich war. Das dem Kokainismus zugewiesene Bedrohungspotenzial wurzelte zunächst in der physiologisch-moralischen Ambivalenz, die allen Suchtkrankheiten innewohnte. In ihrer Grundstruktur gehen alle Süchte auf das Krankheitsbild des Alkoholismus zurück, das sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in der Medizin etablierte. Die Idee eines vom individuellen Willen abgekoppelten zwanghaften Konsums untermauerte den Kompetenzanspruch der Mediziner auf die Heilung der Trinker und deutete sie konsequent als behandlungsbedürftige Kranke. Tatsächlich setzte sich dieses Pathologisierungsnarrativ aber nie vollständig durch.

In der öffentlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung verortete man Suchtverhalten vorrangig in einer Grauzone zwischen Krankheit und Laster (Spode 1993: 130). Der Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft begünstigte diese Deutung. Die Hingabe an Rausch und Genuss widersprach dem bürgerlichen Ideal einer rationalen Lebensführung, die Triebverzicht, Selbstbeherrschung, Leistungsbereitschaft und Pflichterfüllung zu den Kardinaltugenden des Menschen zählte. Die ursprünglich religiöse Kritik an der illegitimen Ekstase des Rausches, das moralische Schreckbild der Sucht, die die bürgerliche Ordnung und die Werte der Aufklärung bedrohte – all diese Motive verschwanden nicht plötzlich, sondern tauchten in vielfältiger Form im Gewand der medizinischen Theorien wieder auf (Becker 1981: 123; Nolte 2007: 53–54; Kloppe 2004: 15). So schwang sich die Medizin im 19. Jahrhundert dazu auf, „in der Lebensführung der Menschen […] eine normative Rolle“ zu übernehmen, „die sie nicht bloß zur Erteilung von Ratschlägen für ein vernünftiges Leben befugt[e], sondern sie zur Lehrmeisterin für die physischen und moralischen Beziehungen zwischen dem Individuum und seiner Gesellschaft macht[e]“ (Foucault 1991: 52).

Zudem blieb das Ideal einer Krankheitseinheit, im Sinne einer konsistenten Verbindung von Ätiologie, spezifischem Krankheitsbild und exakt darauf ausgerichteter Therapie, für Suchtkrankheiten ein unerfüllter Traum der Medizin (Wiesemann 2000: 60–62). Die Ursachen der Sucht, die wahlweise in der chemischen Struktur der Substanzen, in Umwelteinflüssen oder den Erbanlagen erblickt wurden, blieben ebenso umstritten wie ihre Symptomatologie. Diese Ungewissheit begünstigte das Fortbestehen moralisch aufgeladener Deutungen, die die Sucht als Laster oder als „Entwicklungskrankheit der Moderne“ betrachteten (Spode 1993: 135–144).

Die Durchsetzung der Degenerations- und Psychopathiekonzepte gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlieh Suchtkrankheiten zudem den Charakter eines biologischen Stigmas. Ungeachtet der Vielzahl psychiatrischer Theorien und Schulen etablierte sich nun eine Sichtweise, die Suchtverhalten als konstitutionellen Defekt, als Mangelerscheinung im Sinne einer Abweichung vom fiktiven, statistisch konstruierten Normalmenschen interpretierte, der die bürgerlichen Körper- und Geistesideale der Zeit repräsentierte (Levinstein 1883: 6; Koch 1891: 1, 260–263; Kraepelin 1910: 100–110, Bumke 1919: 461; Joël 1928: 10–11).

In diesem Kontext galt der Süchtige als Störfaktor und Fortschrittshemmer, als Symptom und Ursache für die drohende biologische Katastrophe der Entartung des Volkes (Spode 1993: 41; Bohlen 1998: 26–28, 39–41).

Der Erste Weltkrieg – Multiplikator des Kokainismus?

Betrachtet man die Quellen- und Sekundärliteratur zur Entwicklung des Drogenkonsums in Deutschland, so scheint der Erste Weltkrieg eine tiefe Zäsur darzustellen. Seitdem die Hohlnadelspritze zur subkutanen Injektion Mitte des 19. Jahrhunderts Eingang in die ärztliche und sanitätsdienstliche Praxis fand, gelten Kriege als „Multiplikatoren der Drogensucht“, da Morphium nun wesentlich einfacher zur Schmerzstillung und Betäubung eingesetzt werden konnte (Schievelbusch 1992: 225; Renggli & Tanner 1994: 89; Briesen 2005: 25). Diese in der Fachliteratur etablierte These erscheint auf den ersten Blick schlüssig. Sie krankt jedoch daran, dass keinerlei Statistiken oder Untersuchungen existieren, die eine solche Zunahme faktisch belegen könnten. Ohnehin verwischt der kausale Rückschluss von einem Anstieg der medikamentösen Schmerzbehandlung auf einen Anstieg der Suchterkrankungen den bedeutsamen Unterschied zwischen der Notwendigkeit dauerhafter Schmerztherapie aufgrund von Verletzungen und Traumen auf der einen und dem „hedonistisch“ oder anderweitig motivierten Konsum psychoaktiver Substanzen auf der anderen Seite.

Die These, dass der Erste Weltkrieg eine wichtige Ursache für die „Drogenwelle“ der 1920er Jahre war, wird durch eine Vielzahl zeitgenössischer Quellen gestützt. Eine bedeutende Rolle für die Entstehung dieser Problemwahrnehmung kam einem Vortrag Karl Bonhoeffers zu, den der Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Berliner Charité im Februar 1919 vor der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten hielt. Ausgehend von den Aufnahmestatistiken seines Hauses konstatierte er einen Anstieg der Morphiumsucht, den er durch die vermehrte Verwendung des Mittels im Krieg erklärte. Im Vergleich zur Vorkriegszeit sei die Zahl der Morphinisten und Kokainisten, die in den Statistiken der Charité noch in einer gemeinsamen Rubrik gezählt wurden, um „das 2 bis 3 und noch mehrfache gestiegen“ (Bonhoeffer 1919: 727). Mehrere Autoren bezogen sich in der Folgezeit auf diese Angaben, um die wachsende Verbreitung des Morphinismus und Kokainismus zu belegen (Serejski 1925: 132; Jacob 1926: 218–219).

Dieser Zuwachs erschien nicht zuletzt deswegen so bedrohlich, weil viele Mediziner nur relative, prozentuale oder ungefähre Angaben als Belege präsentierten (Straub 1919; Erzer 1924: 41; Aronowitsch 1925: 20–21; Offermann 1926: 605). Auch Bonhoeffer hatte seinen Zuhörern nur von verhältnismäßigen Steigerungen berichtet und keine absoluten Zahlen genannt. Tatsächlich stieg der Anteil der Kokainisten und Morphinisten an den Gesamtaufnahmen zwischen 1913 und 1917 um ein Mehrfaches an – nämlich von 0,24 Prozent auf 0,9 Prozent. Seine relativierende Einschätzung, ihr Anteil bliebe aber weiter unter 1 Prozent, ignorierten die meisten Rezipienten jedoch. Für das Jahr 1918 stellte Bonhoeffer eine weitere Steigerung auf 2 Prozent „Morphium-, bzw. Kokainsüchtige“ fest. Dass diese neuerliche Zunahme zumindest in Bezug auf die Kokainismusfälle keinen akuten Anlass zur Besorgnis darstellen musste, zeigt der Blick auf die absoluten Zahlen. Laut den Diagnosebüchern der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité, in denen sämtliche Neuaufnahmen inklusive der jeweiligen Diagnosen vermerkt wurden, waren im Jahre 1918 nur zwei Patienten wegen ihrer Kokainsucht in Behandlung.

Obwohl diese Zahlen keinen Hinweis dafür lieferten, das sich der Kokainismus zu einer „Volksseuche“ (Glaserfeld 1920: 185; Aronowitsch 1925: 28) auswuchs und bis zum Jahre 1928 auch keine umfangreicheren statistischen Erhebungen vorlagen, die eine solche Vermutung gestützt hätten, entwickelte sich die These vom rapiden Anstieg der Kokainsucht bald zu einem kaum mehr zu hinterfragenden Gemeinplatz. „Daß während des und in der Nachkriegszeit in Deutschland der Morphinismus und namentlich der Cocainismus erheblich zugenommen hat, ist eine bekannte und ärztlicherseits vielfach erörterte Tatsache“, bemerkte etwa der Görlitzer Oberarzt Karl John im Jahre 1924 (John 1924: 2395). Im Gegensatz zum Morphinismus, dessen Anwachsen durch die verstärkte Verwendung des Opiats im Krieg sowie im therapeutischen Bereich erklärbar schien, identifizierten die Mediziner für den Anstieg des Kokainismus andere Gründe. Der nicht medizinisch indizierte Konsum von Kokain galt als Anzeichen für eine bestehende psychische Minderwertigkeit und wurde gemeinhin mit Hedonismus, Prostitution und neuen Formen der populären Vergnügungskultur assoziiert. Nach Ansicht der Berliner Suchtmediziner Fritz Fränkel und Ernst Joël sei nur „ein Bruchteil der Verwundeten“ des Weltkriegs tatsächlich „mit Cocain in Berührung“ gekommen. Vielmehr habe der Krieg bei „gewissen Kreisen der Zuhausegebliebenen“ und „späterhin bei vielen Heimgekehrten die allgemeinen psychischen Bedingungen zu einem Giftkonsum großen Stils“ geschaffen:

Im Kriege: rasches und verhältnismäßig leichtes Geldverdienen bei Ausschaltung einer großen Anzahl früherer Vergnügungs- und Verausgabungsmöglichkeiten, die Unsicherheit der ganzen Lebenslage, die zu einer überhasteten und möglichst viel erraffenden Genußgier führte; nach dem Kriege: die Entfremdung geregelter Arbeit, oft die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz, ein gesteigertes und vergröbertes Rauschbedürfnis nach Jahren des Verzichts, jene ganze Stimmungslage, wie sie in Tanzwut, oder massenhaften Eröffnung flachster Unterhaltungsstätten, der ungenierten Entfaltung der Prostitution zum Ausdruck kam. (Joël & Fränkel 1924: 14)

Diese Argumentation verknüpfte soziale, moralische, ökonomische und psychische Erklärungsansätze miteinander und erwies sich daher als äußerst anschlussfähig. Von Seiten der Mediziner bestand kein Zweifel daran, dass die Kriegsjahre die Grundlage bildeten, „auf der sich psychopathische Erscheinungen der Masse wesentlich stärker ausbreiten mußten“ (Maier 1926: 66). Im Kontext der Kriegsniederlage deuteten sie den wahrgenommenen Anstieg des Kokain- und Morphiumkonsums als eines von vielen Symptomen für den politischen, ökonomischen und moralischen Verfall Deutschlands. Die erhöhte Aufmerksamkeit für die Suchtproblematik hing also nicht unwesentlich mit dem allgemeinen Krisenbewusstsein der Nachkriegszeit zusammen. Während des Weltkriegs deutete zunächst nichts auf eine solche Entwicklung hin.

