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Oskar und Emma statt Romeo und Julia

Vom modernen Schicksal des Liebespaars bei Robert Walser

Oskar and Emma in place of Romeo and Juliet

On the modern fate of the loving couple in Robert Walser

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Gegenwartsdiagnosen sind nicht den Zeitkritikern vorbehalten, sondern zugleich ein Geschäft der Literatur, die freilich ihre eigenen Geschichten der Gegenwart erzählt. Der Beitrag präsentiert exemplarisch eine philologisch-kulturwissenschaftliche Doppelperspektive auf ein, von der Forschung wenig beachtetes, titelloses Prosastück über die Liebe und Literatur in »moderner Zeit« von Robert Walser, das paradigmatisch ist für wiederkehrende Themen und Tonlagen dieses Autors einer ironisch-selbstreflexiven Moderne: Die erst postum veröffentlichte Erzählung wird einerseits über den eruierbaren Intertext, Gottfried Kellers Romeo und Julia-Novelle, auf die betreffende Stoff- bzw. Gattungsgeschichte, andererseits auf den Kontext der Lebensreform-Bewegungen um 1900 bezogen.

Abstract

Diagnoses of the present are not exclusive to theoretical investigations; literature also contributes to them. Literary texts, however, tell us very personal stories of their time. This essay presents a reading of a hitherto neglected prose piece by Robert Walser which provides us with an intriguing account of the modern condition of love and literature. The short text, published posthumously, represents recurring themes and expressions in Walser’s work, belonging to an ironical and highly self-reflective modernity. A double perspective on the narrative is proposed by combining traditional philology with a cultural studies approach: on the one hand, the text is considered with respect to the literary topic of the star-crossed lovers and the genre of the novella, by way of its implicit intertext, i.e. Gottfried Keller’s A Village Romeo and Juliet. On the other hand, the prose piece can be understood within the context of the Lebensreform movements of its time.

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Notes

  1. Vgl. exemplarisch »Romeo und Julia«, in: Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 10. überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart 2005, 802–807, hier: 807.

  2. Zu nennen wären etwa G. J. Weinberger, »Arthur Schnitzler’s Use of Romeo and Juliet in Im Spiel der Sommerlüfte«, Germanic Notes and Reviews 23/1 (Spring 1992), 9–11, oder Laura G. McGee, »Border Crossings: Jurek Becker’s Romeo and Andreas Dresen’s So schnell es geht nach Istanbul«, Literatur für Leser 33/2 (2010), 105–112.

  3. Vgl. Ephraim Kishons Stück It was the Lark (1974), das bei Frenzel (Anm. 1) neben Jean Anouilhs Roméo et Jeanette (1946) und Peter Ustinovs Romanoff and Juliet (1956) fürs 20. Jahrhundert angeführt wird. Zu ergänzen wären mindestens die Bezugstexte der in Anm. 2 aufgeführten Beiträge sowie: Johannes R. Becher, »Romeo und Julia auf dem Dorfe. Nach der gleichnamigen Erzählung von Gottfried Keller«, in: Ders., Liebe ohne Ruh. Liebesgedichte 1913-1956, Berlin 1957, 47–67; Franz Kain, Romeo und Julia an der Bernauer Straße. Erzählung, Berlin 1955; Sarah Kirsch, »Datum«, in: Dies., Rückenwind. Gedichte, Ebenhausen b. München 1977, 35; Swetlana Alexijewitsch, »Von Romeo und Julia … nur hießen sie Margarita und Abulfas«, in: Dies., Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus, aus d. Russischen v. Ganna-Maria Braungardt, München, Berlin 2013, 353–370.

  4. Angefangen bereits mit Roméo et Juliette (1900) von Clément Maurice über Ernst Lubitschs Romeo und Julia im Schnee (1920), George Cukors Romeo and Juliet (1936) und Franco Zeffirellis gleichnamige Version von 1968 bis hin zu Baz Luhrmanns William Shakespeare’s Romeo + Juliet (1996) und John Maddens Shakespeare in Love (1998) – um nur die bekanntesten Versionen zu nennen.

