I. Einführung

Obwohl Scham das Innerste der Person betrifft, ist ihr eine irreduzible Sozialität eingeschrieben: Wir schämen uns vor anderen oder werden von anderen beschämt. Ein Teil der interdisziplinär ausgerichteten und mittlerweile äußerst breiten Forschung zur Schamproblematik interessiert sich deshalb nicht nur für die soziale Struktur der Scham als solcher, sondern auch für ›soziale Scham‹ im Besonderen, für Herkunftsscham und Armut als ›Schaminhalt‹. Dieser spezielle Fokus auf den Zusammenhang von Scham und Armut bringt gegenüber den großen zivilisationstheoretischen und ethnologischen NarrativenFootnote 1 den Vorteil, zur Schärfung der Beobachtung einer historisch variablen Ausprägung der Schamproblematik beizutragen. Sighard Neckels Status und Scham (1991) darf dabei als theoretische Pionierarbeit gelten. Neckel folgt der Annahme, dass der Schamaffekt seine besondere Bedeutung keineswegs nur in vormodernen Gesellschaften entfaltet hat, in denen das symbolische Kapital der Ehre den Status des Einzelnen durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestimmte. Vielmehr macht die individualisierte Leistungsorientierung moderner Gesellschaften Scham strukturell wahrscheinlich und intensiviert gerade den Zusammenhang von Armut und Scham. Soziale Scham ist laut Neckel »als Phänomen der symbolischen Reproduktion von sozialer Ungleichheit zu begreifen«,Footnote 2 und zwar auch deshalb, weil sie andere, explosivere Affekte wie Wut, Hass oder Groll einhegt: »Soziale Scham ist Wahrnehmung, Deutung, Verfestigung von Ungleichheit, Beschämung deren Kontrolle.«Footnote 3 Wenn Beschämung stets die Entdeckung einer Blöße bezeichnet, dann hat der an die Armen gerichtete Imperativ der Scham die weitgehende Unsichtbarkeit der gesellschaftlichen Armut insgesamt zur Folge. Die Konstellation lässt sich als Problem oder als Problemlösung beschreiben: Die Scham der Armen leistet eine für die Gesellschaft unverzichtbare affektive Arbeit,Footnote 4 da sie das Ausmaß von sichtbarer Armut auf ein für alle erträgliches Maß reduziert. Dies bedeutet aber zugleich, dass die Notwendigkeit der Armutsbekämpfung allzu leicht aus dem Blick gerät.

In der Geschichte von Armut und Armenfürsorge ist die Bedeutung der Scham deshalb schon lange bekannt. Wie etwa Bronislaw Geremek gezeigt hat, trug zur diskursiven Steuerung der Sichtbarkeit von Armut bereits seit dem Spätmittelalter die Unterscheidung verschiedener Formen von Armut bei: von einheimischen und fremden, von ehrlichen und unehrlichen und eben auch von schamlosen und schamhaften Armen.Footnote 5 Die Differenz von unverschämten Bettlern und schamhaften Armen trug in der karitativen Praxis der Kirchen und Gemeinden für die Erkenntlichkeit der sozialen Herkunft der Armen Sorge und ermöglichte es, die sympathetische Identifikation mit der Armut unmittelbar mit ihrer Kritik und Disziplinierung zu verbinden. Gerade jenen, die nicht darum bitten, wird aus Mitleid gegeben, während dem Andrang der unverschämt Bettelnden Einhalt geboten werden muss – so das aus der Unterscheidung von verschämten und unverschämten Armen resultierende performative Paradox.Footnote 6 Im 18. Jahrhundert tritt dieses Bewusstsein im Kontext der Empfindsamkeit besonders hervor. So illustriert Daniel Chodowiecki eine Szene aus Laurence Sternes Sentimental Journey (1768/69) mit einem Kupferstich, der den Titel ›Der pauvre honteux‹ trägt.Footnote 7 Darin finden sich die gebende Hand des Reichen und die nehmende Hand des verschämten Armen abseits einer Menge offenbar auf öffentliche Armenfürsorge wartender Bettler mit Bettelstäben.Footnote 8 Der Kupferstich rückt damit auch ins Licht, dass Armut immer als Element einer sozialen Beziehung zu verstehen ist, wie Georg Simmel später darlegen konnte: »Der Arme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes Maß von Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, daß er Unterstützung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte.«Footnote 9

In den Literaturwissenschaften ist Scham unter anderem in Zusammenhang mit der Affect Theory thematisch geworden,Footnote 10 und im Kontext der rege geführten Diskussion über die Autosoziobiografie ist dabei auch das Phänomen der Herkunftsscham in den Fokus gerückt.Footnote 11 Die vorliegenden Überlegungen verorten sich in diesem Horizont. Sie versuchen, die systematische Bedeutung herauszustellen, die das innige Verhältnis von Armutsdiskurs und Schamempfinden in den Selektionsprozessen der literarischen Öffentlichkeit besitzt, und führen hierfür zu einem kanonischen Schauplatz des 18. Jahrhunderts zurück. Ein in der Literaturgeschichte herausragendes Beispiel für die Komplexität der Prozesse, in denen Scham im Hinblick auf die Entstehung, Werkwerdung und Kanonisierung von Literatur zum subjektiven Agenten objektiver Exklusion werden kann, sind die Schriften Ulrich Bräkers (1735–1798). Die Untersuchung des Zusammenhangs von Scham und Armut bei Bräker lenkt die Aufmerksamkeit zudem auf ein bisher kaum beachtetes Prosafragment des Autors.

Wie zunächst gezeigt werden soll, hat die Differenz von schamhafter und schamloser Armut für Bräkers Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg (1789) auf allen Ebenen konstitutiven Charakter: Ermöglicht wird der Roman durch die Rationalität einer Herausgeberschaft, die mit einem schamhaften Subjekt der Armut rechnet. (II) Sein erzählerisches Problem besteht dann in der Gleichzeitigkeit von Inszenierung und Verdeckung der Armut sowie in der Narrativierung einer schuldlosen Scham, die letztlich ins Schweigen führt. (III) In der Rede über den Gassenbettel, die Bräker 1790 auf der Jahresversammlung der Moralischen Gesellschaft des Toggenburg hielt, wird dann sichtbar, dass das Modell einer schamhaften Armut auch für den ungelehrten Redner im sozialen Kontext der Gelehrtengesellschaft verpflichtenden Charakter hatte. Der Gegenstand der Rede eröffnet ihm jedoch Spielraum für eine partielle Identifikation mit der schamlosen Armut, und zwar vermittels der exzessiven Präsentation seines Gegenstands. Die Modellierung eines schamhaften Subjekts in der Lebensgeschichte wird in der Rede über den Gassenbettel konterkariert durch experimentelle Strategien der Beschämung des Publikums. (IV) Abschließend soll die in Bräkers Tagebüchern enthaltene Jauss-Novelle erstmals einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Die Erzählung kreist um den Erotomanen Jauss, der auch von homosexuellen Erfahrungen und sexuellem Missbrauch zu berichten weiß. Initiiert wird dieses uferlose Begehren indes wiederum durch eine Figur schamloser Armut. (V) Dabei reflektiert die Erzählung ihre eigene Möglichkeitsbedingung als Aufhebung jeder inneren und äußeren Zensur, was ihr formal unter anderem durch ein dialogisches Arrangement und damit eine klare Differenz zum autobiografischen Erzählen gelingt. Zugespitzt formuliert: Mit der Jauss-Novelle ist der Autobiograf Bräker erst zum Erzähler gereift. (VI)