Zwischen 1914 und 1918 erschienen keine medizinischen Studien, die sich mit den gesundheitspolitischen und sozialhygienischen Folgen der erhöhten Medikamentenapplikation während der Kampfhandlungen auseinandersetzten. Ob die Ärzteschaft dieser Frage angesichts der Zeitumstände noch keine Beachtung schenkte oder ob die Anzahl der registrierten Suchtfälle einfach zu gering war, um erhöhte Alarmbereitschaft zu erzeugen, ist aus der Rückschau kaum zu beantworten. Fraglos bestand die grundlegende Schwierigkeit, in Kriegszeiten ein größeres Datenmaterial über die Krankenentwicklung in Heer und Heimat zu erlangen. Eine der wenigen größeren psychiatrischen Untersuchungen aus jenen Tagen veröffentlichte die Ärztin Helenefriederike Stelzner im Jahre 1917. Sie hatte in der „Irrenabteilung“ eines k. u. k. Garnisonsspitals in Innsbruck etwa tausend erkrankte Soldaten behandelt. Für lediglich zwei ihrer Patienten stellte sie die Diagnose Morphinismus bzw. Kokainismus aus, ohne näher auf die beiden Fälle einzugehen (Stelzner 1917: 841–842).

Auch das nach dem Krieg erschienene „Handbuch der ärztlichen Erfahrungen des Weltkriegs“ behandelte die Suchtproblematik eher randständig. Verfasser des betreffenden Textes war Karl Bonhoeffer. Auch er vertrat die Ansicht, dass eine direkte Verbindung zwischen den Anstrengungen des Krieges und einem erhöhten Drang nach Rauschmitteln bestand: „Bei der Fülle unlusterregender Einflüsse, die das Kriegsleben bietet, war mit einem starken Bedürfnis nach narkotischen Mitteln von vornherein zu rechnen.“ Den Kokainismus thematisierte Bonhoeffer nur am Rande. Sein Urteil klang alles andere als alarmierend. Zwar habe er persönliche Berichte von „Kriegsteilnehmern […] über habituelles Kokainschnupfen bei einzelnen Truppenteilen“ erhalten, aber für ein Umsichgreifen des Kokainismus sah er im Gegensatz zum Morphinismus keine Anzeichen: „Eigentliche Kokainpsychosen sind mir nicht begegnet, auch in der Literatur finden sich keine Mitteilungen, die für stärkere Kokainschädigung sprechen“ (Schjerning et al. 1922: 21).

Eine Gefahr für die „Volksgesundheit“? Die Verbreitung des Kokainismus in der Weimarer Republik

Solche relativierenden Einschätzungen fanden in den medizinischen Diskursen der Nachkriegszeit jedoch kaum Widerhall. Deren konstitutive Bedeutung für das medial vermittelte Bild der Suchtkrankheiten darf nicht unterschätzt werden, da keine andere Akteursgruppe die gesellschaftlichen Debatte über Rauschmittelkonsum so stark prägte wie die Mediziner. Sie übten ihren Einfluss nicht nur über fachinterne Publikationen und Interessenpolitik, sondern auch mittels zahlreicher Artikel in der Tagespresse aus (Hoffmann 2012: 99, 290). Der Expertenstatus der Ärzte verlieh ihren Stellungnahmen dabei besondere Glaubwürdigkeit.

Aus der historischen Rückschau verdient dieser Status in zweierlei Hinsicht kritisch hinterfragt zu werden. In ihrer Funktion als Ordnungsgaranten und forensische Gutachter beanspruchten Psychiater die Kompetenz, Persönlichkeiten und Verhaltensweisen mit wissenschaftlicher Methodik als pathologisch oder gesund bzw. „normal“ zu klassifizieren. Um abweichendes Verhalten diagnostisch zu erfassen, mussten Psychiater zwangsläufig auch mit soziokulturell und moralisch aufgeladenen Vorstellungen von Normalität operieren. Vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Wirren der Nachkriegszeit trat diese Dimension der psychiatrischen Praxis deutlich zum Vorschein. Die Mehrzahl der Mediziner entstammte einer bürgerlichen Lebenswelt. Wenngleich sie der Demokratie nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstanden, betrachteten viele von Ihnen die revolutionären Umwälzungen distanziert bis ablehnend (Kratzsch 2005: 38–40). Manche Vertreter des Fachs sahen sich durch den universalistischen Deutungsanspruch der Naturwissenschaften gar dazu ermutigt, die sozialen Konflikte mit den Begriffen und Deutungsmustern der Psychiatrie zu erklären. Revolutionäre Unruhen ließen sich so als krankhafte Verirrung der Massen beschreiben, wohingegen soziale und ökonomische Bedingungsfaktoren gesellschaftlicher Wandlungsprozesse entweder marginalisiert oder auf ihre vermeintlichen biologischen Hintergründe reduziert wurden. In diesem Sinne argumentierte etwa die bereits erwähnte Ärztin Helenefriederike Stelzner, die im Mai 1919 in der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten über „Psychopathologisches in der Revolution“ dozierte. Sie erklärte, jede Revolution würde „eine Menge von Individuen“ anziehen, „die infolge ihrer asozialen und antisozialen Eigenschaften im Gemeinsamkeitsleben“ bisher nicht dazu in der Lage gewesen seien, „irgendeinen Platz am Sozialkörper auszufüllen. In der trüben Welle des Umsturzes gelingt es ihnen sogar, sich in führende Stellungen aufzuschwingen“ (Stelzner 1919: 393–394). Wie Stelzner versuchten auch manche ihrer Standeskollegen, das gesellschaftliche Geschehen der Zeit mit den wissenschaftlichen Parametern von Gesundheit und Krankheit kritisch zu beschreiben (Marx 1919; Kahn 1919).

An diesen Beispielen wird deutlich, dass die zeittypische Tendenz zur „Psychiatrisierung Sozialen“ (Bernet 2006: 177) in Krisenzeiten auch die politische Sphäre erfassen konnte. Im Zuge dessen verflocht sich der Suchtdiskurs mit den Debatten über Degeneration, soziale Hygiene, Großstadtfeindschaft, Kriminalität und Volksgesundheit und fügte sich in die allgemeine Krisenwahrnehmung der Zeit ein (Hoffmann 2012: 128, 292; Weipert 2006: 60–61, 101–104, 135–137). Hans W. Maier erklärte, die Revolutionszeit habe durch die „neurotisch-psychopathische Stimmung, die ganze Bevölkerungsklassen, besonders der Großstädte, ergriff, den Boden und das Bedürfnis nach narkotischen Mitteln“ geschaffen (Maier 1926: 69). Hinter der Fachterminologie solcher Thesen schienen die verborgenen soziokulturellen und politischen Prämissen der Autoren deutlich hervor.

Von der wissenschaftlichen Erklärung der sozialen und politischen Missstände hin zu deren wissenschaftlicher Lösung war es nur ein kleiner Schritt. Als „Hüter der Volksgesundheit“ fühlten sich die Ärzte dazu berufen, diese Zustände zu bekämpfen, um die biologischen Grundlagen für den nationalen Wiederaufstieg zu sichern. Dafür schienen auch radikale Eingriffe in die bürgerlichen Grundrechte notwendig. Wie viele andere Mediziner forderte Karl John vom Gesetzgeber, die Zwangseinweisung und Entmündigung von Morphinisten und Kokainisten zu ermöglichen. Die Heilung der Süchtigen spielte für ihn dabei nur eine nachgeordnete Rolle:

Gerade jetzt brauchen wir doch so dringend einen gesunden Volkskörper, wo der Krieg mit seiner grausamen Auslese uns gerade die Besten genommen hat. Solange aber unsere Gesetzgebung nicht bei allen das Volkswohl unterwühlenden Krankheiten radikal vorgeht, […] wird unser Volk an seiner Erstarkung gehindert und an seinem endgültigen Aufstieg gehemmt bleiben. (John 1924: 2397)

Im Hinblick auf den Expertenstatus der Mediziner verdient noch ein zweiter Umstand kritisch betrachtet zu werden: Ihr Umgang mit den empirischen Erkenntnissen über die Verbreitung des Morphium- und Kokainkonsums. Bis in die zweite Hälfte der 1920er Jahre lagen keine medizinischen oder polizeilichen Statistiken größeren Maßstabs vor, die Aufschluss über das Ausmaß des nicht medizinischen Gebrauchs beider Substanzen geben konnten. Dennoch erzeugten die Ärzte in ihren Debattenbeiträgen zumeist den Eindruck einer erheblichen und gefahrvollen Ausbreitung des Kokainismus. Sie bedienten sich dabei häufig vager Formulierungen und konnten sich lediglich auf persönliche Praxiserfahrungen, einzelne Anstaltsstatistiken oder Einzelfälle stützen (Hoffmann 2012: 126–127, 168–174, 177–181).

Einen der frühesten Artikel, der ein solch diffuses Bedrohungsszenario zeichnete, veröffentlichte der Arzt Bruno Glaserfeld im Jahre 1920. Er hatte vier Kokainkonsumenten behandelt und folgerte aus deren Berichten, es könne „kein Zweifel“ darüber bestehen, „daß in Groß-Berlin eine schreckliche Volksseuche, der Kokainismus, im Verborgenen blüht“ (Glaserfeld 1920: 185). In der Folgezeit bezogen sich mehrere Autoren in verschiedenen Tageszeitungen auf Glaserfelds Bericht und erweckten dabei den Eindruck, es bestehe die Gefahr einer „seuchenartigen“ Ausbreitung des Kokainismus in ganz Deutschland (Hoffmann 2012: 101–104). Die These vom Umsichgreifen der Kokainsucht verselbstständigte sich bald. 1923 erklärte Fränkel, ohne nunmehr dafür Belege anzuführen, die Zahl der Kokainisten sei „seit Beendigung des Krieges in erschreckender Weise gestiegen“ (Fränkel 1923: 61). Bei den Lesern musste das vielfach gezeichnete Schreckbild einer sich „explosionsartig“ (Bleuler 1923: 274) ausbreitenden „Giftseuche“ (Straub 1926: 1096), die sich zu einer „Gefährdung der Volksgesundheit“ (Hoffmann 2012: 185) auswachse, den Eindruck einer allgemeinen Bedrohung wecken.

Auf dem Boden dieses Konsenswissens gediehen geradezu dramatische Kokainnarrative, die keines Belegs mehr bedurften, um plausibel zu erscheinen. Laut Arno Offermann trat bereits vor dem Krieg „mit epidemischer Wucht auf noch unbekanntem Wege eine neue Sucht mit unheimlicher Infektiosität“ auf, „der Schnupfcocainismus.“

Der Herd dieses neuen Lasters saß tief im verschlungenen, von Lust und Leid verknoteten Gewebe der Demimonde und Bohème des Montmartre und in den dunkeln Winkeln des Studentenviertels Quartier Latin. Von hier verbreitete sich die Sucht mit embolischer Wirksamkeit über die verschiedensten Länder aus, über England, Amerika, Rußland und von hier durch die Kontagiosität der Nachkriegszeit nach Wien und Berlin. (Offermann 1926: 605)

Wie Offermanns Ausführungen belegen, stütze die Vorstellung der Kontagiosität des Kokainismus nicht nur das Motiv der Drogenwelle, sondern erlaubte es zudem, den Ursprung des Problems ins Ausland zu verlegen. Die vermeintlich allgegenwärtige Verbreitung des Drogenkonsums diente bereits in der deutschen und französischen Tagespresse der Vorkriegs- und Kriegszeit als wirkmächtiges Motiv zur Diffamierung der Bevölkerung des Nachbarlands. Artikel, in denen die Einfuhr von Drogen als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln oder deren Konsum allgemein als Ergebnis ausländischer Einflüsse gebrandmarkt wurde, lassen sich für die Nachkriegszeit in deutschen, englischen, französischen und italienischen Presseerzeugnissen nachweisen (Hoffmann 2012: 71–78, 91–96). Derartige Vorstellungen tauchten, wie Offermanns Beispiel zeigt, auch in medizinischen Publikationen auf. So beklagte der russische Arzt Aronowitsch, erst die ungesetzliche Einfuhr von Kokain aus den von Deutschland besetzten Gebieten habe die Bedingungen für die Verbreitung des Kokainismus in Russland geschaffen, während Joël und Fränkel erklärten, dass Kokain schnupfende russische Soldaten, die auf deutscher Seite gegen die Rote Armee kämpften, „die Unsitte auch in deutschen Truppenverbänden einführten“ (Aronowitsch 1925: 21; Joël & Fränkel 1924: 14).