  5. Am ausführlichsten besprochen ist der Text bei Erich Unglaub, »Robert Walser und die Tradition der italienischen Novelle«, Oxford German Studies 14 (1983), 54–72, indes fragwürdig interpretiert unter Ausklammerung jeder Ironie und historischen Relativierung, wie Peter Utz zu Recht kritisiert in seinen eigenen knappen Bemerkungen dazu: »Italianismen vom Kollegen Kartoffelstock. Robert Walsers Auseinandersetzung mit der Novellentradition«, in: Anna Fattori, Margit Gigerl (Hrsg.), Bildersprache – Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser, München 2008, 33–48, hier: 45f.; außerdem Jens Hobus, Poetik der Umschreibung. Figurationen der Liebe im Werk Robert Walsers, Würzburg 2011, 334–337.

  6. In: Robert Walser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben, 20 Bde., hrsg. Jochen Greven, Frankfurt a.M. 1985f., XVI, 414–416. Verweise auf diese Ausgabe im Folgenden unter der Sigle SW mit Bandnummer direkt im Text. Verweise auf die bereits erschienenen Bände der Kritischen Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte, hrsg. Wolfram Groddeck, Barbara v. Reibnitz, Basel, Frankfurt a.M. 2008ff., unter der Sigle KWA.

  7. So vermutet Jochen Greven, vgl. seinen Kommentar in SW V, 273.

  8. Durch Unglaub (Anm. 5), 54f.

  9. So jedenfalls das Ergebnis meiner Versuchsreihe in Lehrveranstaltungen.

  10. Wenigstens »Emma« ist zwar zugleich literarisch prominent, aber der Textzusammenhang akzentuiert das Gewöhnlich-Unpoetische der beiden Namen. »Oskar« nennen sich bei Walser auch der Protagonist von Oskar (SW IV, 163–165) sowie die Dichterfiguren in Tobold (II) (SW V, 224–258) bzw. im Dramolett Dichter (SW XIV, 18–28).

  11. Zu diesem Begriff für die Prägung von Wahrnehmung und Erfahrung, mithin für die Hervorbringung von Welt durch Literatur vgl. Monika Schmitz-Emans, Spiegelt sich Literatur in der Wirklichkeit? Überlegungen und Thesen zu einer Poetik der Vorahmung, Göttingen 1994.

  12. Namentlich – und laut Frenzel (Anm. 1), 804, zuerst – in Pierre Boaistuaus Rhomeo et Julietta in den Histoires tragiques (1559). Bei Masuccio und da Porto (vgl. im Folgenden) kommt der Dolch jedoch nicht vor.

  13. Vgl. Frenzel (Anm. 1), 802f. – Während in Masuccios Novella von Mariotto und Gianozza (nicht ohne Willkür) erstmals die Konstellation mehrerer Kernmotivelemente des Stoffs auszumachen ist, heißen die Protagonisten zuerst bei da Porto Romeo Montecchi bzw. Julia Cappelletti und leben in Verona.

  14. Im Gespräch mit Eckermann vom 29.1.1827, in: Johann Wolfgang v. Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. Erich Trunz, Hamburg, München 1948ff., VI, 726.

  15. Vgl. Paul Ernst, Altitaliänische Novellen, 2 Bde., ausgewählt u. aus dem Ital. übers., Leipzig 1902; für Liebes(paar)geschichten vgl. bes. I, 166–197; II, 95–106, 107–118, 145–172, 245–296. Allgemein zu dieser Sammlung als typisches Unternehmen zu Walsers Zeit, ohne einen direkten Einfluss zu behaupten, vgl. Unglaub (Anm. 5), 61–63, und Utz (Anm. 5), 36.

  16. Vgl. namentlich Die Kellersche Novelle (SW VIII, 23–25; vgl. dazu weiter unten), Stilvolle Novelle (SW XVII, 222–224), Ophelia. Eine Novelle (SW XVII, 279–295), Eine Novelle von Guy de Maupassant (SW XVII, 402–405), Revolvernovelle (SW XVIII, 33–38), Eine Art Novelle (SW XIX, 17-22), Ein Novellelein (SW XX, 53f.), Eine Novelle (SW XX, 358–360), Brief an einen Besteller von Novellen (SW XX, 424–427), sowie Die Künstler (SW VI, 27–35; KWA I.9, 30–37) und Eine Art Erzählung (SW XX, 322–326); zum Großteil besprochen bei Utz (Anm. 5).