Dass diese in jeder Hinsicht erstaunliche, in sich durchaus abgeschlossene Novelle nie vollständig und im Zusammenhang als literarisches Einzelwerk publiziert wurde, führt eindrücklich vor Augen, dass Scham eine Schlüsselfunktion für die Selektionsmechanismen des literarischen Betriebs und seiner Kanonisierungsprozesse besitzt. Das erweist sich im hier zur Diskussion stehenden Material im Übrigen als durchaus philologischer Tatbestand, denn die Abfolge der besprochenen Texte ermöglicht eine schrittweise Annäherung nicht nur an die Erzählstimme Bräkers, sondern auch an seine genuine Schreibweise: Während uns die Lebensgeschichte nur in der vom Herausgeber Füßli stark bearbeiteten Fassung erhalten ist, handelt es sich bei der Rede über den Gassenbettel um ein archivarisch erhaltenes Protokoll, d.h. zwar um keinen autorisierten, aber einen von Streichungen und Ergänzungen wohl weitgehend befreiten Text. In der handschriftlichen Originalfassung liegt einzig die Jauss-Novelle vor, die sich in mehreren Abschnitten in den Tagebüchern Bräkers findet.

II. Scham und Bescheidenheit in der Lebensgeschichte des Armen Mannes (1789)

Bei Bräkers 1789 in Buchform erschienener Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg handelt es sich um den Prototyp eines subalternen Sprechens, sofern als subaltern mit Gayatri Spivak jene Personen bezeichnet werden können, die aufgrund ihrer diskurshegemoniellen Unterworfenheit nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sprechen.Footnote 12 Bräkers Lebensgeschichte ist uns nur durch die Redaktion des Züricher Verlegers Johann Heinrich Füßli (1745–1832) überliefert, dessen Eingriffe erheblich waren, wie sich im Vergleich mit den Tagebüchern zeigen lässt, deren Originalmanuskripte erhalten sind: Füßli korrigiert grammatische Fehler, normalisiert die Interpunktion, ergänzt aber auch unvollständige Sätze, differenziert Tempus- und Modusgebrauch, ersetzt Wortwiederholungen durch andere Ausdrücke und verfeinert vor allem Bräkers additiv-reihendes Erzählen durch neue Konjunktionen und logische Syntagmen. Seine Eingriffe sind darüber hinaus auch semantischer Natur. Füßli reduziert nicht nur religiöse und schwärmerische Passagen, die der unterstellten Entwicklung Bräkers von einer religiös verhafteten zu einer aufgeklärten Geisteshaltung widersprechen. Er versucht Bräker vielmehr als »selbstbewußte, gefestigte, aufgeklärte Persönlichkeit« darzustellen und tilgt hierfür – wie Claudia Wiesmann gezeigt hat – auch viele der notorischen Klagen »über die Mühsal der Berufsarbeit«,Footnote 13 unter der Bräker im Toggenburger Leinwand- und Baumwollgeschäft litt.

Im Kontext des 18. Jahrhunderts erinnert Füßlis Herausgebertätigkeit an ähnliche Konstellationen wie Johann Wilhelm Ludwig Gleims Förderung Anna Louisa Karschs (Auserwählte Gedichte, 1764) oder Christoph Martin Wielands Edition der Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) von Sophie von La Roche, in denen ebenfalls die Natürlichkeit der literarischen Erzeugnisse das primäre Editionsziel darstellte.Footnote 14 Die Edition ungelehrter Autoren ist dabei durchaus im Kontext des entstehenden Genie-Begriffs zu verorten, wobei der Diskurs um das ›Naturgenie‹ aufgrund seiner religiösen Vorzeichen strukturell immer auf mehrere Sprecherpositionen angewiesen war: den enthusiastisch Inspirierten und den interpretierenden Gelehrten.Footnote 15 Die Faszination für die Schreibversuche ungelehrter Autodidakten im Kontext der Volksaufklärung hat eine hiermit vergleichbare Struktur. Der dilettierende Autor Bräker musste daher zwangsläufig um die gelehrte Deutung durch den Herausgeber Füßli ergänzt werden, hätte ohne diesen aber auch tatsächlich niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken können. Für die wechselhafte Geschichte der editorialen Aneignung Bräkers war Füßlis Ausgabe indes nur der Auftakt.Footnote 16

Die Interpretation des Textes betrifft dieser Zusammenhang deshalb, weil die Korrektur und Überschreibung von Bräkers Autobiografie durch den Herausgeber als Anrufung durch die aufgeklärten Autoritäten zum integralen Bestandteil der affektiven und narrativen Dynamiken des Textes selbst wird, wie sich am Zusammenhang von Scham und Bescheidenheit zeigt. So lobt Füßli Bräkers Bescheidenheit im Herausgeberkommentar einer Fußnote:

Leser! Geh’ in dein Kämmergen, schließ die Thür’ hinter dir zu, und erröthe! – und bitte den Vater, der im Verborgenen sieht, um die Blüthe aller Tugenden – um eine solche Bescheidenheit! A.d.H.Footnote 17

Die Vorbildlichkeit Bräkers als armem Mann wird von Füßli am christlich geprägten Ideal der humilitas modelliert. Die Bescheidenheit bzw. Demut Bräkers soll den Leser beschämen – so das affektpolitische Ziel der Publikation.

Doch nicht alleine durch solche paratextuelle Rahmung formt der Scham-Appell die erzählte Geschichte, auch intradiegetisch treten vergleichbare Figuren auf. So findet sich der chronologische Anfang der Niederschrift der Lebensgeschichte gegen Ende des Romans, als ein Mitglied der moralischen Gesellschaft des Toggenburg Bräker beim Lesen und Schreiben ertappt, sich mit ihm anfreundet, ihm seine Büchersammlung zur Verfügung stellt und ihn schließlich zur Teilnahme an einem Preisausschreiben über Baumwollhandel und Kredit bewegt. Bräkers Angst, für seine Ausführungen ausgelacht zu werden, erwidert er mit den Worten: »Schreib du nur zu, in aller Einfalt, wie’s kommt und dich dünkt« (UB IV, 497). Die Reaktion des Ich-Erzählers Bräker auf den Gedanken der Publizität seines Schreibens genauso wie auf den darauf folgenden Vorschlag, ein Mitglied der Toggenburger Aufklärungssozietät zu werden, ist in der Lebensgeschichte Scham:

Hingegen erröthete ich noch immerfort bey dem blossen Gedanken, ein eigentliches Mitglied einer gelehrten Gesellschaft zu heissen und zu seyn, und besuchte sie darum nur selten, und nur wie verstohlen. (UB IV, 498)

Trotz Scham überhaupt zu schreiben, Scham und Schamlosigkeit schreibend zu verknüpfen – dies stellt die poetologische Herausforderung der Lebensgeschichte dar. Bräker bewältigt diese Herausforderung poetisch, indem er die ihm nahegelegte affektive Einstellung durch eine Poetik hyperbolischer Einfalt und Bescheidenheit bestätigt und bis ins Ironische hinein vertieft. Als Reaktion auf die SchamangstFootnote 18 des Erzählers lässt sich die Überidentifikation mit dem omnipräsenten Motiv der humilitas lesen. Vom ersten Satz an zeichnet sich der Erzähler durch ausufernde Bescheidenheitsgesten aus, die hyperbolisch die eigene Niedrigkeit und vermeintliche Naivität noch verstärken: in eine kindliche, aber gleichsam erfreuliche »Blödigkeit«Footnote 19 hinein oder aber in eine immunisierende Steigerung der Scham zum Ekel über das eigene Schreiben, das er abschätzig als »Kuderwelsch« (UB IV, 548) oder »Gickel Gackel meiner bisher erzählten Geschichte« bezeichnet, vor der es ihn »eckelt« (UB IV, 512).