Die Vorstellung, es habe eine „Kriegs- und Nachkriegswelle der Kokainsucht“ (Wolff 1928a: 266) gegeben, blieb selbst dann noch ein zentraler Bestandteil des medizinischen Wissensschatzes, als die Alarmstimmung gegen Ende der Zwanziger Jahre einer weniger drastischen Lagebeurteilung wich.

Zwischen den zur Verfügung stehenden Informationen und den daraus resultierenden Schlüssen der Mediziner bestand ein aus heutiger Sicht eigentümliches Missverhältnis. So stellte Hans W. Maier in seiner großen Kokainismusmonografie eine Statistik der Berliner Universitätskliniken vor, laut der im Jahre 1913 lediglich 1,75 Promille der aufgenommenen Patienten Kokainisten waren. 1920 hatte sich ihr Anteil auf 7,5 Promille erhöht, stieg ein Jahr später weiter auf 10 Promille an und erreichte nach einem zwischenzeitlichen Abschwung mit 13 Promille im Jahre 1924 einen vorläufigen Höchststand. Obwohl derartige Werte im Promillebereich keinerlei Anzeichen für eine seuchenartige Ausbreitung boten, lautete Maiers knappes Urteil lediglich: „Das Ansteigen in den letzten Jahren ist daran sehr deutlich ersichtlich“ (Maier 1926: 83).

Einen weiteren Beleg für die bestehenden Widersprüche zwischen der manifesten Problemwahrnehmung und den vorliegenden empirischen Daten lieferte Karl Bonhoeffers Referat auf der Jahresversammlung des deutschen Vereins für Psychiatrie im Jahre 1925. Seine Datengrundlage bestand nur aus den bis zum Jahr 1922 reichenden Anstaltsstatistiken des Preußischen Statistischen Landesamtes, die lediglich die Rubrik „Morphinismus und andere narkotische Vergiftungen“ erfassten. Bonhoeffer hatte diese Zahlen durch Anfragen bei verschiedenen Kliniken und Privatanstalten ergänzt, die Kokainisten zum Teil aber auch nicht gesondert anführten. Sein Urteil lautete: „Die absoluten Zahlen sind überall noch klein.“ Allerdings hätten sich die Aufnahmen von Kokainkonsumenten in den drei größten Berliner Privatanstalten in der Nachkriegszeit „immerhin doch verzehnfacht gegenüber der Zeitspanne 1913–18“, nämlich von 0,06 Prozent auf 0,7 Prozent. Wenn diese Zahlen überhaupt weitreichende Schlüsse zuließen, so hätte man von einer eher geringen Verbreitung des Kokainismus ausgehen dürfen, umso mehr, da Bonhoeffer für 1925 eine Abnahme der Aufnahmen registrierte. Er sah jedoch keine Notwendigkeit, die bisherige Problemdeutung zu hinterfragen, sondern schloss daraus, „daß die Kokainismuswelle im Abebben begriffen ist.“ Sein überraschendes Fazit lautete: „Alles in allem sehen wir eine deutliche Zunahme des Narkotinismus, der im Interesse der Volksgesundheit unsere Aufmerksamkeit erfordert“ (Bonhoeffer & Ilberg 1926: 72, 74). Obwohl Bonhoeffer gleich darauf anmerkte, es bestehe keine Gefahr einer „Verseuchung unseres Volkes“, wurde sein Referat in der Folgezeit von vielen Autoren als Beleg für einen Anstieg des Betäubungsmittelkonsums herangezogen (Hoffmann 2012: 204).

Die ersten empirisch gesättigten Untersuchungen zum Problem des Morphinismus und Kokainismus erschienen in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre und deuteten ebenfalls auf eine geringe Verbreitung der Suchtkrankheiten hin. Jedoch vermochten diese Publikationen es nicht, die bereits etablierte Problemwahrnehmung zu durchdringen. Auch wenn bestimmte Dramatisierungen zunehmend kritisch betrachtet wurden, fand eine grundlegende Reflexion nicht statt. 1928 verschickte Paul Wolff, der Schriftleiter der Deutschen Medizinischen Wochenschrift, einen Fragebogen an alle deutschen Provinzial‑, Heil‑, Privat- und Pflegeanstalten sowie Universitätskliniken und Ärzte, die Suchtpatienten behandelten. Die Auswertung dieser Datensammlung zeigte laut Wolff ein „Abebben“ des Kokainismus. Vor allem Provinzial‑, Heil- und Pflegeanstalten verfügten „nur über ein sehr geringes Material an Kokainisten“ (Wolff 1928a: 266). Als die „Rauschgiftfrage“ im selben Jahr jedoch im Strafrechtsausschuss des Reichstags beraten wurde, erklärte der Abteilungsdirektor im Reichsgesundheitsamt Eugen Rost, Wolffs Umfrage habe eine „außerordentliche Zunahme an Verbrauch von Morphin und Kokain“ ergeben. Neben Wolffs Studie wurde den Teilnehmern der Ausschusssitzung auch die Heilanstaltsstatistik der letzten Jahre vorgelegt. Infolge „von Morphinismus und anderen narkotischen Vergiftungen“ waren demnach in ganz Deutschland 1923 32 Personen, 1924 18 Personen und 1925 39 Personen verstorben (Wolff 1928b: 2031). Auch diese Zahlen gaben keinen Anlass, die Existenz einer Seuche zu vermuten. Sie belegen aber einmal mehr die erhöhte Aufmerksamkeit, mit der man dem Morphium- und Kokainkonsum in den 1920er Jahren begegnete.

Ungeachtet dieser Forschungsergebnisse sprach Robert Eugen Gaupp auf dem 47. Deutschen Ärztetag in Danzig 1928 weiterhin von einer „Zunahme der Rauschgifterkrankungen (Morphinsucht, Kokainsucht)“, die „dringend allgemeine Maßnahmen und eine besondere Regelung durch die Aerzteschaft als die berufene Hüterin der Volksgesundheit“ verlange. Ohne sich auf bestimmte Daten zu beziehen, behauptete er sogar, dass die steigende Zahl der Süchtigen „sich zu einer Gefährdung der Allgemeinheit ausgewachsen“ habe (Witkowski 1928: 1219).

Zu einem konträren Urteil gelangte der an der Charité praktizierende Oberarzt Kurt Pohlisch, der im selben Jahre eine Untersuchung zur „Verbreitung des chronischen Opiatmißbrauchs in Deutschland“ anfertigte. Er wertete dafür die Rezepte aller Apotheken im Reichsgebiet der ersten Jahreshälfte aus. Demnach konsumierten lediglich 0,01 Prozent der Bevölkerung mehr als 0,1 g Morphinum hydrocloricum am Tag. Obwohl sich der Kokainverbrauch aufgrund des bestehenden Schwarzmarktes schwerer erfassen ließ, ging Pohlisch wegen der Seltenheit des reinen Kokainismus davon aus, dass die von ihm ermittelten Zahlen durch jene Personen, die nur Kokain einnahmen, nicht merklich steigen würden (Pohlisch 1931: 11–12, 18–19). Gleichzeitig kritisierte er, der „Umfang der illegal bezogenen Narkotika“ sei „in der Literatur nicht immer richtig beurteilt worden“, da sich die Autoren oft „nur auf die Verhältnisse in einigen Großstädten“ stützten oder „Einzelheiten mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit“ anführten (Pohlisch 1931: 9). Seine Studie, die erst im Jahre 1931 erschien, bewirkte auf Regierungs- und Behördenebene eine Umbewertung der Situation, hin zu einer differenzierteren Einschätzung der quantitativen Dimension des Suchtproblems (Hoffmann 2012: 238–240).

Als die Meinungsbildung der Mediziner zum Kokainismus zu Beginn der 1930er Jahre im Wesentlichen abgeschlossen war und ihr Interesse an der Thematik sank, bestand ein widersprüchliches Nebeneinander verschiedener Ansichten zur Verbreitung des Kokainkonsums. Einigkeit herrschte jedoch in Bezug auf zwei Punkte: Die nicht medizinisch indizierte Einnahme von Kokain galt als äußerst gefährlich sowie als Anzeichen für eine zugrundeliegende psychopathische Konstitution. Da diese Einschätzungen qua ihrer wissenschaftlichen Legitimation sowohl in der Tagespresse als auch bei den Gesundheitsbehörden und Regierungsstellen auf große Resonanz stießen, etablierte sich die Prohibition in der Weimarer Republik als einzig gangbare Lösung für die Behandlung der Rauschgiftproblematik (Schendzielorz 1988: 62–66; Briesen 2005: 103–113).

Die historischen Wurzeln des Kokainismus

Damals wie heute bieten die in den 1920er Jahren verfügbaren Daten also wenig konkrete Anhaltspunkte für eine seuchenartige Verbreitung des Kokainismus. Bei der Suche nach alternativen Erklärungsansätzen für die Entstehung und Beständigkeit des Narrativs der Kokainwelle kommt der eigentümlichen Gestalt des Krankheitsbilds eine Schlüsselrolle zu. Albrecht Erlenmeyer, der Leiter der Heilanstalt für Nervenkranke Bendorf am Rhein, war der erste Psychiater, der die Symptome des gewohnheitsmäßigen Kokainkonsums Mitte der 1880er Jahre zu einer eigenständigen Erkrankung zusammenfasste. Er war der wohl prominenteste Gegner einer Praxis, die Sigmund Freud und andere Mediziner zu jener Zeit propagierten: Der Kokaintherapie für morphiumsüchtige Patienten (Freud 2013 [1884]: 79; Smidt & Rank 1885; Wallé 1885; Hirschmüller 2013: 15, 27–31).

Angeregt durch Berichte über die psychophysischen Wirkungen des Cocas und des Kokains hatte Freud 1884 damit begonnen, das Alkaloid im Selbstversuch und an anderen Personen zu testen. Angesichts seiner positiven Befunde und der Tatsache, das „der Arzneimittelschatz der Psychiatrie“ bislang über kein Mittel verfügte, das die „herabgesetzte Tätigkeit“ der „Nervenzentren“ erhöhte, empfahl er es nicht nur als Stimulans zur Behandlung von Hysterie, Hypochondrie, Melancholie, Neurasthenie, Nervosität, Stupor und anderer Leiden, sondern auch für die Therapie morphiumsüchtiger Patienten (Freud 2013 [1884]: 69–73, 79, 82). Noch im selben Jahr entdeckte der österreichische Augenarzt Carl Koller, das die lokalanästhetische Wirkung des Kokains es ermöglichte, selbst komplizierteste Operationen ohne Vollnarkose bei lokaler Betäubung durchzuführen (Gröger & Schmidt-Wyklicky 2012).

So fand das Kokain in der Folgezeit nicht nur als Lokalanästhetikum, sondern auch in der internen Medizin und bei psychiatrischen Heilbehandlungen breite Verwendung.