  17. Vgl. Utz (Anm. 5), 44f.

  18. Vgl. Utz (Anm. 5), 44.

  19. Vgl. Carl Seelig, Wanderungen mit Robert Walser, neu hrsg. im Auftrag der Carl-Seelig-Stiftung u. mit einem Nachw. versehen v. Elio Fröhlich, Frankfurt a.M., 13. Aufl. 2013, 29.

  20. So hat Utz (Anm. 5) allgemein gezeigt.

  21. Vgl. zuerst Karl Pestalozzi, »Robert Walsers Verhältnis zu Gottfried Keller«, in: Paolo Chiarini, Hans Dieter Zimmermann (Hrsg.), »Immer dicht vor dem Sturze …«. Zum Werk Robert Walsers, Frankfurt a.M. 1987, 175–186, These hier: 185; diesen Ansatz weiterführend, bes. Peter Utz, Ausklang und Anklang – Robert Walsers literarische Annäherungen an Gottfried Keller (= Rede zum Herbstbott 2001). Siebzigster Jahresbericht der Gottfried Keller-Gesellschaft, Zürich 2002, und wiederum im Anschluss daran die Beiträge des Sammelbandes: Ursula Amrein, Wolfram Groddeck, Karl Wagner (Hrsg.), Tradition als Provokation. Gottfried Keller und Robert Walser, Zürich 2012.

  22. Der früheste Text, den Utz als »eine[n] der ersten Texte« Walsers mit expliziter Thematisierung Kellers diskutiert, ist Lesen von 1916 (vgl. Utz [Anm. 21], 14).

  23. Gottfried Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, in: Ders, Die Leute von Seldwyla, Sämtliche Werke in sieben Bänden, hrsg. Thomas Böning, Gerhard Kaiser, Dominik Müller, Frankfurt a.M. 1985–1996, IV, 69–144. Verweise auf diese Ausgabe künftig unter der Sigle Keller SW direkt im Text.

  24. Zur Auffassung von Die Kellersche Novelle (SW VIII, 23–25) als ›Schlüsseltext‹ bzw. ›modellhaft‹ für Walsers Keller-Verhältnis vgl. Pestalozzi (Anm. 21), 177f., bzw. Utz (Anm. 21), 17f., sowie Wolfram Groddeck, »Vom Walde. Robert Walser im Spiegel von Texten Gottfried Kellers«, in: Amrein, Groddeck, Wagner (Anm. 21), 71–82, hier: 74–76. Groddeck insinuiert, der unterschwellig ironische Text, in dem sich der Erzähler vom ›Aufnehmen‹ des edlen Gehalts von Kellers Novelle verjüngt und veredelt fühlt, könne selbst als – freilich auf die zeitgemäße (Zeitungs‑)Kurzform ›verjüngte‹ – Keller’sche Novelle gelesen werden.

  25. Vgl. dazu Utz (Anm. 5), 39.

  26. Konzis zusammenfassend hierzu vgl. Utz (Anm. 5), 35.

  27. Vgl. den Kommentar (Keller SW IV, 690) sowie bes. Jörg Schönert, »Die Tageszeitung als Muse für ›Poetischen Realismus‹: zu Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe«, in: Knut Hickethier, Katja Schumann (Hrsg.), Die schönen und die nützlichen Künste. Literatur, Technik und Medien seit der Aufklärung, Paderborn 2007, 113–122; Michael Titzmann, »›Natur‹ vs. ›Kultur‹: Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe im Kontext der Konstituierung des frühen Realismus«, in: Michael Titzmann (Hrsg.), Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, Tübingen 2002, 441–480.

  28. Zur signifikanten Topografie bzw. Topologie der Erzählung vgl. bes. Alexander Honold, »Vermittlung und Verwilderung: Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe«, DVjs 78/3 (2004), 459–481, und Eva Geulen, »Habe und Bleibe in Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe«, Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft zu Bd. 129 Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur (2010), 253–263.

  29. In diesem Sinn wird der Begriff im Kommentar gedeutet, unter Verweis auf Kellers Verwendung an anderer Stelle (vgl. Keller SW IV, 697).