Ist man bereit, diese Überbietung des Schamimperativs durch Bescheidenheit als Strategie zu werten, dann ist Bräkers Lebensgeschichte das Gegenteil eines Bekenntnisses. Sie führt – wie auch Thomas Strack und Pierre Brunel betont haben – vielmehr das Bewusstsein davon vor, dass »die eigene prekäre Identität einen kritischen Umgang mit den ihm verfügbaren autobiographischen Modellen verlangt.«Footnote 20 Bräker ist insofern auch nicht naiv oder einfältig, sondern Einfalt ist der Habitus, den er für seine Autorschaft wählt, den er unter dem Eindruck der Lektüre von Cervantes, Shakespeare, der englischen Satire und der humanistischen Narrenliteratur entwickelt.Footnote 21 Die Poetik der Einfalt ist Resultat einerseits des publizistischen Schamimperativs, andererseits aber auch der literarischen Aneignung und Verfremdung desselben. Sie kann daher – analog zum postkolonialen Diskurs – als MimikryFootnote 22 bezeichnet werden, als Schutzanpassung, die dem subalternen Subjekt überhaupt erst einen Handlungsspielraum eröffnet. Die Form dieser Mimikry lautet bei Bräker: die Verhüllung der Scham durch eine hyperbolische Bescheidenheit. Gerade deshalb, weil der Erzähler der Lebensgeschichte ständig die Gefahr der Beschämung wittert, wird ihm eine radikale Bescheidenheit als die einzige strategisch kluge Handlungsoption notwendig. Mit der Steigerung der humilitas verbirgt er die eigene Blöße und kommt seiner Beschämung zuvor.

Die Überaffirmation der humilitas resultiert bei Bräker jedoch – etwa im Bereich der Rechtschreibung und Zeichensetzung – in einer enormen Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen unwillkürlicher Fehlleistung und poetischer Artifizialität und verschärft damit das hermeneutische Problem der Intentionalität auf besondere Weise.Footnote 23 Bräkers eigene Poetik hat sicherlich ihren Teil dazu beigetragen, dass sich der naive Glaube, er habe nur geschrieben ›wie’s kommt‹ (UB IV, 497), immer Teil der Bräker-Faszination geblieben ist und noch die Bräker-Philologie des 20. Jahrhunderts in die Irre geführt hat.Footnote 24 Seine Lebensgeschichte ist nicht nur Produkt ihres Autors, sondern in besonderem Ausmaß Produkt eines Diskurses, der alle Ungelehrten als ›Volk‹ auf der Seite der Natur verortet hat und ihnen damit zugleich die Fähigkeit zur Kunst absprechen musste. Eine solche, dichotome Struktur war der Volksaufklärung schon deshalb tief eingeschrieben, weil diese in ihren Anfängen zunächst eine ökonomische Bewegung war,Footnote 25 welche das ›Volk‹ immer schon als Naturphänomen, nämlich als ›Bevölkerung‹ konzipierte.Footnote 26 In der Rezeption Bräkers hat dann nicht zuletzt Goethes folgenreiche Begriffsschöpfung des ›Naturprosaisten‹Footnote 27 einiges zu der Behauptung beigetragen, das eigentlich Erstaunliche an Bräker sei nicht, »was er schreibt«, sondern, »dass er schreibt«.Footnote 28 Eine Lektürestrategie, die sich demgegenüber nicht ethnologisch für die Person, sondern für die Schreibweise des Autors Ulrich Bräker interessiert, sieht sich vor diesem Hintergrund zuallererst vor die Aufgabe einer präzisen Bestimmung seiner literarischen Singularität gestellt.

III. Scham ohne Schuld: Der Abbruch der Lebensgeschichte

Zum Problem wird die Überbietungsstrategie des autobiografischen Erzählers der Lebensgeschichte beim Zusammenhang von Scham, Armut und Schuld. Diese kreist nämlich um den ökonomischen Verlauf von Bräkers Leben: Neben der idyllischen Hirten-Kindheit und den berühmten Episoden als preußischer Söldner im Siebenjährigen Krieg wird ihr Rhythmus von der Buchführung der eigenen Wirtschaft diktiert und handelt dabei immer wieder von Momenten der Verschuldung, die den Erzähler beschämen. So heißt es zu der Zwangsvollstreckung des eigenen Hauses:

O! Was das vor ein erbärmliches Specktakel ist, wenn einer so, wie ein armer Delinquent, dastehn – sein Schulden=und Sündenregister vorlesen hören – so viele bittre, theils laute, theils leise Vorwürfe in sich fressen – sein Haus, seine Mobilien, alles, bis auf ein armseliges Bett und Gewand, um einen Spottpreiß verganten [feilbieten, pfänden, R.W.] sehn – das Geheul von Weib und Kindern hören, und zu allem schweigen muß, wie eine Maus. O! Wie fuhr’s mich da durch Mark und Bein! (UB IV, 491)

»Seine« Mobilien werden verpfändet, und es fährt »mich« durch Mark und Bein: Unter der Hand transformiert sich die interne Fokalisierung der autodiegetischen Erzählung hier kurzzeitig in die externe Fokalisierung eines Außenstehenden. Sie inszeniert damit die Beschämung, die sich erst im Angeblicktwerden, durch die Effekte eines Publikums herstellt, in dessen Wahrnehmung die ökonomische Verschuldung als moralische Schuld oder Sünde disqualifiziert wird. Der Nexus von Ökonomie und Moral macht im Roman immer wieder die spezifische Beschämungserfahrung aus, deren Effekt hier nicht zuletzt darin besteht, schweigen zu müssen.

Der moralische Diskurs des Ich-Erzählers der Lebensgeschichte ist jedoch nur sehr oberflächlich von Schuldbewusstsein geprägt. Dass er an seiner eigenen Lage Schuld trage, erweist sich für Bräker, der sich in der Regel als Spielball größerer Zusammenhänge fühlt, nämlich zunehmend als unplausibel. Diese Kontingenzerfahrung eröffnet sich Bräker als Söldner im Krieg ebenso wie als Baumwollhändler und kleiner Verleger in Anbetracht von plötzlichen Preisschwankungen.Footnote 29 Das Bewusstsein von der Kontingenz und Heteronomie des eigenen Lebens, dass nämlich »mancherley Zufälle des Lebens« ihn jederzeit »aus meiner Fassung bringen« (UB IV, 533 f.) können, führt zwar zu dem Entschluss, »so zu wandeln, daß mir wenigstens mein Gewissen keine Vorwürfe mache, daß durch meine Schuld etwas versäumt worden« (UB IV, 534). Diese Pflege des Gewissens geschieht jedoch aus prophylaktisch-psychohygienischen Gründen und nicht, weil Bräker den Appell der Selbstverantwortung tatsächlich internalisiert hätte. Vielmehr gibt ihm erst die Abwesenheit von Schuldbewusstsein die Möglichkeit der Distanzierung von der eigenen Beschämung.