Es dauerte jedoch nicht lang, bis erste Meldungen über akute Vergiftungserscheinungen und psychische Störungen an die Öffentlichkeit gelangten. Erlenmeyers Postulat, das die Behandlung der Morphinisten mit Kokain eine neue Suchtform, den Kokainismus erzeugte, ebnete schließlich den Weg für den negativen Wahrnehmungswandel des vermeintlichen Wundermittels. Gelehrte Auseinandersetzungen über die Coca und das Kokain hatten bis dahin eine große inhaltliche Offenheit aufgewiesen (Wahrig 2009). Es bestand ein breites Meinungsspektrum, in dem die potenziellen Chancen und Einsatzgebiete ebenso artikuliert wurden wie schroffste Ablehnung. Letztere speiste sich nicht zuletzt aus dem kolonialen Deutungshorizont, der den Cocakonsum als verderbliches Laster der „primitiven“ Indigenen interpretierte (Poeppig 1837: 210–213; Bibra 1855: 161–162).

Erlenmeyer erblickte im Kokain jedoch ein pharmakologisches „Höllenmittel“ (Erlenmeyer 1887: 178), das mit dem Kokainismus eine „würdige dritte Geißel der Menschheit“ (Erlenmeyer 1886: 483) neben Alkoholismus und Morphinismus hervorgebracht habe. Er selbst hatte acht Morphinisten mit Kokain behandelt und sprach dem Alkaloid aufgrund seiner negativen Erfahrungen jeden therapeutischen Nutzen ab. Die Einnahme der Substanz führe eine „jähe, blitzartige physische und psychisch-moralische Zertrümmerung“ der Patienten herbei (Erlenmeyer 1887: 169, 186). Mit diesen drastischen Äußerungen verschob er die fachinterne Debatte auf eine kollektivmedizinische und normative Ebene und zwang die Befürworter der therapeutischen Kokainverwendung, in dieser Hinsicht Stellung zu beziehen.

Die ersten Kokainismusfälle waren also ohne Zweifel iatrogener Natur. Da die physiologischen Ursachen der Sucht aber im Dunkeln lagen, etablierte sich die kausale Verknüpfung mit konstitutionellen und sozialen Abnormitäten in Fachkreisen dennoch rasch. Morphium- und Kokainkonsumenten sollte dieses Stigma wesentlich härter treffen als Alkoholiker. Während der Missbrauch beim etablierten Genussmittel Alkohol im „normalen“ Gebrauch wurzelte, galt die Einnahme der neuen, nicht sozial eingehegten und regulierten Betäubungsmittel per se als gefährlich und krankhaft (Bohlen 1998: 52, 65–66). So mutmaßte der Psychiater Gottfried Leibold, dass die geheimnisvoll erscheinende Anwendungsweise der Injektion und das mangelhafte Wissen der Allgemeinheit über Morphium und Kokain nicht unwesentlich zur „Sagen- und Legendenbildung“ beitrugen (Leibold 1899: 2). Wer diese Substanzen konsumierte, musste mit sozialer Ächtung rechnen. Aus diesem Grund riet der Suchttherapeut Constantin Schmidt den Verwandten und Freunden jener Menschen, die „in die Polypenarme der dämonischen Sucht“ geraten waren, „die Sache vor der Welt möglichst geheim zu halten“, damit die Entziehung „in undurchdringliches Dunkel gehüllt“ vonstattengehen könne (Schmidt 1888: 44).

Dass Morphium- und Kokainkonsumenten von der Öffentlichkeit und der Ärzteschaft trotz der Pathologisierung ihres Verhaltens weiterhin mit moralischer Abwertung konfrontiert wurden, kritisierten nur wenige Mediziner. So beklagten Gottfried Leibold, Viktor Knips-Hasse und Otto Emmerich in ihren um die Jahrhundertwende erschienenen Publikationen unabhängig voneinander die skandalisierende Berichterstattung in der Tagespresse, die Morphinisten als „haltlose Schwächlinge ohne Moral und Ehrgefühl“, „deruirte Existenzen“ oder „Entartete“ mit einer „sichere[n] Anwartschaft auf einen Platz im Irrenhaus“ porträtierte (Leibold 1899: 2–3). Allein durch die Bezeichnung „Sucht“ hafte den „armen Kranken“ in der Außenwahrnehmung „etwas Entehrendes“ an (Emmerich 1894: 2). Die populärsten Vorurteile fassten Leibold und Knips-Hasse in frappierender Übereinstimmung zusammen: Der Kranke ist selbst schuld an seinem Zustand, seine Heilung scheitert an seiner Willensschwäche und Charakterlosigkeit, er kann im Beruf nichts mehr leisten und wird zudem auch nie wieder gesund, da stets die Gefahr eines Rückfalls besteht (Knipps-Hasse 1898: 10; Leibold 1899: 2).

Aber selbst diese Ärzte tendierten dazu, Kokainisten kritischer zu beurteilen als Morphinisten (Emmerich 1894: 102). So erklärte Knips-Hasse: „Für den Kokainisten treffen weit eher alle jene Verdammungsurteile zu, die ich von dem Morphinisten abwehren zu müssen glaubte“ (Knips-Hasse 1898: 27–28). Diese Differenzierung resultierte vor allem aus den negativen Erfahrungen mit der Kokainersatzbehandlung. Schon Erlenmeyer hatte die besondere „Energielosigkeit und Demoralisation“ sowie die „gesteigerte Sucht nach Reizmitteln“ der sogenannten Morphio-Kokainisten hervorgehoben. Während die Morphinisten dem Arzt nach gelungener Entziehung mit Dankbarkeit begegneten, verlange der Kokainist „stumpf und blöde weiter nach Cocain“ (Erlenmeyer 1887: 184–185). Die Ansicht, dass das Kokain es zwar vermochte, einen „heruntergekommenen Morphinisten“ auf dessen „eigene Kosten […] zu erregen und unwiderstehlich vorwärts zu treiben“, aber nur, „um ihn desto schneller und sicherer total auszuwirtschaften“ und „seine Psyche völlig zu zerrütten“ setzte sich bis zum Ersten Weltkrieg in medizinischen Kreisen durch (Schmidt 1888: 17; Leibold 1899: 40; Knips-Hasse 1898: 26–27).

Das von den Medizinern konstruierte Stereotyp des Kokainisten entwickelte derweil immer negativere Züge, bis es Parallelen zum idealtypischen bürgerlichen Gegenbild des Kriminellen (Becker 2000: 10, 20) erkennen ließ. 1913 beschrieb Adolf Friedländer den Werdegang und das Wesen des „typischen“ Kokainisten in schwärzesten Farben:

Die Umwandlung der Persönlichkeit nach der degenerativen Seite vollzieht sich außerordentlich schnell und in schwerster Weise. Der Kokainist ist reizbar, mißtrauisch; er findet beim Sprechen und Schreiben kein Ende, das Gedächtnis schwindet mit dem Sinn für Pünktlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Ethik, Familie, Staat. (Friedländer 1913: 26)

Die Einmütigkeit dieses Negativbilds überrascht angesichts der Tatsache, dass den deutschen Ärzten in der klinischen Praxis vor dem Ersten Weltkrieg nur selten „reine“ Kokainismusfälle begegneten. So hatte man sogar Schwierigkeiten, ein eindeutiges Symptombild der Krankheit herauszuarbeiten, da sich die Vergiftungserscheinungen von Morphium und Kokain kaum auseinanderhalten ließen (Ihlow 1895: 8, 13). Zusätzlich schuf die konstitutionelle Pathologisierung der Süchtigen noch ein erkenntnistheoretisches Problem. Ohne Kenntnis der prämorbiden Persönlichkeit des Patienten ließ sich schlichtweg nicht feststellen, ob die „ethische Depravation“ und „Degeneration der Cocainisten (und Morphinisten) Folge der Vergiftung oder Ausdruck der konstitutionellen Minderwertigkeit“ war (Heilbronner 1913: 421).

Die Vollendung des Krankheitsbilds in der Weimarer Republik

Entscheidende Fortschritte bei der klinischen Erforschung des Krankheitsbilds erzielte man in Deutschland erst nach dem Ersten Weltkrieg. Nun kamen Kokainkonsumenten häufiger als zuvor in ärztliche Behandlung. Diese Zunahme allein musste nicht zwangsläufig auf ein allgemeines Anwachsen des Kokainismus hindeuten. Bonhoeffer war aber der einzige Diskursteilnehmer, der diesen Kausalschluss zumindest hinterfragte und auf die finanzielle und soziale Notlage der Bevölkerung in den Nachkriegsjahren hinwies, die manche Konsumenten früher als zuvor dazu nötige, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen (Bonhoeffer & Ilberg 1926: 72).

Mitte der 1920er Jahre erschienen zwei umfangreiche Kokainismusmonografien, deren Veröffentlichung den Höhepunkt des wissenschaftlichen Interesses an der Kokainsucht in Deutschland markierten (Joël & Fränkel 1924; Maier 1926). Ihre Verfasser, die Berliner Suchtmediziner und Fürsorgeärzte Ernst Joël und Fritz Fränkel sowie der Psychiater Hans W. Maier, der 1927 die Direktion der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich übernahm, sezierten in diesen Schriften die Erscheinungen des Rausches und des chronischen Konsums mit akribischer Genauigkeit und lieferten eine umfassende Beschreibung des Krankheitsverlaufs. Die Autoren rezipierten dafür auch die ausländischen, insbesondere französischen und US-amerikanischen Fachdiskurse zur Kokainproblematik und führten diese Wissensbestände in den deutschen Drogendiskurs ein (Joël & Fränkel 1924: 11–14; Maier 1926: 54, 61–65). Beide Publikationen entwickelten sich bald zu Standardwerken.

Joël und Fränkel richteten ihr Hauptaugenmerk auf den Kokainrausch, den sie in drei Phasen unterteilten. Nach einem euphorischen Stadium mit freudiger Stimmung, erhöhtem Selbstbewusstsein, narzisstischem Wohlgefallen und gesteigerter Psychomotorik, trete bei fortgesetztem Konsum das eigentliche Rauschstadium ein, in dem „eine pathologische Umdeutung der Außenwelt“ erfolge. Die erhöhte Reizbarkeit der Sinnesorgane erzeuge beim Konsumenten einen plötzlichen Stimmungswandel, hin zu ruheloser Erregung und unkonkreter Angst. Aus dieser erhöhten Sensibilität entstünden Fehlwahrnehmungen, die der Kokainist angesichts seiner Suggestibilität zu Beziehungsideen verflechte und darauf nicht selten mit Wut und Gewalttätigkeiten reagiere. Solche Halluzinationen traten im Kokainrausch vor allem auf drei Sinnesgebieten auf: akustisch (Geräusche, Lautwerden der eigenen Gedanken, Stimmen mit oft beleidigendem Charakter), optisch (winzige Löcher im Gesichtsfeld, makroskopische Schreckbilder, Trugwahrnehmungen, sexuell aufgeladene oder farbige Visionen) und taktil (Gefühl von Fremdkörpern und Kleintieren unter der Haut, Gefühl der Elektrisierung). Das typische Zusammenspiel taktiler und optischer Halluzinationen kleiner Fremdkörper unter der Haut oder im Gesichtsfeld, firmierte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als „Magnansches Symptom“. 1889 hatte der französische Psychiater Joseph-Valentin Magnan drei Kokainismusfälle in der Société de Biologie vorgestellt und den betreffenden Symptomkomplex detailliert herausgearbeitet. Er galt als pathognomonisch für das Krankheitsbild und prägte das Motiv des gemeingefährlichen Kokainisten entscheidend mit. Immer wieder berichteten Ärzte von schockierenden Vorfällen, bei denen Berauschte mit „ihren Nägeln oder spitzen Gegenständen“ begannen, ihre Haut „aufzureißen, um die Fremdkörper herauszuholen“ (Joël & Fränkel 1924: 42; Lewin 1927: 115–116; Maier 1926: 109). Aber auch die Halluzinationen des Gehörs und des Gesichts galten als potenzielle Quelle für gewalttätige Ausbrüche.