  30. Vgl. Keller SW IV, 69 bzw. 693; gemäß Kellers eigener Aussage handelt es sich nur um eine stilistische Modifikation (vgl. 693).

  31. Ein analoges Bewusstsein auf Figurenebene blitzt an einer Stelle auf, allerdings bezeichnenderweise nicht in Bezug auf (Novellen‑)Literatur, sondern auf die »süße einfache Liebesliteratur« der Lebkuchen-Sprüche, die Vrenchen und Sali so »zutreffend« auf ihr Leben vorkommen (Keller SW IV, 130). Diese Ironisierung naiver Poetiken der Nachahmung ist für die Eingangsbemerkung des Erzählers zu berücksichtigen.

  32. Vgl. bes. Keller SW IV, 113 (»Sali seufzte und sagte: ›[…]. Ich glaube das Elend macht meine Liebe zu Dir stärker und schmerzhafter, so daß es um Leben und Tod geht!‹«) und 138 (»Indessen aber fieberte das arme Vrenchen immer heftiger an Sali’s Brust; denn schon seit dem Mittag, wo jene Wirtin es für eine Braut gehalten und es eine solche ohne Widerrede vorgestellt, lohte ihm das Brautwesen im Blute, und je hoffnungsloser es war, um so wilder und unbezwinglicher.«).

  33. Vgl. Beatrice v. Matt, »Die Frauen scheiternder Männer bei Gottfried Keller und Robert Walser«, in: Amrein, Groddeck, Wagner (Anm. 21), 95–108, hier: 103f.

  34. Johann Wolfgang Goethe, »Shakespeare und kein Ende!«, in: Ders., Sämtliche Werke, 40 Bde., hrsg. Friedmar Apel u.v.a., Frankfurt a.M. 1985–2013, XIX, 637–650, hier: 648. Entsprechend hat Goethe in seiner Bühnenbearbeitung komische Szenen gestrichen.

  35. Vgl. hierzu etwa Joachim Dyck, »›Jugend hat keine Tugend‹. Zu Heirat und Sexualität in Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe«, in: Klaus-Michael Bogdal, Ortrud Gutjahr, Joachim Pfeiffer (Hrsg.), Jugend. Psychologie – Literatur – Geschichte, Würzburg 2001, 173–178; Arlette Camion, »Kellers ›Augenlust‹. Zu Romeo und Julia auf dem Dorfe«, in: Christiane Solte-Gresser, Wolfgang Emmerich, Hans-Wolf Jäger (Hrsg.), Eros und Literatur. Liebe in Texten von der Antike bis zum Cyberspace, Bremen 2005, 181–189.

  36. Hannelore Schlaffer, Poetik der Novelle, Stuttgart 1993, 33. – Dieser Akzent trifft etwa für Masuccio besonders zu, der entsprechend in einschlägigen Sammlungen wie Damen und Dirnen. Erotische Novellen aus alter Zeit, Hamburg 1963, gut vertreten ist.

  37. Diese Aufladung verdankt sich primär der Schilderungsweise z.B. in folgender Passage: »Die Sonne schien dem singenden Mädchen in den geöffneten Mund, beleuchtete dessen blendendweiße Zähnchen und durchschimmerte die runden Purpurlippen. Der Knabe sah die Zähne, und dem Mädchen den Kopf haltend und dessen Zähnchen neugierig untersuchend, rief er: Rate, wie viel Zähne hat man? […] Nun legte sich der Bursche hin in’s Kraut, das Mädchen über ihn, umschlang seinen Kopf, er sperrte das Maul auf, und es zählte: Eins, zwei, sieben, fünf, zwei, eins; denn die kleine Schöne konnte noch nicht zählen. Der Junge verbesserte sie und gab ihr Anweisung, wie sie zählen solle, und so fing auch sie unzählige Mal von Neuem an und das Spiel schien ihnen am besten zu gefallen von allem, was sie heut unternommen. Endlich aber sank das Mädchen ganz auf den kleinen Rechenmeister nieder und die Kinder schliefen ein in der hellen Mittagssonne.« (Keller SW IV, 76).