Kulminationspunkt dieser Dynamik ist der vorletzte Abschnitt der Lebensgeschichte, der mit ›Meine Geständnisse‹ überschrieben ist. Nach der Lektüre der beiden im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gattungskonstitutiven Autobiografien von Johann Heinrich Jung-Stilling (Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte, 1777) und Jean-Jacques Rousseau (Les Confessions, 1765–70) fühlt sich Bräker verpflichtet, auch sein eigenes Leben noch einmal in die Form des Geständnisses zu kleiden. Er liest die modernen Autobiografien also dezidiert im Sinne der im Pietismus massiv kritisierten Institution der Beichte, reuevolle Geständnisse wollen ihm dann aber nicht gelingen: Die erinnerten Affären wachsen sich unter der Hand zur Prahlerei aus, sodass Bräker seine Geständnisse schließlich abbricht mit den Worten: »ich merke wohl, ich fange an meine Tugenden zu mahlen – und sollte meine Fehler erzählen.« (UB IV, 530) Die Form des Geständnisses erweist sich für Bräkers theologische Anschauungen als sinnlos: »Er kennet mich ja, und weißt was für ein Gemächt ich bin.« (UB IV, 531) Einlassungen wie diese machen deutlich, dass der Modus der literarischen Selbsterzählung, den Bräker für sich wählt, nichts mit der Performanz von Reue zu tun hat, wie sie die Tradition der Bekenntnisliteratur seit Augustinus nahelegen würde.Footnote 30 Selbst eine Prügelei schildert Bräker mit dem gelassenen Zusatz, er habe »ziemlich gerechte Ursachen [gehabt,] böse zu werden« und sich daher »nie starke Vorwürfe gemacht« (UB IV, 528).

Die Spannung zwischen dem publizistischen Schamideal und seiner ästhetischen Überbietung, zwischen ökonomischer Beschämung und moralischer Unschuld generiert in Bräkers Lebensgeschichte ein literarisch produktives Oszillieren zwischen Scham und Schamlosigkeit, das jedoch nach etwa zwei Dritteln des Textes an einen kritischen Wendepunkt kommt, und zwar mit der Insolvenz Bräkers als später Folge der Krisenjahre 1770/71, in denen er auch zwei seiner sieben Kinder verloren hat.Footnote 31 In seiner Notlage wendet sich Bräker mit einem Brief an den von ihm bewunderten Johann Caspar Lavater.Footnote 32 Die abermalige Rekapitulation seiner Biografie mündet dabei in die nochmalige Rechtfertigung des eigenen Schreibens: »Gesteh’ ihnen deine Not und deine Thorheit, schäm’ dich deines Elends nicht, und schütte deinen Kummer in ihren Schooß aus« (UB IV, 507) – so Bräker im Brief an Lavater zu sich selbst. Mit der Formel »Noth macht frech« (UB IV, 507) fasst Bräker die Einsicht zusammen, dass Armut fast zwangsläufig zu Schamlosigkeit führen muss, nämlich zu Bettelei, und unterschreibt den Brief schließlich schamlos bettelnd als »Der in den letzten Zügen des Elends liegende, arme, geplagte Tockenburger« (UB IV, 507).

Der Brief an Lavater kann als pars pro toto, als Reflexion und zugleich als Umschlagpunkt des Romanganzen verstanden werden: Die Rationalität der Publikation insgesamt verfolgt schon mit dem von Bräker selbst konzipierten Titel die Inszenierung Bräkers als arm und verschafft ihm insofern Spielraum für die narrative Distanzierung von der eigenen Beschämung, die ästhetische Affirmation der Armut, die Umdeutung der Schande in Stolz. Diese Umdeutung jedoch läuft Gefahr, als strategisch und als unverschämte Bettelei wahrgenommen zu werden, und deshalb kommen Bräker auch beim Lavater-Brief Zweifel:

[…] allein bey mehrmaligem Lesen und Ueberlesen desselben, wollt’ er [der Brief] mir nie recht, und immer minder gefallen; als ich zumal mittlerweil’ erfuhr, wie der theure Menschenfreund Lavater von Kollektanten, Betlern und Betlerbriefen so bestürmt werde, daß ich auch den blossen Schein, die Zahl dieser Unverschämten zu mehren, vermeiden wollte. (UB IV, 508)

Den verschämten Armen Bräker unterscheidet von den unverschämten Armen nur die momentane Entscheidung der Selbstentblößung, die er dann eben doch meidet. Im Kontext des nicht abgeschickten, aber abgedruckten Lavater-Briefes wird deutlich, weshalb für Bräkers stets nach oben gerichtete Sprecherposition die Desidentifikation von den unverschämten Armen eine existenzielle Notwendigkeit, aber auch ein Problem darstellt. Der Ich-Erzähler besinnt sich auf seine Scham, verliert dabei aber das Motiv seines Schreibens, nämlich die Emanzipation von seiner Beschämung. Durch die Verdopplung der Kommunikationssituation im Brief an Lavater wird reflexiv, dass die Publikation der Lebensgeschichte für ein bürgerlich-gebildetes Publikum selbst als Beschämung verstanden werden kann – als bettelnde Entblößung vor dem schamlosen Blick der Öffentlichkeit.

Das närrische Spiel mit der Bescheidenheit kann die Gewalt, die in der rigorosen Hierarchie dieser Blickachsen liegt, von diesem Zeitpunkt an nicht mehr auffangen. Die ohnehin prekäre Erzählfunktion des autobiografischen Romans scheint nun endgültig beschädigt,Footnote 33 wie sich an den resignativen Überschriften der folgenden Kapitel zeigt: Diese lauten ›Dießmal vier Jahre‹, dann ›Wieder vier Jahre/Allgemeine Übersicht‹, danach ›Und nun, was weiters?‹; schießlich nur noch ›Also?‹, bevor das schon erwähnte Kapitel ›Meine Geständnisse‹ mit dem Versuch eines Neuanfangs scheitert und sich das Erzählen im letzten Abschnitt ›Von meiner gegenwärtigen Gemüthslage. Jtem von meinen Kindern‹ (vgl. UB IV, 507–531) in ein intrafamiliales Sprechen zurückzieht. Diese letzten Seiten, die sich in der zweiten Person an jedes einzelne Kind Bräkers richten, stellen einen Abbruch des öffentlich-literarischen Sprechens und eine Wendung ins Private dar. Die finale Umadressierung des Textes ist für Bräkers Lebensgeschichte insofern konsequent, als diese von Beginn mehr Familienchronik als pietistische Selbstbeobachtung war, worauf schon Günter Niggl hingewiesen hat.Footnote 34 Die Wendung in die zweite Person muss aber auch als Folge einer Desillusionierung jener Spielräume gewertet werden, die sich aus der von Bräker erzählerisch angenommenen Rolle des schamhaften Armen ergeben haben. Mit dem Lavater-Brief zerbricht die Lebensgeschichte an der Differenz von schamhafter und schamloser Armut: Sie ist es, die den autobiografischen Roman editorisch zunächst ermöglicht, die dem Erzähler seine genuine, zwischen Scham und Schamlosigkeit alternierende Stimme verleiht, die ihn schließlich aber auch wieder zum Schweigen bringt. Schweigen ist die einzig konsequente Kommunikationsform der Scham.