Im Rauschstadium drängten die Süchtigen dazu, die Halluzinationen zu zusammenhängenden Wahnideen umzudeuten. Ihr typisches Erscheinungsbild war der Verfolgungswahn, der aus der Verknüpfung von Gehörtäuschungen und Angstvorstellungen hervorging. Zeigten die Betroffenen zudem noch „triebhaften Betätigungsdrang“, so bestand ein „Kokaindelir“, das sich in zwanghaften Verhaltensweisen, Konzentrationsschwäche und Kurzschlusshandlungen äußere. Die Konsumenten begannen dann geradezu „instinktmäßig“ aufzuräumen, sich immer wieder zu waschen oder erregt nach bestimmten Dingen zu suchen (Joël & Fränkel 1924: 36–48).

Das Abklingen des Rausches markierte im Schema der beiden Berliner Ärzte des Beginn des Depressionsstadiums. In dieser Phase körperlicher Erschlaffung erfasse den Kokainisten ein körperliches Unbehagen mit absoluter Antriebs- und Willenlosigkeit. Manchmal trete auch ein dem „alkoholischen Katzenjammer ähnlicher Zustand mit moralischen Selbstvorwürfen“ auf: „In läppischem Überschwang beweint und verdammt er nun seine Leidenschaft“ (Joël & Fränkel 1924: 66). Nicht immer blieb es aber bei solchen Verstimmungen. Die Verzweiflung könne den Kokainisten in den Selbstmord treiben, der, wie es vielsagend hieß, „den Abschluß eines Willens zur Selbstzerstörung“ bedeute, „deren Ausdruck die Toxikomanie an sich war“ (Joël & Fränkel 1924: 48).

Der von Maier beschriebene Krankheitsverlauf wies deutliche Parallelen zum Rauschschema von Joël und Fränkel auf. Zum Krankheitsbild des „Cocainismus chronicus“ zählte er neben den erwähnten Rauschsymptomen nervöse Überreizung, Lähmungs- und Abstinenzerscheinungen, das Nachlassen der intellektuellen Tätigkeit sowie Konzentrations- und Gedächtnisschwäche. Der dauerhafte Konsum verursache zudem einschneidende Charakterveränderungen: „Die moralische Zuverlässigkeit der Persönlichkeit schwindet rasch“, der „Kranke vernachlässigt sein Äußeres und sucht immer ausschließlicher die Gesellschaft anderer Kokainisten auf“ (Maier 1926: 140).

Aus dem Bild der chronischen Vergiftung entwickelten sich nach längerer Konsumdauer „subakute Kokaindelirien“. Diese unterteilte Maier in drei Verlaufsformen: das „euphorische Syndrom“ (angenehme optische Halluzinationen, einzelne taktile Täuschungen, Größenideen), das „paranoid ängstliche Syndrom“ (bedrohliche Halluzinationen des Gehörs und Gesichts, störende taktile Sinnestäuschungen) und einen „oneroiden Dämmerzustand“ (kinematographische und optische Halluzinationen, Gleichgültigkeit, Ängstlichkeit) (Maier 1926: 141).

Bei Personen, die schon öfter Kokaindelirien durchlebt hatten, gehe aus der gesteigerten Betriebsamkeit allmählich der „Kokainwahnsinn“ hervor, der sich in Größenideen, Erfindungs- und Entdeckungswahn oder Verfolgungswahn äußere. Die Betroffenen litten nun regelmäßig unter schweren Schlafstörungen und herabgesetzter Nahrungsaufnahme, so dass ihre Körperkräfte immer stärker nachließen. Konsumierten sie dennoch weiter, entstehe eine „Korsakowsche Kokainpsychose“. Maier entlehnte diesen Symptomkomplex dem Verlaufsbild des Alkoholismus. Es handelte sich dabei um eine „schwere Gedächtnisstörung mit Konfabulationen“. Die stärkste Form der Hirnschädigung war die „Kokainparalyse“, die erst nach langandauerndem und hochgradigem Kokaingebrauch auftrete. Maier umschrieb sie nur grob als Zustand einer „faseligen Verblödung mit sinnlosen, wenig zusammenhängenden Größenideen“ (Maier 1926:142–143).

Als Triebfeder dieses Krankheitsverlaufs identifizierten die Psychiater das sich zwangsläufig einstellende Bedürfnis zur Dosissteigerung. Da die bei der Gewöhnung im Körper ablaufenden physiologischen Prozesse unbekannt waren, versuchte man, den Vorgang mit einer der Reizlehre entlehnten Terminologie zu beschreiben (Joël & Fränkel 1929: 549; Gatzuk & Hoff 1930: 1918). In den Worten Ernst Joëls stellte die Gewöhnung einen „Sonderfall […] der Anpassung des Organismus“ dar, eine „auf Reize hin erfolgende Umgestaltung des ursprünglichen Zustandes.“ Wirkten die „fremden Dauerreize chemischer Art“ auf den Körper, erwerbe dieser eine „relative […] Giftfestigkeit“. Sie komme entweder durch verbesserte Ausscheidung der Gifte, verminderte Resorption oder „durch Herabsetzung der Empfindlichkeit, also durch Abstumpfung“ zustande (Joël 1928: 17).

Vor ein weiteres Rätsel stellte die Experten die Frage, ob mit der psychischen Gewöhnung an das Kokain auch eine körperliche Gewöhnung einherging. Für diese These sprachen zahlreiche ärztlichen Berichte über Konsumenten, die enorm hohe Tagesdosen einnahmen, ohne in lebensbedrohliche Zustände zu geraten. Mehrere an Tieren unternommene Versuchsreihen ergaben jedoch keine Belege für eine körperliche Toleranzerhöhung (Hildebrandt 1926: 1756; Oelkers & Rintelen 1933: 244–245). Da Kokainisten außerdem selten körperliche Entzugserscheinungen zeigten und die Gefahr von Überdosierungen auch nach langer Konsumdauer bestehen blieb, etablierte sich die Ansicht, dass Kokain keine körperliche Abhängigkeit erzeuge. Den von vielen Suchtkranken beschriebenen Drang zur Dosiserhöhung führten Joël und Fränkel hauptsächlich auf den „Wunsch, die an sich nicht geringer als am Anfang einsetzende Wirkung zu reproduzieren“, zurück (Joël & Fränkel 1924: 70).

Auch ohne den Nachweis einer körperlichen Gewöhnung passten die am Kokaindiskurs beteiligten Mediziner das für Suchterkrankungen typische Laufbahnmotiv in das Krankheitsbild des Kokainismus ein. Ohne ärztliche Intervention sollte der Krankheitsverlauf demnach zwangsläufig in die „Selbstvernichtung“ des Süchtigen münden (Joël 1928: 23–24). Nach Lewin führe „der Verharrenszwang für diese Leidenschaft“ den Kokainisten in „körperliche und geistige Verelendung“. „Die Stundenschläge auf der Uhr des Kümmerlichkeitslebens dieser Unglücklichen sind die gierig erheischten Dosen, und jede neue Dosis wird zu einer neuen Förderin der mit unentrinnbarer Gewalt sich meistens schließlich vollziehenden Lebens- und Sterbenstragödie.“ Wie die Morphinisten bewegten sie sich „unaufhaltsam, willensgebunden, von der Leidenschaft allein getrieben“ auf einer Bahn, nur mit dem Unterschied, „daß die Verwüstungen, die das Kokain in den Hirnfunktionen veranlaßt, roher sind und dadurch das Herausgerücktwerden des Individuums aus der moralischen und gesellschaftlichen Ordnung sich schneller und brutaler vollzieht“ (Lewin 1927: 111, 117–118).

Ob kontrollierter oder gelegentlicher Kokainkonsum möglich sei, wurde im Lichte dieser Zwangslogik kaum thematisiert. Joël und Fränkel sowie auch Maier berichteten zwar von derartigen Fällen, aber eine grundlegende Neubewertung des Gefahrenpotenzials fand in der wissenschaftlichen Gemeinde deswegen nicht statt (Joël & Fränkel 1925: 1713; Maier 1926: 138–139). Im Rahmen des Laufbahnnarrativs war der Konsument kein handlungsfähiges Individuum mehr, sondern ein passiver Getriebener, während das „Gift“ zum eigentlichen Akteur aufstieg. Die Gefahr des Kontrollverlusts und der Fremdbestimmung musste besonders bei einer relativ neuartigen und sozial nicht integrierten Substanz wie dem Kokain virulent erscheinen, da für sie keine etablierten Glaubens- und Konsummuster, Handlungs- und Dosierungsempfehlungen oder Einnahmerituale bestanden, wie etwa im Falle des Alkohols (Blätter 2007: 86–89).

Das Wesen des Kokainisten

Das individuelle und gesellschaftliche Bedrohungspotenzial, das man dem Kokainismus zuschrieb, speiste sich nicht allein aus den psychischen und physischen Verfallssymptomen, die der Dauerkonsum verursachte. Von ebenso großer Bedeutung für die Gefahrenbewertung war das psychiatrischen Konstrukt des idealtypischen Kokainisten, das auf einem konstitutionellen Defektmodell basierte und Vorstellungen von sozialer und psychophysischer Devianz beinhaltete. Als schematisches Gegenbild zu einer ebenso abstrakten gesunden Psyche vermochte es gleichsam, die Ursache des Kokainkonsums zu erklären und dessen Krankhaftigkeit festzuschreiben. Das die Entscheidung, ob der Konsum bestimmter Substanzen per se als krankhaft oder „normal“ einzustufen seien, in hohem Maße auf kulturellen Konventionen beruhte, thematisierten nur wenige Psychiater (Joël & Fränkel 1925: 1713).

Gemäß der einflussreichen Definition des Psychiaters Kurt Schneider galten jene Menschen als „psychopathische Persönlichkeiten“, „die an ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet“ (Schneider 1928: 3). Eine „psychopathischen Konstitution“ lag nach Franz Kramer vor, wenn „die Harmonie der Persönlichkeit durchbrochen wird, wenn Triebmechanismen nicht willensmäßig beherrscht werden, sondern sich im Gegensatz zur Gesamtpersönlichkeit durchsetzen, [...] ohne das intellektuelle Störungen vorliegen“ (Kramer 1930: 577–578). Übertrug man diese Definitionen auf das Gebiet der Suchtkrankheiten, dann erwuchsen Kokainismus und Morphinismus „auf dem Boden psychopathischer Triebanomalie“ (Raecke 1924: 423). Otto Binswanger rechnete Kokainisten zu den „Triebmenschen“, die zusammen mit „moralisch Schwachsinnigen“, sexuell Perversen und anderen „unverbesserlichen Defektmenschen“ zu den „Schädlingen der menschlichen Gesellschaft“ gehörten, „die begabt, aber haltlos und aller sittlichen Gefühlsreaktionen bar, lange Zeit auf der Grenzlinie zwischen strafrechtlicher Verantwortlichkeit und Strafunmündigkeit sich bewegen“ (Binswanger 1928: 356). Jede Suchtkrankheit erschien somit als Zeichen einer psychischen Abnormität:

In fast allen Fällen erwächst das krankhafte Verlangen nach Gift aus einer Disharmonie der Persönlichkeit, aus dem Unvermögen, das eigene Wollen zu verwirklichen, sich mit den Ansprüchen der Welt ins Gleichgewicht zu setzen. Der Zwiespalt zwischen Wollen und Können, Ehrgeiz und Leistung, Streben und Erfolg, das Gefühl, sich gegen Ungemach und Mißgeschick nicht behaupten zu können, läßt das Verlangen nach einem Betäubungsmittel entstehen. (Joël 1928: 10–11)

Diese Interpretation schloss den regelmäßigen Konsum zu Genusszwecken oder aus anderen Motiven, die im Falle des kulturell integrierten Alkohols zugestanden wurden, fast gänzlich aus und deutete ihn ausschließlich als Mangel (Römer 1925: 365), insbesondere im Sinne des populären Narrativs der Realitätsflucht: „Giftsucht und Selbstmord, Selbstbetäubung und Selbstvernichtung sind nur zwei Formen der gleichen Tendenz, der Wirklichkeit zeitweise oder endgültig zu entrinnen – und ein großer Teil der Giftsüchtigen scheidet schließlich freiwillig aus dem Leben“ (Joël 1928: 11). Normative Probleme wie die Stellung des Individuums zur „Wirklichkeit“ und zu den Anforderungen des Gemeinschaftslebens wurden so zum Gegenstand medizinischer Expertise (Reichmann 1924: 62).