  38. Die Lerche, die dann bei Kishon im Titel erscheint, spielt bekanntlich schon bei Shakespeare eine wichtige Rolle: Sie kündigt Romeo und Julia nach der Hochzeitsnacht den anbrechenden Morgen, mithin die Trennung, an (vgl. zu Beginn der Szene III/5).

  39. ›Vogelei‹ / ›Vögelei‹ bzw. ›vogeln‹ / ›vögeln‹ ist bereits bei Grimm in der einschlägigen Bedeutung – literarisch etwa für Goethe – belegt (vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, bearb. v. Rudolf Meszner, fotomech. Nachdr. d. Erstausg. 1951, München 1984, XXVI, Sp. 432f.).

  40. Vgl. generell dazu Utz (Anm. 5), 36f., der als Beispiele Goethes Novelle (Tiger), Kellers Pankraz (Löwe) und Stifters Brigitta (Wölfe) nennt.

  41. Neben »Leutchen« bzw. »Leutlein« (z.B. Keller SW IV, 123, 124, 126, 127).

  42. Im Erstdruck (1856) folgte auf das Referat der Zeitungsnotiz, das in der 2. vermehrten und von Keller korrigierten Auflage von Die Leute von Seldwyla (1874; Textgrundlage der Ausgabe Keller SW IV) den letzten Satz bildet, eine Erzählerpassage, die gegen die Moralisierung der Zeitung moralisiert und die Keller gleich nach Erscheinen als »schnöde[] prosaisch schnarrende Schlußbetrachtung« bzw. »Schlußnergelei« bereute (Keller SW IV, 696). Darin erklärt der Erzähler, »diese[r] und ähnliche Vorfälle, welche alle Tage im niederen Volke vorkommen«, seien vielmehr als »weiteres Zeugniß« dafür zu betrachten, »daß dieses allein es ist, welches die Flamme der kräftigen Empfindung und Leidenschaft nährt und wenigstens die Fähigkeit des Sterbens für eine Herzenssache aufbewahrt, daß sie zum Troste der Romanzendichter nicht aus der Welt verschwindet«, während dagegen »unter den gebildeten Ständen von heute« das »gleichgültige Eingehen und Lösen von ›Verhältnissen‹« grassiere, was »zehnmal widerwärtiger« sei »als jene Unglücks<f>älle, welche jetzt die Protokolle der Polizeibehörden füllen und ehedem die Schreibtafeln der Balladensänger füllten« (abgedruckt in Keller SW IV, 695). Dieses Ende indiziert Salis und Vrenchens Liebe(stod) zusätzlich schichtspezifisch und interpretiert die beiden als Bewahrer eines Gestern im Heute. So gesehen sind die Gestalten, die es bei Walser nicht mehr gibt, bei Keller bereits auf dem Absprung.

  43. Vgl. dazu Dominik Müller, »Robert Walser und die ›andere‹ Schweizer Literatur 1900-1914«‚ in: Peter Rusterholz, Andreas Solbach (Hrsg.), Schweizer Literaturgeschichte, Stuttgart, Weimar 2007, 162–173, hier: 171.

  44. Für einen bilderreichen Eindruck des Aufbruchs im Bereich der Fliegerei, der neben Flugzeugen auch Zeppeline, Ballons und erste (Foto‑)Raketen involvierte, vgl. bes. die entsprechende Sektion im Ausstellungskatalog von Juri Steiner, Stefan Zweifel (Hrsg.), Expedition ins Glück 1900-1914, Zürich 2014.

  45. Vgl. die Überblicksartikel von Dominik Müller und Reto Sorg mit Zusammenstellung bisheriger Forschungsbeiträge in: Lucas Marco Gisi (Hrsg.), Robert Walser Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2015, 283–289 bzw. 290f. – Eine etwas enigmatische Äußerung zum Kubismus findet sich in einem Brief Walsers an Frieda Mermet aus dem Jahr 1925: »Die ehemaligen Hofdamen lesen jetzt kubistische Romane. Die Quelle des Kubismus ist ja ganz selbstverständlich der Vertrag von Versailles und alle seine so einschneidenden Folgen.« (Robert Walser, Briefe, hrsg. Jörg Schäfer unter Mitarb. v. Robert Mächler, Frankfurt a.M. 1979, 236, Nr. 264).