IV. Die Rede über den Gassenbettel (1790) als Beschämung des Publikums

Die Differenz von schamhafter und schamloser Armut ist auch in Bräkers Rede über den Gassenbettel präsent, wobei hier eine veränderte Dynamik zu beobachten ist. Im Kontext der Toggenburger Lokalgeschichte wird deutlich, dass bei der Frage der Armenfürsorge noch mehr, und zwar in letzter Konsequenz die Frage der konfessionellen, ökonomischen und politischen Einheit der Gemeinde auf dem Spiel steht. Dabei sind in der rhetorischen Gestaltung der Rede formale Konsequenzen zu beobachten, die mit dem emphatischen Voraugenführen der Figur des schamlosen Bettlers in Beziehung stehen und im Verhältnis zur Lebensgeschichte als partielle Umkehrung der Beschämungsgewalt bezeichnet werden können.

Bräker hielt die Rede 1790 zur Jahresversammlung der Toggenburger Moralischen Gesellschaft. Wie andere gelehrte Gesellschaften der Zeit geriet die Moralische Gesellschaft des Toggenburg, die in erster Linie als eine Art Leihbibliothek fungierte,Footnote 35 Ende der 1780er Jahre unter Druck, sich in eine gemeinnützige Gesellschaft umzuwandeln, und löste sich in den Jahren nach Bräkers Rede auf. Bräker, der als einziges Mitglied nicht einstimmig in die Gesellschaft aufgenommen worden war, bezieht sich in seiner Rede auf eine 1784 erschienene, anonyme Schrift mit dem Titel Der vernünftig-barmherzig Toggenburger. Die geistliche Flugschrift, die im Staatsarchiv St. Gallen aufbewahrt ist, greift das bis auf die Bettelorden des Spätmittelalters zurückgehende Paradox auf, dass ein Übermaß der Almosenvergabe die Armutserscheinungen im Endeffekt vermehren kann. Sie kreist um dieses in der Frühen Neuzeit omnipräsente Phantasma einer fiktiven, nämlich »erlogenen Noth« und warnt entsprechend nicht vor der Armut, sondern vor »unvernünftig=barmherzige[n]« Menschen und »grausame[r] Barmherzigkeit«.Footnote 36 Dem Verfasser schwebt neben einem rigorosen Almosenverbot ein »Zucht= und Arbeitshaus« vor, in das »Vaterlandslose aufgenommen, und zur Arbeit, die ihnen möglich, angehalten würden« – eine seit dem frühen 17. Jahrhundert in allen europäischen Ländern gängige Praxis der Armenfürsorge: »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen«.Footnote 37 Diese fremden Armen sind hier im Übrigen Deutsche, schließlich wolle niemand »das Vaterland zum Schlupfwinkel des Auswurffs der deutschen Nation machen«.Footnote 38

Bräker hat den Text auch in seinen Tagebüchern erwähnt (vgl. UB II, 766–771), ihn offenbar als Klage über die Armut und als Aufruf zum Handeln der Gemeinden verstanden und war deshalb unzufrieden damit, dass sich die Situation seither nicht geändert hatte. Die Rede über den Gassenbettel folgt diesem Referenztext nicht im Detail, verweist an ihn jedoch alle pragmatisch-politischen Fragen. Dabei greift Bräker die Unterscheidung von schamlosen Armen und solchen auf, die »zuschamhafft und zu ehrlich sind, betlen zu gehen« (UB III, 567). Unter der Voraussetzung einer notwendigen Desidentifikation von der unverschämten Armut wird auch bei ihm die Empörung über die Armut und die Empörung über die Armen beinahe ununterscheidbar. Dieser Gefahr, statt der Armut die Armen zu bekämpfen, waren seit der diesbezüglich epochalen Abhandlung De subventione pauperum (1526) von Juan Luis Vives nur wenige sozialpolitische Programme entgangen.Footnote 39

Indes unterscheidet sich Bräkers Rede von der Schrift, auf die sie sich beruft, maßgeblich dadurch, dass die Ausmalung der gegenwärtigen Lage einen viel größeren Raum einnimmt und diese sprachliche Vergegenwärtigung der Armut durch die moralisch-religiöse Bindung des dargebrachten Stoffs nicht mehr aufgefangen werden kann. Beim Versuch, die schamhafte Armut zu verkörpern, gelingt es Bräker nicht, das Wissen davon zu dissimulieren, dass mit dem Ausmaß der Armut auch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Schamlosigkeit nicht vermieden werden kann. Die Haltlosigkeit der Unterscheidung von schamhafter und schamloser Armut erweist sich im Versagen ihrer textuellen Ordnungsfunktion, und deshalb entfaltet sich in den argumentativen Aporien der Rede ein Exzess der Beschreibung: So greift Bräker zunächst die fremden Armen an, stellt aber gleichzeitig fest, dass es sich bei einem Großteil des Gassenbettels doch um »unsere Mitlandleuthe« (UB III, 566) handelt. Er beschimpft die arbeitsunwilligen Bettler, bemerkt aber doch, dass viele von ihnen unverschuldet verarmt sind. Schließlich stehen den schamlosen Armen genauso viele schamhafte Arme gegenüber, und es entsteht der Eindruck, dass überhaupt nicht die qualitative, phänomenale Unterscheidung der Armen, sondern vielmehr ihre insgesamt große Zahl das eigentliche Problem darstellt:

Wir sehen also täglich ganze Horden herum wandernder Betlen auf unsern Landstraßen, Gaßen und Nebendwegen, vor allen Häusern herumziehen, sonderheitlich hie in dem Mittelpunkt des Landes. Hier ist der Gaßenbettel fast bis ins unausstehliche angewachsen. Wir sehen ganze Famillien, Mann und Weib mit einem Häufgen Kinder herumziehen. Sehen oft Baumstarke Kerls, die unter allerhand erdichteten Vorwänden Collecte sammlen. Sehen Frauen und erwachsene Töchtern, die sich zu allem, nur zur anstrengender Arbeit nicht möchten brauchen laßen. Wir sehen auch alte kreüchende Greise, aber weit mehr, ja eine Menge unerwachsene Kinder, halb nackend, ja gar Truppen weise, gar kläglich vor unsern Thüren ihr Brodt suchen. [...] (UB III, 563)

Während Bräkers Schreibweise in der Lebensgeschichte des Armen Mannes durch den Herausgeber Füßli moderiert, zensiert und somit eingehegt erscheint, wurde Bräkers Rede vom Sekretär der Toggenburger Moralischen Gesellschaft Johannes Hartmann protokolliert.Footnote 40 Dieser hat sich um eine Normalisierung der Interpunktion und eine Vereinheitlichung der Rechtschreibung offenkundig nicht im selben Maße bemüht wie Füßli bei der Lebensgeschichte, und insofern ist davon auszugehen, dass er sich nicht in ähnlich manipulativer Weise zum Mitautor des Textes gemacht hat.