Den typischen Kokainisten beschrieben Joël und Fränkel als Persönlichkeit, bei der „ein Mißverhältnis zwischen Tätigkeitsdrang und Tatkraft besteht.“ Häufig handle es sich um Personen mit „guter Begabung und geringer Gestaltungskraft“, die ein „starkes Insuffizienzgefühl“ verspürten. Um es auszugleichen, griffen sie zu Kokain, weil es durch seine euphorisierende Wirkung „ein gesteigertes Aktivitätsbewusstsein“ vermittle. Aber auch die „geschäftigen“ und „getriebenen“ Naturen zählten die Ärzte zu den charakteristischen Konsumenten (Joël & Fränkel 1924: 57–58).

Zum Wesen des Kokainisten gehörten neben konstitutionellen Defekten auch jene Charakterveränderungen, die der regelmäßige Konsum des Alkaloids erzeugte. Maier sah die besondere Gefahr des Kokainismus darin, dass die „ethischen Gefühlsbetonungen [...] rascher und ausgiebiger wie bei anderen Vergiftungen“ litten: „Die Kranken werden egozentrischer, das Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit tritt rasch zurück“. Schenkten die Betroffenen ihr Eigentum wahllos her, dann nicht aus altruistischen Motiven, sondern aufgrund ihrer „wachsende[n] Gleichgültigkeit gegen alles Äußerliche und die gewohnte Ordnung“. Der „Hemmungsaffekt der sexuellen Schamhaftigkeit“ leide ebenso sehr wie die „ethischen Hemmungen“. Sie begingen daher Diebstähle, Einbrüche, Betrügereien und Gewalttätigkeiten. Auch ihr „Gefühl für Sauberkeit und primitive Ästhetik geht rasch verloren; die Kranken werden gleichgültig gegen ihr Äußeres und das Aussehen der Umgebung“ (Maier 1926: 125).

Joël und Fränkel unterschieden die Auswirkungen des Dauerkonsums je nach Applikationsform, wobei sie die Effekte des Spritzens deutlich gravierender einschätzten. Ein so ununterbrochener „Zustand der geistigen Verwirrtheit, ein Zerfall der Persönlichkeit, eine bis zur Auflösung gehende körperliche und seelische Zerrüttung“ sei ihnen selbst bei schweren Kokainschnupfern nie untergekommen. Der „intellektuelle Verfall der Spritzkokainisten“ führe zu einer „völligen Interessenlosigkeit und Stumpfheit“. Gedächtnisprobleme, Konzentrationsschwäche und schwere Demenzen waren die Folge. Aber das Bild der „hochgradigen moralischen Depravation“ stelle sich auch bei Kokainschnupfern ein. Allein die „triebhafte Gier nach dem Gift“ führe zu Gewaltakten, „alle Interessen materieller und ideeller Art“ würden zudem „ohne Rücksicht auf die nächsten Angehörigen der Leidenschaft geopfert“ und diese „häufig mit in den Abgrund gerissen“ (Joël & Fränkel 1924: 51).

Im Klinikalltag begegneten den Medizinern aber nicht nur derartige Extremfälle. Für die Stellung der Diagnose Kokainismus spielten Dauer, Intensität und Häufigkeit des Konsums jedoch eine untergeordnete Rolle, wie die Krankenakten der Psychiatrischen und Nervenklinik der Berliner Charité zeigen. Patienten, die täglich hohe Dosen der Substanz injiziert hatten erhielten ebenso die Diagnose Kokainismus wie jene, die nur in Abständen von ein bis drei Wochen Kokain schnupften oder sogar schon monatelang abstinent waren.Footnote 1 Diese Verfahrensweise deutet darauf hin, dass allein die „eigensinnige“ Einnahme des Alkaloids auch in der klinischen Praxis als Anzeichen für das Bestehen einer konstitutionellen Abweichung betrachtet wurde. Etwaige von den Ärzten registrierte Verhaltensabweichungen waren daher weniger für die Diagnose, sondern eher für die Frage der Prognose und Heilung von Bedeutung (Riechert 1931: 113–115).

Da sich das Wesen des Süchtigen nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden und Parametern erfassen ließ, mussten Mediziner zur Identifizierung devianter Verhaltensweisen im Zuge der Anamnese zwangsläufig auch auf soziokulturell geprägte Vorstellungen von Normalität zurückgreifen. In den 1920er Jahren kursierte in der medizinischen Literatur eine Fülle von Zuschreibungen, die man Süchtigen gemeinhin unterstellte. Eine Auflistung typischer Persönlichkeitsmerkmale, die der Arzt Fritz Kant anhand seiner klinischen Erfahrungen zusammengestellt hatte, enthielt neben Begriffen wie haltlos, weich, willensschwach, lügenhaft, energielos, leichtsinnig, oberflächlich, genusssüchtig, depressiv, gereizt, ängstlich, erregbar, verschlossen, homosexuell und stumpf nur zwei Eigenschaften, die nicht ausschließlich negativ konnotiert waren, nämlich heiter und gesellig (Kant 1927: 104).

Allerdings verloren auch Geselligkeit und Heiterkeit in Verbindung mit dem Konsum von Kokain ihren harmlosen Anschein. Denn es war das bunte und anrüchige Milieu der Halbwelt und Bohème, der Künstler, Prostituierten und Verbrecher, in dem man den Konsum des weißen Pulvers in den 1920ern allgemein verortete. Joël und Fränkel behaupteten, Kokainisten befänden sich

außer in den Heilberufen hauptsächlich in jenen Gruppen, die dem geregelten Erwerbsleben ferner stehen: Müßiggänger aus der literarischen und artistischen Bohème, Spieler, Sportinteressenten, Angehörige der eleganten und der proletarischen Prostitution, Schieber und Schleichhändler, Söldner, Filmstatisten, Kellner, Nachtportiers, Hotelpagen, Kuppler, Zuhälter, Gelegenheitsarbeiter, Gelegenheitsverbrecher, aber auch sehr viel Halbwüchsige, die unverschuldet arbeitslos sind. (Joël & Fränkel 1924: 15–16)

Ganz ähnlich äußerte sich Max Rosenfeld, der angab, unter den Kokainisten befänden sich „vielfach sexuell Perverse (Homosexuelle), Prostituierte und unstete Beschäftigungslose“ (Rosenfeld 1928: 1000). Oft beschränkten sich die Autoren einfach darauf, auf die allgemein bekannte Verbreitung der „Seuche“ in „Halbwelt- und Künstlerkreisen“ zu verweisen (Bleuler 1923: 274). So allgegenwärtig war die Assoziation von Kokainkonsum mit gesellschaftlichen Abweichlern, dass John bei seiner Agitation zur Bekämpfung des Kokainismus daran erinnern musste, dass an der Sucht „zum Teil sogar recht wertvolle Menschen langsam aber sicher zugrunde gehen“ (John 1924: 2397). Diese Verknüpfung zwischen Rotlichtmilieu und Drogen stellte durchaus kein Spezifikum des deutschen Diskurses dar, sondern war auch unter französischen Medizinern äußerst verbreitet (Yvorel 1992: 215; Retaillaud-Bajac 2000: 108). Offensichtlich bot die sinistere Gegenwelt aus Prostitution, Verbrechen und krankhaftem Rauschgiftkonsum ein ideales Projektionsfeld für skandalisierende Berichte, die auf breite öffentliche Resonanz stießen:

Es gibt Kokainhöhlen in Berlin, bessere oder schmutzstarrende Lokale, […] in denen Männer und Frauen aus allen Gesellschaftskreisen, auch Akademiker, Schauspieler usw. Stunden erfüllter Begierde als wesenlose Lebewesen hindämmern, oft ohne tagelang irgendwelche Nahrung zu sich zu nehmen […]. Sie geben, was sie besitzen, selbst notwendige Kleidungsstücke, hin, um das ersehnte narkotische Glück zu gewinnen. Die phantasievollste Schilderung der Nachtseiten des menschlichen Lebens […], die das Herabgesunkensein des Individuums auf ein Niveau, das noch unter dem des Tieres liegt, darstelle, erreiche an Abstoßendem nicht die Höhe des Eindrucks, den eine solche Vereinigung von Verkommenheit in den aktiven Stadien des Kokainismus darbietet. (Lewin 1927: 111)

Seitdem Kokain bei der Morphiumentziehung keine Verwendung mehr fand, galt der Kokainismus unter Ärzten fast ausschließlich als Folge hedonistischen Konsumverhaltens. Die neuartige Sitte des Kokainschnupfens schien diese Sichtweise zu stützen. Bei der „Entstehung und Verbreitung des Cocainismus“, so Joël und Fränkel, sei „das ‚infektiöse‘, das gesellige Moment das entscheidende“. Es wäre ein „in der Geschichte der Genußgifte wohl einzigartiger Fall“, dass mit der „bloßen Änderung der Applikationsweise, hier also mit dem Ersatz der Injektion durch die Prise, eine alte und fast schon abgetane Toxikomanie wieder neu aufkommt, jetzt aber ein anderes Gepräge hat als früher“ (Joël & Fränkel 1924: 17). Hinter diesem anderen Gepräge stand die Vorstellung, dass sich der Kokainismus durch die unkomplizierte und schmerzfreie Aufnahme durch die Nase und die neuen hedonistischen Konsumformen zu einer hochgradig infektiösen Krankheit entwickelt habe. Die Annahme, der Kokainist strebe danach „Proselyten zu machen“, also sein soziales Umfeld ebenfalls zum Kokainschnupfen zu verleiten, gehörte in den 1920er Jahren zum festen Inventar des Krankheitsbilds. In unterschiedlichen Formulierungen tauchte dieses Motiv immer wieder auf. Der Kokainist „schart [sic] sich mit Gleichgesinnten zusammen, er macht Proselyten und darin liegt das Infektiöse des Cocainismus“, erklärte etwa Walther Straub (1926: 1096). Für Hermann Fühner bestand kein Zweifel, dass der Süchtige auch „seine kokainschnupfenden Freunde einlädt, und seinen Ehrgeiz darein setzt, alle recht ‚irre‘ zu machen“ (Fühner 1926: 283). Es handelte sich dabei nicht um ein bloßes sprachliches Bild, wie Maier anmerkte: „Eine Sucht in der Art des Kokainismus muß ähnlich einer Infektionskrankheit betrachtet werden.“ Er forderte daher umfassende behördliche Gegenmaßnahmen, weil „jeder Kokainist selbst eine Infektionsquelle darstellt“ (Maier 1926: VI, 76).