  46. Für diesen Hinweis danke ich Malte Kleinwort.

  47. Vgl. die Wiedergabe des Manifests etwa in: Wolfgang Asholt, Walter Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart 1995, 3–7, bes. die Programmpunkte Nr. 1, 2, 10 und 11.

  48. Vgl. bes. Kai Buchholz u.a. (Hrsg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001. Für die Verbindungen mit der abstrakten Kunst vgl. darin die Beiträge von Sigrid Walther, »Die Lebensreform und Der Blaue Reiter«, in: I, 257–260, und Hilke Peckmann, »Abstraktion als Suche nach neuer Geistigkeit«, in: II, 65–67.

  49. Vgl. bes. den reichhaltigen Sammelband mit Forschungsüberblick von Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hrsg.), Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900, Bielefeld 2016.

  50. Vgl. dazu summarisch Gernot Böhme, »Monte Verità«, in: Lebensreform (Anm. 48), I, 473–476; eingehend etwa Robert Landmann, Monte Verità. Auf der Suche nach dem Paradies, neu hrsg. u. mit einem Nachwort versehen v. Martin Dreyfuss, Frauenfeld 2000; sowie den Band von Andreas Schwab, Claudia Lafranchi (Hrsg.), Sinnsuche und Sonnenbad. Experimente in Kunst und Leben auf dem Monte Verità, Zürich 2001. – Zu den hier aufkreuzenden Schriftstellern und Künstlern gehörten Hugo Ball, Emmy Hennings, Else Lasker-Schüler, Hans Arp, Hermann Hesse, Stefan George und Paul Klee.

  51. Zu ›Echtheit‹ als einem Schlagwort der Lebensreformbewegung vgl. Kai Buchholz, »Begriffliche Leitmotive der Lebensreform«, in: Lebensreform (Anm. 48), I, 41–43, hier: 41; zur Verbindung von Lebensreform- und Jugendbewegung vgl. Peter Ulrich Hein, »Ästhetische Leitbilder der Jugendbewegung und die Vergesellschaftung der Kunst«, in: Lebensreform (Anm. 48), I, 211–214.

  52. Für einen Überblick vgl. Judith Baumgartner, »Antialkoholbewegung. Mäßigkeit oder Enthaltsamkeit?«, in: Lebensreform (Anm. 48), I, 383–385.

  53. In Umlauf gebracht von Erich Mühsam, der den Ort mehrfach aufsuchte und in Ascona. Eine Broschüre (1905) ein spöttisches Porträt der Monte Verità-Klientel geliefert hatte, das er später in seinen Unpolitischen Erinnerungen erneuerte (vgl. Erich Mühsam, Ausgewählte Werke, 2 Bde., Berlin 1978, II, 551f., Zitat: 551).

  54. Z.B. Der Alkoholgegner. Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitte, Reichenberg 1904–1907; Internationale Monatsschrift zur Erforschung des Alkoholismus und Bekämpfung der Trinksitten, Berlin, Bremerhaven 1902–1912; weitere Beispiele bei Kai Buchholz, »Lebensreformerisches Zeitschriftenwesen«, in: Lebensreform (Anm. 48), I, 45–51, hier: 49f.

  55. In der Reihe Jungbrunnen: Klassenlektüre für Schulen und Jugendvereine, herausgegeben vom Verlag des Schweizerischen Vereins abstinenter Lehrer und Lehrerinnen, erschienen später auch Erzählungen wie z.B. Der Kindlifresser von Hedwig Blauler-Waser (ca. 1915), Vollenweiders Süss-Most (1927) von Felix Moeschlin, Eine Heimkehr von Lisa Wenger, Bätziwasser (1930) von Emil Schibli oder In der Krummgasse (um 1940) von Olga Meyer.