Umso interessanter ist der Blick auf die narrative Form der Rede. Bemerkenswert an dieser sind nämlich weniger ihre kanonischen sozialpolitischen Topoi als vielmehr die literarische Form, in die Bräker dieselben kleidet: ein parataktisches Erzählen, das rhetorisch als accumulatio lesbar wäre, die Angemessenheitsgebote von decorum und aptum jedoch erheblich überdehnt. Durch das notorische ›wir sehen‹ soll zugleich Evidenz hergestellt werden, allerdings eine Evidenz, die sich mit der Ratlosigkeit vor dem Problem des »überlauffens« (UB III, 564) der akkumulierten Armut verbindet, welche sich wiederum in der Häufung von Zahl- und Mengenwörtern Ausdruck verleiht. Form und Gegenstand begegnen sich gerade im Gegenstand der massenhaften und durch ihre Schamlosigkeit sichtbaren Armut. Um diese Vermassung der Armut diskursiv zu kontrollieren, bleibt die Differenz von schamhafter und schamloser Armut orientierend:

Es giebt aber auch bey Hundert Haußarme, die sich mit ihrer Handarbeit bey diesen klamen Zeiten zwar knap genug ernähren, die zuschamhafft und zu ehrlich sind, betlen zu gehen, und 100. andre die unverschamt und frech genug sind, lauffen dem Betel nach, die es viel weniger nöthig hätten, als jene die sich schämen. (UB IV, 567)

Syntaktisch bildet der Einsatz des Parallelismus nicht einfach nur ein stilbildendes Merkmal, sondern wird zu ihrem entscheidenden Strukturprinzip, und zwar vor allem mittels einer Reihung von Fragesätzen. Nicht weniger als drei Seiten lang erstreckt sich eine einzige Serie von rhetorischen Fragen und gelegentlich kurzen Repliken, wobei auffällt, dass der Protokollant dabei über den grammatischen Aufbau der Argumentation selbst den Überblick verliert und das Fragezeichen regelmäßig vergisst:

Gereicht aber diese übel geordnete Wohlthätigkeit uns zur Ehre? […] Jst es uns rühmlich? […] Sind aber vorbeschriebene bey dem ungebundenen Gaßenbetel die einzigen schlimmen Folgen. Mir dunkt, die allergeringsten, wenn wir betrachten, welch unersetzlicher Schaden nach Seel und Leib vor sie und uns daher entspringt. Welch eine Menge moralischer und physischer Uebel entstehen aus dieser heilloßen Lebensart. Sehen wir nicht eine Menge unmündiger bedaurenswürdiger Jungen in der zügelloßesten Wildheit aufwachsen, viel ärger als das liebe Vieh. (UB IV, 564–565)

Ähnliche stilistische Eigenschaften weist auch der zweite Teil der Rede über den Gassenbettel auf, der nicht mehr von Armut, sondern von ihren politischen Ursachen und Kontexten handelt. Unter dem Stichwort »Friede und Einntracht« (UB IV, 568) trägt Bräker eine Reihe von regionalen Streitfragen zusammen: Als »Alpenhandel« (UB IV, 572) bezeichnet er den Streit zwischen Unter- und Obertoggenburgern um die Nutzung und Verwertung der gemeinschaftlichen Allmenden.Footnote 41 Diese ökonomische Spaltung der Gemeinde in zwei Interessensgruppen geht mit einem politischen Streit einher. Wenn Bräker neben der Streitsucht der Toggenburger mangelndes Vertrauen in die Landesväter und ein »übelgeordnetes Streben nach Freyheit« (UB IV, 572) dafür verantwortlich macht, dass der Landschaft der Verlust von Privilegien drohe, dann bezieht er sich auf einen regionalen Injurienkonflikt,Footnote 42 der die Reformierten und die Katholiken unter den Toggenburger Geistlichen entzweite. Einhergehend mit den revolutionären Ereignissen in Frankreich dürfte hier jedoch auch die prinzipielle Möglichkeit weitreichender konstitutioneller Veränderungen im Raum stehen, zu denen es in der Ostschweiz beginnend mit dem Stäfner Handel ab 1795 bald darauf kommen sollte. Zu guter Letzt betrifft das Thema der Spaltung und des Streits auch die Moralische Gesellschaft des Toggenburg selbst, die seit der selbstkritischen Rede des Landratsschreibers Joseph Meyer 1787 zerstritten war und seitdem Gefahr lief, in »zwey Gesellschaften« (UB IV, 574) zu zerfallen, zwischen denen Bräker sich in der Rede aber nicht entscheiden will.Footnote 43 Die grundlegende Problematik der ökonomischen Spaltung der Gesellschaft zwischen Armut und ReichtumFootnote 44 (der Gassenbettel) wird also um die Frage des Gemeineigentums (Unter- vs. Obertoggenburg, Privatisierung vs. Allmende), eine rechtlich-konfessionelle Spaltung der Gemeinde (Reformierte vs. Katholiken) und eine institutionelle Spaltung (der Moralischen Gesellschaft selbst) erweitert und vertieft.

Das Gewicht der historischen Kontingenz, das auf der Rede und ihrem Redner lastet, könnte also kaum größer sein. Das Problem der Armenfürsorge erweist sich insofern als abhängig von der Frage nach der politischen Einheit der Gemeinde, es erscheint rückblickend sogar als argumentatives Vehikel, dessen anschauliche Drastik den Appell zur Einheit besonders effektiv transportiert. Die Klage über die Zwietracht unter der Toggenburger Bevölkerung steigert sich jedenfalls zu einem ebenso eindrücklichen Lamento, dessen Satzbau sich einer grammatisch korrekten Verschriftlichung jedoch widersetzt:

[I]n einem Lande, wo immer Argwohn und Mißtrauen herrscht. Wo kein Stand dem andern traut. Wo alle Stände fehlen, und doch keiner der Fehlerhafte seyn will. Wo jeder des andern seine Fehler bemerkt, und hoch anschreibt, aber seine eigene Fehler nie sehen will. Jn einem Land, wo so viele Sprecher sind, vnd vielleicht mehr als die Helfte davon Schaafköpfe, oder schlecht belehrte Habrechte sind. Wo jeder seine besondre Meinung hat, und seine Einsichten vor die Besten hält, und keine Belehrung annehmen will. O! In einem solchen Lande, muß und wird es immer happern. (UB IV, 571)

Wie schon zuvor entscheidet sich der Protokollant hier für eine Interpunktion, die aus einem einzigen grammatischen Syntagma mit mehreren Relativsätzen sechs syntaktisch unvollständige Sätze kreiert. Bräker selbst hat beim Schreiben auf Interpunktion weitgehend verzichtet, allerdings nicht, weil er sie überhaupt nicht beherrschte, sondern weil er seit den 1770er Jahren seine Texte vorzugsweise intuitiv mit Querstrichen strukturierte. Ähnlich wie die ungewohnte Diphtongierung einiger Wörter bei Bräker gerade nicht der Schweizer Mundart folgt, sondern aus dem Versuch resultiert, der hochsprachlichen Norm zu entsprechen (»weinter«, »feinden«, »keinder« u.a.), so imitiert er auch beim Einsatz von Gedankenstrichen zunächst stilistische Vorbilder und verzerrt dabei das Ideal bis ins Groteske hinein.Footnote 45 So erinnert Bräkers Gebrauch des Gedankenstrichs zunächst an das von Zeitgenossen spöttisch bedachte ›Lavaterisieren‹, d.h. den bei Johann Caspar Lavater und seinen Bewunderern beobachtbaren Versuch, der Schrift selbst durch die Intensivierung der Interpunktion eine lesbare Physiognomie zu verleihen.Footnote 46 Gedankenstriche, Ausrufungs‑, Auslassungs- und Fragezeichen finden sich hier oft auf engstem Raum gedrängt, um dem Gefühl mittels eines expressiven Interpunktionsstils Ausdruck zu verleihen. Die Eigentümlichkeit von Bräkers Schreibweise ist jedoch mehr als ein ungeschickter Nachahmungsversuch. Vielmehr hat der regelmäßige Gebrauch des Gedankenstrichs als universellem Satzzeichen bei gleichzeitigem Verzicht auf alle anderen Satzzeichen bei Bräker eine nivellierende Funktion und ermöglicht ihm eine größere Weitläufigkeit im Satzbau und Textfluss. Gerade diese Kapazität zur Ausdehnung einzelner Satzteile, die den Möglichkeiten der mündlichen Rede entspricht, macht sich Bräker in der Rede über den Gassenbettel, aber auch in seinen Tagebüchern zu Nutze.