Den Kampf gegen die Ausbreitung der Kokainsucht begriffen die am Suchtdiskurs beteiligten Mediziner somit als Teil ihrer noch weitreichenderen Verpflichtung, die sozialen und biologischen Verfallserscheinungen der Zeit mit wissenschaftlichen Methoden zu erkennen und zu bekämpfen. Neben „pathologischen Leidenschaften“ wie den Suchtkrankheiten zählten dazu auch Homosexualität, „Prostitution, Verbrecher- und Landstreichertum, jugendliche Verwahrlosung und Selbstmord“ sowie Neurosen aller Art, bei denen es sich „um schwere ansteckungsfähige Modekrankheiten handelt, denen […] in den modernen Kulturstaaten durchaus der Rang einer Seuche zuzuerkennen ist, einer sozialen Gefahr, die Anspruch auf die ernsteste Aufmerksamkeit der Forscher und Ärzte hat“ (Reichmann 1924: 61, 67).

Aber wie begründet waren die Ängste vor dem Kokainisten aus der Halb- und Unterwelt? Ähnlich wie im Falle des Seuchennarrativs existierten lange keine statistischen Daten, die diese Vorstellung mit Fakten untermauern konnten. Zunächst verstärkten sich derartige Berichte also eher gegenseitig. Aussagekräftige Daten lieferten erst die Studien von Pohlisch und Wolff. Ihre Ergebnisse ließen sich mit den offiziellen Deutungen aber nur schwer in Einklang bringen. Von der Auswertung seiner Umfrage berichtete Wolff: „Der Hundertsatz der Aerzte und des Heilpersonals ist in Anstaltsstatistiken erschreckend hoch.“ Einige Anstalten teilten ihm mit, „daß die meisten oder fast alle von ihnen behandelten Kokainisten Aerzte gewesen seien.“ Dennoch zweifelte er nicht an der bisherigen Lesart des Problems, sondern schlussfolgerte: „[D]ie niedere Lebewelt und Verbrecherkreise, in denen der Kokainismus ja recht verbreitet ist, scheinen die öffentlichen Anstalten nach Möglichkeit zu meiden“ (Wolff 1928a: 266–267). Pohlischs Untersuchung wies in eine ähnliche Richtung, auch wenn sie in erster Linie Aufschluss über Opiatverbraucher gab. Von den etwa 3.500 von ihm ermittelten Personen mit einem erhöhten Morphium- und Kokainkonsum waren immerhin 560 Ärzte (Pohlisch 1931: 27–29). Wie Wolffs Äußerungen zeigen, lösten diese Studienergebnisse aber kein Umdenken aus. Die eindrücklichen Narrative von Kokainhöhlen, Rotlicht und Bohème hatten sich längst verselbstständigt.

Kokain als Marker für sexuelle Devianz

Diese Vorstellungen bezogen ihre Glaubwürdigkeit unter anderem aus der kausalen Verknüpfung von Kokainkonsum mit sexueller Devianz. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten französische und US-amerikanische Autoren die Verbreitung des Kokains im Prostitutionsmilieu thematisiert und vereinzelte Untersuchungen über die Wirkung des Alkaloids auf die Sexualsphäre angestellt. In Deutschland schenkten die Psychiater diesem Problem erst in den 1920er Jahren mehr Aufmerksamkeit. Ihr einhelliger Tenor lautete, dass der Konsum von Kokain krankhafte Veränderungen des Geschlechtslebens hervorrufe. Da biologistische Denkweisen und bürgerliche Moralvorstellungen die psychiatrischen Konzeptionen von gesunder Sexualität und krankhaften Abweichungen mitprägten, lag die Verknüpfung des Konsums von Rauschmitteln mit devianten Sexualpraktiken nahe.

Über zwei Annahmen bestand unter Psychiatern in den 1920er Jahren allgemeiner Konsens: Kokain wirke auf die Sexualität von Frauen und Männern unterschiedlich ein und dauerhafter Konsum begünstige die Entstehung homosexueller Neigungen. Die Ursachen für diese Veränderungen blieben aber umstritten. Einer der frühesten deutschsprachigen Aufsätze, der diese Problematik streifte, stammte von dem deutsch-britischen Psychiater Wilhelm Mayer-Gross. Er publizierte den Erfahrungsbericht seines Patienten Heinz Schliwa, der lange Zeit Kokain und Morphium in hohen Dosen konsumiert hatte. Schliwa erklärte, dass nach der Einnahme der beiden Mittel erst seine Potenz und bald auch seine Libido verschwand. Erst nach der Entziehung kehrten sie in gesteigerter Form zurück (Mayer-Gross 1920: 229).

Mehrere Autoren bekräftigten in der Folgezeit den Befund, dass Kokain sich abträglich auf die männliche Potenz auswirke. Regelmäßiger Konsum verursache Erektions- und Ejakulationsprobleme und führe schließlich zu völliger Impotenz. Mit der Zeit sinke auch die Libido. Maier sah es zudem als erwiesen an, dass die körperliche Zeugungsfähigkeit der Konsumenten schwinde. Hingegen bleibe die Libido lange noch äußerst aktiv, was zu „phantastischen obszönen Vorstellungen“ führe und die Kokainisten nicht selten zur „Abhaltung irgendwelcher phantastischer Orgien“ veranlasse (Maier 1926: 95–96).

Auf die weibliche Sexualität wirkte das Kokain nach dem Dafürhalten fast aller Autoren auf andere Weise, wodurch sich das moralische Bedrohungspotenzial aber noch erhöhte. Maier erklärte, es komme „ausnahmslos“ zu einer „Steigerung der sexuellen Spannung sowohl in körperlicher wie seelischer Richtung“. Ebenso stelle sich „eine erhöhte affektive Empfänglichkeit für erotische Reize mit entsprechenden Phantasievorstellungen ein.“ Damit aber nicht genug: Weil die Kokainistinnen gleichzeitig „angenehme Reize in der Genitalgegend“ empfänden, falle ihre Schamhaftigkeit fort, so dass selbst gänzlich unerfahrene Mädchen ein „Bedürfnis nach sexueller Betätigung“ entwickelten. Sie stellten sodann „häufig direkte sexuelle Ansprüche an die anwesenden Männer“, ganz egal um wen es sich handle, ungeachtet der Situation und möglicher Folgen. Angesichts dieser „Vervielfachung der sexuellen Genußfähigkeit“ kämen Frauen auch rascher und öfter zum Orgasmus. Daher werde das Kokain „nicht selten benutzt, um Mädchen zu verführen“ und sei besonders beliebt bei Prostituierten und anderen Frauen, „die einen ungeregelten Geschlechtsverkehr treiben“ (Maier 1926: 94–95). Obwohl Frauen laut den Anstaltsstatistiken und gemäß der Fachliteratur eine absolute Minderheit unter den Kokainkonsumenten darstellten, teilten mehrere Autoren Maiers Einschätzungen (Joël & Fränkel 1924: 27; Rosenfeld 1928: 1000).

Darüber hinaus verknüpften die Psychiater eine Fülle weiterer sexueller Abweichungen mit dem Konsum von Kokain. Joël und Fränkel sahen „Hinweise“ für eine allgemeine „Tendenz zur Pervertierung des Geschlechtslebens“ gegeben, wozu sie unter anderem „sadistische, masochistische Neigungen“ und „Voyeurtum“ zählten (Joël & Fränkel 1924: 28; Maier 1926: 110, 118).

Als gesichert galt der Zusammenhang zwischen chronischem Kokainkonsum und Homosexualität. Neben manchen Patientengeschichten sprach auch die Verortung des „Lasters“ im Rotlichtmilieu für diese These. Einer der ersten deutschen Autoren, der auf diesen Zusammenhang aufmerksam machte, war Norbert Marx. Er hatte bei drei „ausgesprochen heterosexuellen Patienten“ der Irrenanstalt Herzberge der Stadt Berlin und drei weiteren Fällen aus der Literatur unter „Einwirkung des Cocains eine Richtungsänderung der Libido in verschiedener Stärke zum eigenen Geschlechte“ registriert und publizierte deren Fallgeschichten im Jahre 1923. Die „Transformation“ der „Vita sexualis“ entstünde durch eine „Dissoziierung der Libido in ihre Komponenten, unter Überwiegen der homosexuellen“. In Anlehnung an Freuds Trieblehre erklärte Marx, das Kokain lockere den libidinösen „Hemmungsmechanismus“ und befreie die „homosexuelle Komponente“, die sich dann „entsprechend der Lockerung der Zensur“ betätige (Marx 1923a: 557–558). Allerdings hatte sich lediglich einer seiner Patienten aktiv homosexuell betätigt. Da Marx überhaupt nur drei Krankengeschichten präsentierte um seine These zu stützen und diese Fälle zudem kaum vergleichbar waren, entzündete sich an dieser Frage bald eine regelrechte Forschungskontroverse.

Fritz Fränkel widersprach Marx’ Theorie umgehend. Das Kokain wirke „auf das Geschlechtsleben in einer bunten Vielfältigkeit“, die keine Gesetzmäßigkeit erkennen lasse. Zudem sei der Geschlechtstrieb konstitutionell festgelegt und lasse sich, abgesehen von „quantitativen Abstufungen“, nicht durch äußere Noxen wandeln. Er und Joël hätten in keinem Fall eine eindeutige Änderung der Triebrichtung feststellen können. Wohl bestehe eine „mehr als zufällige Koinzidenz von Cocainismus und Homosexualität bezüglich des Milieus“, da das Pulver „in allen Lokalen mit homoerotischem Publikum geschnupft wird“. Seiner Ansicht nach veranlasste der Einfluss dieser Umgebung, im Verbund mit der Suggestibilität und dem ekstatischen „Weltumarmungsgefühl“ des Kokainisten, die Beteiligten zu homosexuellen Akten (Fränkel 1923: 64–65).

Marx wies diese Kritik an seiner Theorie der Triebumkehr zurück (Marx 1923b). Auch andere Autoren gaben sich nicht damit zufrieden, diffuse Umweltfaktoren als Erklärung für die unterstellten homosexuellen Neigungen der Kokainisten zu akzeptieren und suchten weiter nach konstitutionellen Faktoren. Dabei konvergierten nicht selten gängige Rollenvorstellungen mit Vorurteilen gegenüber Süchtigen. So konstruierte der Berliner Mediziner Walter Wolf durch die bloße Aufzählung psychischer Eigenarten einen abstrakten männlichen und weiblichen „Volltypus“ und behauptete, dass „akoholistische als auch zu anderen Suchten neigende Männer entsprechend ihrer Weichheit und Bestimmbarkeit als latente Homosexuelle gelten und daß solche unter den direkten und indirekten Vorfahren Homosexueller tatsächlich auch häufig vorkommen“ (Wolf 1925: 11).