  56. Jugend 1902 (Jg. 7), H. 34, 561. In voller Länge: »Einst war’s ein Leben voll von eitlen Wonnen! / Man trank und sang beim Becherklang mit Lust tagaus tagein; / Es schöpften keck aus wohlgebauchten Tonnen / Selbst Nonnen und selbst Bonnen froh ihr Gläschen Bier und Wein. / Heut läuft uns jäh und riesenstark / Ein Schauder quer durch Bein und Mark. / Wir rufen in gerechtem Groll / ›Pfui Alkohol!‹ / Dir, Frada [per Fußnote erklärt: »Der Name ist von den Abstinenzlern eingeführt worden und bezeichnet ›Alkoholfreie Fruchtweine und Fruchtlimonaden‹«], winkt auf ewig Ruhm und Ehre! / Du stählest und beseelest uns mit neuem Geist und Muth, / Enthüllst uns klar die Glut der Stachelbeere, / Entzückst uns und beglückst uns mit der Zwetschge heißem Blut.«

  57. So etwa im erwähnten Beitrag von Hobus (Anm. 5).

  58. Vgl. z.B. Franz X. Eder, Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, 2. aktual. u. überarb. Aufl., München 2009, bes. 187–209.

  59. Vgl. folgende Beiträge in Lebensreform (Anm. 48): Ralf Dose, Ursula Ferdinand, Andreas Pretzel, »Sexualreform«, in: I, 121–125; Annegret Stopczyk, »Ehe und freie Liebe. Zur Frauenbewegung um 1900«, in: I, 127–130; Kai Buchholz, Annette Wagner, »Sexualreform und neues Geschlechterverhältnis«, in: II, 441–459.

  60. Z.B. eine Zeichnung von Max Hagen, die eine Frau in erkennbarer Montur zeigt, untertitelt mit dem Stichwort »Enttäuschung« und dem Ausspruch: »Nun trete ich schon seit 10 Jahren energisch für die freie Liebe ein, aber Keener will mir!« (In: Jugend 1901 [Jg. 6], H. 51, 854).

  61. Vgl. in: Jugend 1908 (Jg. 13), H. 21, 507.

  62. Für den Hinweis auf die Möglichkeit einer direkten Anspielung danke ich Yahya Elsaghe.

  63. Fritz v. Ostini, »Der Dreibund«, in: Jugend 1910 (Jg. 15), H. 1, 3–6.

  64. Vgl. neben Jugend z.B. auch Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben (Dresden, Leipzig, Berlin, Wien 1903/04–1931) und weitere in der Zusammenstellung bei Buchholz (Anm. 54), 49–51.

  65. Vgl. theoretisch z.B. den Beitrag von Cornelius Gurlitt, »Das Nackte in Kunst und Leben«, in: Jugend 1906 (Jg. 11), H. 18, 368–372, welcher der Kunst Vorbildcharakter für die Gewinnung eines ›edlen‹ Verhältnisses zur Nacktheit im Leben attestiert; praktisch u.a. die auf Aktphotografien spezialisierte Zeitschrift Die Schönheit (Anm. 64), deren Bildern ›nach der Natur‹ ihre Vorbilder aus der Kunst anzusehen sind (allgemein zu dieser Zeitschrift vgl. Janos Frecot, »Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben«, in: Lebensreform [Anm. 48], I, 297–301).

  66. Ausführlicher dazu vgl. Vf., Intime Beziehungen. Ästhetik und Theorien der Sexualität um 1968, Göttingen 2016, 7–31.

  67. In Analogie zu Jorge Luis Borges’ Verwendung des Begriffs im Text Kafka und seine Vorläufer, vgl. Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke, hrsg. Gisbert Haefs, Fritz Arnold, München 1999–2009, III, 114–117.

  68. Max Horkheimer, »Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen« (1970), in: Ders., Gesammelte Schriften, 14 Bde., hrsg. Alfred Schmidt, Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a.M. 1985-1990, VII, 385–404, hier: 396.

  69. Horkheimer (Anm. 68), 396.

  70. Horkheimer (Anm. 68), 396f.

  71. Vgl. Unglaub (Anm. 5), 66.

  72. Gumnior spricht Horkheimer darauf an, vgl. in: Horkheimer (Anm. 68), 396, Zitat aus Gumniors Frage.

  73. Zusammenfassend zum »Primat der Schreibtätigkeit vor der Mitteilung« etwa Müller (Anm. 43), 169.

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Weder, C. Oskar und Emma statt Romeo und Julia. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 92, 43–61 (2018). https://doi.org/10.1007/s41245-018-0055-5

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