Mag Bräker auch behaupten, dass er einfach nur »von der Leber weg rede, wie es mir um das Herz ist«, sodass seine Rede »aus einfältigem, redlichem Herzen fließt« (UB IV, 569), so dient dieses den Status der eigenen Sprache naturalisierende Argument doch in erster Linie der Legitimation der vorgebrachten Gegenstände. Tatsächlich zeigen die zitierten Passagen, dass Bräker das Argument der Natur, der Blöße und Nacktheit der eigenen Rede, zur Entfaltung einer Poetik einsetzt, die mittels Parataxe und Parallelismus darauf abzielt, ihren Gegenstand so plastisch wie möglich vor Augen zu stellen. Diese antirhetorische Rhetorik konnte sich Bräker nur teilweise aus Sturm und Drang oder Empfindsamkeit abschauen.Footnote 47 Neben einer Poetik des Ausdrucks spielt dabei auch ein Moment von Zeugenschaft mit, denn die Armut, über die er spricht, kann Bräker im Kontext der gelehrten Gesellschaft als einziger selbst beglaubigen und verkörpern.

In der Rede über den Gassenbettel spricht Bräker nicht mehr als Autobiograf, sondern als politisch-unterhaltender Jubiläumsredner. Als solcher zieht er sich argumentativ zwar erneut auf den Standpunkt der schamhaften Armut zurück, doch muss gefragt werden, ob die beschriebene poetische Bewegung in Kombination mit dem Gegenstand der Rede nicht eine andere Dynamik annimmt, die sich als Umkehrung der Beschämungsgewalt beschreiben ließe. Auf die besondere Bedeutung einer Wirkungsästhetik deutet bereits hin, dass Bräker sich zu Beginn der Rede vornimmt, das Publikum »vor dem Gähnen und einschlummern zu verwahren« (UB IV, 561 f.). Der Gegenstand einer in jeder Hinsicht schrecklichen und bedrohlichen Armut scheint dafür durchaus geeignet, birgt jedoch in seinem appellativen Charakter das Potenzial, das Publikum, d.h. die Bräker sozial überlegenen Anwesenden der Moralischen Gesellschaft, zu beschämen. In der Lebensgeschichte bestand das editorische Ziel der Publikation in der moralischen Beschämung des Lesers durch die vorbildliche Bescheidenheit der Figur Bräker, während sich der Erzähler in der Adresse der Familie am Ende demonstrativ vom Publikum abwandte. Über sein literarisches Ideal-Publikum reflektiert Bräker in den Tagebüchern als »pöbel«,Footnote 48 diese horizontale Kommunikationssituation bleibt jedoch imaginär und insofern auf das Selbstgespräch der Tagebücher beschränkt. Die Rede über den Gassenbettel jedoch experimentiert durch die exzessive Präsentation ihres Gegenstands mit der politischen Beschämung des moralischen Publikums, mit der Beschämung durch die rhetorisch exponierte ›Wirklichkeit‹ jener Armut, die der Redner Bräker selbst verkörpern und beglaubigen kann.Footnote 49

V. Schamlosigkeit in der Jauss-Novelle

Während die Lebensgeschichte durch die Edition Füßlis geht und die Rede über den Gassenbettel vom Gesellschaftssekretär protokolliert wurde, offenbart sich die tatsächliche Schreibweise Bräkers in den Tagebüchern. Allerdings haben selbst die Herausgeber der neuen Ausgabe von Bräkers Schriften durch die konsequente Kleinschreibung aus guten Gründen darauf verzichtet, Bräkers Handschrift im Druck in jeder Nuance wiederzugeben.Footnote 50 Diese unterscheidet zwischen Groß- und Kleinschreibung nämlich nur graduell und im Kontext seiner unorthodoxen Orthografie, in der Satzanfänge nicht immer klar erkennbar sind, entspräche die Vereindeutigung von Groß- und Kleinbuchstaben einer problematischen Manipulation der Textaussage.

In den Tagebüchern finden sich kleine literarische Projekte Bräkers, die noch kaum Aufmersamkeit erfahren haben, obwohl Bräker eigentlich erst mit ihnen zum selbstständigen literarischen Autor reift, der Figuren erfindet, Fiktives erzählt und Stilmittel einübt. Dabei sticht ein erzählerisches Projekt hervor, das Bräker noch im Frühjahr 1789 unter dem Titel Jauss, der Libens ritter beginnt, bis zum Herbst desselben Jahres in drei zusammenhängenden Stücken in sein Tagebuch notiert und ein Jahr später noch um einen leider nicht vollständig erhaltenen Anhang ergänzt.Footnote 51 Wenn die Lebensgeschichte des armen Mannes an jenem Punkt abbricht, an dem das Bewusstsein von der Fremdbestimmung des autobiografischen Schreibens zutage tritt, so ist es umso wichtiger, dass Bräker gleich im Anschluss mit der Jauss-Novelle einen Text verfasst hat, der noch einmal in einem anderen Sinn von Scham und Schamlosigkeit, nämlich von einem Lüstling und Erotomanen erzählt. Dabei ist zu anmerken, dass sich sexuelle und moralische Scham bereits im zeitgenössischen Sprachgebrauch überschneiden.Footnote 52 Auch in der Lebensgeschichte wird das Sexuelle bereits explizit als Scham bezeichnet, aber zugleich schamhaft dethematisiert: »[Aber] zu meinem Glücke hielt mich meine anerbohrene Schüchternheit, Schamhaftigkeit – oder wie man das Ding nennen will – noch Jahre lang zurück, eh’ ich nur ein einziges dieser Geschöpfe mit einem Finger berührte.« (UB IV, 516)

Bei Jauss handelt es sich um eine zum schamhaft armen Autobiografen Bräker spiegelverkehrte Figur. Denn wenngleich die Singularität der Jauss-Novelle in der atemraubenden Schamlosigkeit besteht, in der die sexuellen Eskapaden des Titelhelden beschrieben werden, so fällt gleichzeitig auf, dass dabei immer wieder ein Bedingungsverhältnis von Schamlosigkeit und Armut hergestellt wird: Es ist eine Figur schamloser Armut, die Jauss ins Reich der Sexualität einführt, und die Schamlosigkeit des Protagonisten bezieht sich in letzter Konsequenz dann auch positiv auf das Leben der Armen. Gepeinigt wird Jauss jedoch zeitweise von einer moralischen Scham, und zwar auch deshalb, weil seine erotischen Abenteuer einen zunehmend gewaltsamen Charakter annehmen.