Auch der bekannte österreichische Psychiater und Psychoanalytiker Heinz Hartmann glaubte an die Existenz einer „Disposition zum Cocainismus“, die zu einer „Richtungsänderung der Libido“ in Beziehung stehe. Dies geschehe aber nicht durch eine „Lockerung des Hemmungsmechanismus“, wie Marx vermutete, sondern durch eine qualitative Einwirkung des Kokains auf die Triebgestaltung. Da nicht jeder Kokainist homosexuell werde, mutmaßte Hartmann, in der „homosexuellen Triebkomponente“ einen „dispositionellen Faktor […] für die Entwicklung des Cocainismus“ gefunden zu haben. Als zwangsmäßige Triebbefriedigung stehe die Sucht ohnehin in Beziehung zur Neurose und zur „Perversion“. Er hob die Rolle der „disponierenden Bedeutung der Homosexualität auf die Süchtigkeit“ im Falle des Kokains explizit hervor. Der Kokainismus könne als „Ersatzbefriedigung“ betrachtet werden, „welche der homosexuellen Triebkomponente in besonders hohem Grade zu entsprechen scheint“ (Hartmann 1925: 90–94). Eine weitere Hypothese brachten Ludmilla Gatzuk und Hans Hoff ins Spiel, die annahmen, Kokain wirke auf die „Triebzentren“ in den „tiefen Schichten“ des Gehirns und rufe auf diesem Wege eine Veränderung des „Trieblebens“ hervor (Gatzuk & Hoff 1930: 1918).

Angesichts dieser Vielzahl an Theorien sah Hans W. Maier nur eine Lösung, um die „perversen Entgleisungen der Kokainisten“ befriedigend zu erklären. Von Fall zu Fall könnten verschiedene der diskutierten Hypothesen zutreffen: Sowohl das „schwüle, oft mit erotisch abenteuerlichen Phantasien geschwängerte Milieu, wo die Männer mehr oder weniger impotent sind“, die erhöhte Suggestibilität der Kokainisten, der „durch das Gift bedingte Wegfall von Hemmungen“ oder auch das „Manifestwerden sonst unbewußter perverser Triebrichtungen“ kämen gleichermaßen als Ursachen infrage (Maier 1926: 99–100). Kokainistinnen würden hingegen häufig lesbisch, weil „die kokainisierten Männer der gesteigerten Libido der Frauen nicht zu genügen vermögen“ (Maier 1926: 95).

Der Kokainist als Krimineller

Der Hang zum Verbrechertum war der letzte Baustein, der das Bild des devianten Kokainisten komplettierte. Gemeinsam mit anderen „Rauschgiftsuchten“ zählten Psychiater und Forensiker den Kokainismus zu den „disponierende[n] Anlagen und Eigenschaften“ für Kriminalität (Többen 1933: 527). Diese verbreitete Forschungsmeinung beruhte nicht allein auf der Verortung des Konsums im Milieu der Halbwelt, der moralischen Verwahrlosung oder den gewalttätigen Ausbrüchen im Rausch, die man Kokainkonsumenten zuschrieb. Sie speiste sich auch aus dem populären Denkansatz, immer mehr Formen unerwünschten Sozialverhaltens aus ihrem gesellschaftlichen Kontext zu lösen und als pathologische Abweichungen zu klassifizieren.

Gemäß dieser Logik bestand eine große Schnittmenge zwischen Süchtigen und Verbrechern, bedingt durch ihre defizitäre Konstitution. „Psychopathen, psychopathisch Minderwertige, Degenerierte“ – sie alle gehörten laut Karl Birnbaum zur „eigentlichen Kerntruppe des pathologischen Verbrechertums und damit bis zu einem gewissen Grade […] des Verbrechertums überhaupt“ (Birnbaum 1926: 1). Gleichzeitig schien es naheliegend, dass „Gewohnheitsverbrecher […] auf Grund ihrer psychopathischen Veranlagung leichter zum Mißbrauch von Rauschgiften als psychisch normale Individuen“ neigten, womit sich der Kreis der Pathologisierung schloss (Kohfahl 1926: 89). Aus „ihrer pathologischen Wesensart heraus: ihrer Haltlosigkeit, ihrer Unlustempfindlichkeit, ihrer Neigung zu Verstimmungszuständen“ besäßen solche „psychopathische Naturen“ eine „besondere seelische Affinität“ zu Rauschmitteln. Geleitet von ihrem „pathologische[n] Reizbedürfnis“, fügten sie so „der angeborenen psychopathischen Minderwertigkeit eine ähnlich geartete erworbene“ hinzu (Birnbaum 1926: 145, 147).

Der Kampf der Psychiater gegen den Kokainismus erhielt somit eine weitere sinnstiftende Dimension, indem er sich in ihre übergeordneten kriminalbiologischen Bestrebungen einbettete, mit einer „naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise neue und aussichtsvollere Wege zur Bekämpfung des Verbrechens“ zu erschließen oder es am besten schon präventiv zu verhindern (Schultze 1928: 569; Rüdin 1929: 82). Ihre Agitation für eine Gleichstellung des gewohnheitsmäßigen Medikamentenkonsums mit dem Alkoholismus, um sowohl die Entmündigung als auch die zwangsweise Internierung und Entziehung der Betroffenen zu ermöglichen, schienen im Falle des Kokainismus umso berechtigter, weil Kokainisten als besonders gefährlich galten (Meyer 1927: 516). Maier führte dies auf die Giftwirkung zurück: „Infolge Ausschaltung der Überlegung“ komme es zu „Triebhandlungen“, die „nicht selten kriminelle Entgleisungen zur Folge“ hätten. Es sei eine Tatsache, dass „kokainistische Verbrecher besonders gefährlich sind; sie machen bei dem kleinsten Widerstand rücksichtslos, nicht nur gegen ihre Umgebung, sondern auch gegen sich selbst von der Waffe Gebrauch“ (Maier 1926: 127). Der russische Mediziner Aronowitsch berichtete gar von „Einbrecher-Cocainisten“, die das Mittel extra schnupften, um sich Mut zu machen (Aronowitsch 1925: 22).

Laut Birnbaum verursachten die konstitutionellen „Wesensmängel“ der Psychopathen „zwei Formen sozialer Unzulänglichkeit“: eine „allgemeine soziale Verfallsneigung“ und eine „auf Beschaffung des Rauschgifts ausgerichtete kriminelle Tendenz, die aus der krankhaften Sucht selbst hervorgeht“ (Birnbaum 1926: 147–148). Als konkrete Vergehen führte er in diesem Zusammenhang aber nur Rezeptfälschungen an. Auch Joël und Fränkel erwähnten in erster Linie Delikte, die aus den juristischen Einschränkungen des Konsums resultierten, wozu neben Betrügereien mit Rezepten der illegale Handel mit Kokain gehörte. Daran, dass Kokainisten besonders gefährliche Kriminelle sein konnten, ließen aber auch die beiden Berliner Suchtmediziner keinen Zweifel bestehen. Aufgrund ihrer „ethischen Hemmungslosigkeit“ schreckten die Süchtigen zum Beispiel nicht vor „rücksichtslosen Überfällen auf Apotheker“ zurück (Joël & Fränkel 1924: 51).

Neue Perspektiven auf das Narrativ der „Kokainwelle“

Die Analyse der Genese des Krankheitsbilds Kokainismus und dessen normativer Komponenten verdeutlicht die enorme Bedeutung zweier Sachverhalte, die in historischen Darstellungen zur Drogenthematik häufig zu kurz kommen. Erstens wird klar, das heutige Problemwahrnehmungen über Drogenkonsum und Sucht nicht ohne Weiteres auf die Vergangenheit projiziert werden dürfen. Zeitgenössische Vorstellungen und Deutungen über Substanzen, Konsumenten und die Folgen des Konsums, die zum Teil erheblich von aktuellen Auffassungen abweichen, bleiben auf diese Weise unsichtbar. Gleiches gilt für den soziokulturellen Kontext, indem sich die Konstruktion des Krankheitsbilds Sucht und dessen Gefahreneinschätzung diskursiv entwickelte. Rassen- und sozialhygienische Deutungsmuster, kollektive Ordnungsvorstellungen wie Volksgesundheit und Volkskörper, bürgerliche Körperideale, Wert- und Moralauffassungen oder nationalstaatliche und biopolitische Existenzängste nach dem Ersten Weltkrieg dürfen nicht vernachlässigt werden, wenn man herausfinden möchte, wie und warum in jener Phase der deutschen Geschichte erstmals verstärkt über den Konsum psychoaktiver Substanzen wie Kokain und Morphium debattiert wurde.

Berücksichtigt man diese kontextuellen und historischen Besonderheiten, dann ergibt sich zweitens, das die damaligen Aussagen über die Verbreitung des Kokainkonsums und der Suchtfälle nach einer differenzierteren Beurteilung verlangen. Dabei kann es freilich nicht darum gehen, die historischen Akteure der Täuschung oder des Irrtums zu überführen, sondern mögliche Deutungsansätze und Erklärungen für ihre Problemwahrnehmungen und Handlungsweisen zu identifizieren. Umfassende empirische Belege über das Ausmaß des Kokainkonsums in den 1920er Jahren lagen damals wie heute nicht vor. Alle Autoren, die sich zu dieser Frage äußerten, griffen daher auf vereinzelte Aufnahmestatistiken von Kliniken zurück oder thematisierten Einzelfälle aus ihrer ärztlichen Praxis. Konkrete Hinweise auf eine seuchenartige Verbreitung der Alkaloidsuchten ergaben sich aus diesem Material nicht. Die Untersuchungen von Wolff und Pohlisch erfassten zwar ein wesentlich umfangreicheres Datenmaterial, gaben jedoch auch nur über die Entwicklung der Anstaltsaufnahmen und die Morphiumabgabe der Apotheken Auskunft. Auch wenn beide Studien einen enormen Anstieg der Anstaltsaufnahmen oder des Alkaloidverbrauchs ergeben hätten, wäre der Rückschluss auf eine enorme Zunahme des hedonistischen Kokainkonsums voreilig gewesen. Doch die von Wolff und Pohlisch gefundenen Zahlen waren marginal und boten dafür keinen Anlass.

Betrachtet man die normativen und epidemischen Komponenten des Krankheitsbilds Kokainismus vor dem Hintergrund des historischen Kontext, dann ergeben sich alternative Erklärungsansätze für die Entstehung des Narrativs der „Kokainwelle“. Aus dieser Perspektive weisen die Befürchtungen vor einer „Giftseuche“ alle Merkmale einer moralisch überhöhten Drogenpanik auf (Reinarman 2007: 102–107). So wird unabhängig von der ohnehin unbekannten Verbreitung der Sucht verständlich, weshalb medizinische Fachleute wie Hans W. Maier klagten, man spreche „viel von den Schrecken des Gaskrieges“ und denke „oft zu wenig daran, wie die drohende Ausbreitung des Gebrauchs stark toxisch wirkender Mitteln, z. B. des Kokains, zu Genußzwecken sich zu einer viel größeren Gefahr für unsere Bevölkerung auswachsen kann“ (Maier 1926: 254). Der Kokainismus verband nicht nur Vorstellungen von konstitutioneller, psychischer, sozialer und moralischer Devianz, sondern schien sich noch dazu infektiös auszubreiten und die Konsumenten willenlos in die Selbstzerstörung zu treiben. Hinzu kam die Identifizierung des Konsums mit den Milieus gesellschaftlicher Abweichler. So transportierte die Krankheit ein diffuses Bedrohungspotenzial, das die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Fachwelt beständig aufs Neue fesselte, ohne das empirische Belege für ihre enorme Verbreitung nötig waren. Die populäre Vorstellung, exzessiver Kokainkonsum sei in den 1920er Jahren ein gesellschaftlich weit verbreitetes Phänomen gewesen, verdient es daher revidiert zu werden.