Der Anfang der Novelle birgt eine dreifache Irritation: Die Erzählung beginnt mit der Idee zu ihrer Thematik, mit dem Entschluss überhaupt, »ein büchel zuschreiben« (UB III, 86), und dem Bericht darüber, dass sich der Nachbar des Erzählers für die Verdichtung und Ausgestaltung einiger gesammelter »anectöttchen« (UB III, 86) hervorragend angeboten habe. Die Grenzen zwischen Literatur und Tagebuch, Text und Paratext, fiktionalem und faktualem Schreiben erscheinen auch dadurch fließend, dass das »tagebüchel« als materieller Kontext der »lebensbeschreibung von meinem mir so wohbekandten ritter« (UB III, 88) explizit erwähnt wird. Die WerkförmigkeitFootnote 53 der erzählerischen Komposition erweist sich damit als durchaus prekär. Bräker-Leser dürfen allerdings daran erinnern, dass diese Geste der Vernähung von Text und Lebenswelt durchaus den Anleihen bei der Familienchronik am Ende der Lebensgeschichte ähnelt und sich zudem in die unvermeidlichen Bescheidenheits- und Selbsterniedrigungsgesten des Bräkerschen Erzählens einreiht. Dass die antiillusionistische Geste, mit der Bräker am Beginn der Novelle die Grenze von Text und Paratext verwischt, der Novelle nichts von ihrer formalen Eigenständigkeit nimmt, zeigt sich spätestens dadurch, dass ›Uri‹ in ihr zwar das Fokalisierungszentrum der Narration darstellt, allerdings keineswegs mit dem Erzähler identisch ist. Mit dem ersten Besuch von Jauss bei Uri wird Letzterer zur Figur, von der wie von Jauss in der dritten Person erzählt wird: Der Erzähler löst sich von Uri ab, ungeachtet dessen, dass er im Wesentlichen das weiß, was Uri weiß. Uri ist der Zuhörer der Erzählungen seines Nachbarn Jauss und insofern die erste Informationsquelle der Erzählinstanz, gleichzeitig aber Figur der Erzählung. Erst diese Differenz von Figur und Erzählinstanz gewährleistet eine Autonomie der Letzteren, die aus der Lebensgeschichte so noch nicht bekannt ist. Hinzu kommt, dass bereits die Differenz der Figuren Uri und Jauss Resultat einer Fiktionalisierung von autobiografischem Material darstellt, denn anders als Bräker suggeriert, »kann die Jauß-Figur nicht auf ein einziges Vorbild reduziert werden«. Stattdessen »erlebt Jauß Abenteuer«, wie die Herausgeber seiner Schriften bemerken, die Bräker »andernorts sich selber zuschreibt« (UB V, 507).Footnote 54

Die zweite Irritation stellt sich dadurch her, dass der Erzähler in den ersten Absätzen das Vorhaben schildert, sein »büchel« über seinen Nachbarn Jauss solle »nach Don Quixotes model den titel führen – der libens ritter« (UB III, 86). Obwohl er gleich zugesteht, sich nicht mit »Cervantes« (UB III, 86) messen zu wollen, wird so eine Ironie- oder Parodie-Erwartung geweckt (nicht einen Ritterroman also, sondern einen Roman über einen Leser von Ritterromanen etc.), die unerfüllt bleibt. Was mit dem Verweis auf den Don Quixote (1605/1615) des Cervantes vielmehr assoziiert werden soll, ist in aller Schlichtheit das Thema der Liebe und der Brautwerbung. Der Name Don Quixotes ist hier nicht ein Platzhalter für die von neuzeitlichen Medienkulturen induzierten Neurosen, sondern eine Chiffre für Sexualität. Eine dritte Irritation stellt sich schließlich dadurch her, dass Bräkers Novelle zwar von Jauss zu berichten ankündigt, dann aber zunächst ausführlich eine Gesellschaft von Frommen schildert, bei welcher der zugezogene Weber Jauss nach Ankunft im Dorf unmittelbar Freunde findet und mit der die Novelle auch wieder endet. Die Gesellschaft der Frommen wird vom Erzähler mit satirischer Bitterkeit geschildert. So entpuppt sich als didaktische Absicht der Novelle, durch die Engführung von sexueller Ausschweifung und religiöser Schwärmerei die Machtlosigkeit des moralischen Gesetzes gegenüber den sexuellen Bedürfnissen des Menschen zu demonstrieren und dabei die Heuchelei jener besonders Frommen zu entlarven, deren religiöse Schwärmerei nicht selten nur ein Mittel darstellt, um andere Menschen auszunutzen, darunter »aengstlich kämpfende mägdchen« (UB III, 95).Footnote 55

Unter diesen Voraussetzungen beginnt Jauss jedenfalls regelmäßig seinen neuen Nachbarn Uri aufzusuchen und ihm die Geschichte seiner sexuellen Eskapaden und Beschämungen zu erzählen, allerdings unter der Bedingung, dass dieser ihm »nicht predigen« (UB III, 83) dürfe, ein für Jauss notwendiger »vertrag«, denn er »kan s’predigen nicht leiden« (UB III, 191). Obwohl Uri den Vertrag regelmäßig bricht, ist diese Suspension des moralischen Urteils bemerkenswert. Mag der Erzähler seine Jauss abgelauschten Geschichten zwar auch wiederholt als »müsterle« (UB III, 86, 115) bezeichnen, als durch positives Vorbild oder negative Mahnung erziehende moralische Exempel, so fügen sie sich de facto im Gegenteil zu einer Novelle, die eher Merkmale einer erfahrungsseelenkundigen Fallgeschichte aufweist.Footnote 56

Wer ist nun also Jauss? Der Erzähler kündigt zwar zunächst an, »keine beschreibung von einem thierartigen natur menschen« (UB III, 87) liefern zu wollen, portraitiert seinen Protagonisten dann jedoch folgendermaßen:

er war ein langer hagerer mann – ein schwärtzer, harter, dichter bart, der vast das gantze gesicht bedekte – denn er zwar alle wochen ein mahl abscheren ließ – die langen borstigen augenbraumen wie 2. bürsten bedekten vast seine grauen augen – sein gantzer leib war behaart wie ein jgel sein reden war ein rauher schnurenter paß – gerade sein gang, wild sein blik – wennig fleisch, große knochen strotzent von sehnen und blutadern. u.s.f. (UB III, 89).

Jauss, der später wegen seines Aussehens auch als »Hottentot«Footnote 57 (UB III, 122) verspottet wird, ist zu Beginn seiner Erzählungen um die 60 Jahre alt und lebt mit seinem ›Kätchen‹ in einer zumindest für ihn äußerst unglücklichen Ehe. Mit seinen erotischen Wünschen beißt er bei ihr schon seit der Hochzeitsnacht auf Granit, wobei die Kinderlosigkeit der beiden von Jauss auch als individuelles Versagen empfunden und mit der sexuellen Bedürftigkeit überblendet wird. Kätchen ist die Verkörperung des Ökonomieprinzips, eine perfekte Haushälterin, deren Desinteresse an allen sinnlichen Freuden (»alle weltfreüden stinken mich an«, UB III, 138) und deren vollendete Sparsamkeit vom Erzähler zugleich gelobt und karikiert werden. Jauss hingegen verschwindet regelmäßig tagelang und macht dabei gerne auch Schulden, während ihm das viele Arbeiten durchaus zuwider ist: »unaufhörlich spulen – immer und ewig spulen« (UB III, 89) ist zwar auch sein Schicksal als im Verlagswesen abhängig produzierender Weber, seine Sache aber eigentlich nicht. Interessanterweise arbeitet der Weber Jauss unter anderem für Uri, den Verleger, Garnhändler und zugleich qua seines Namens implizites Alter Ego des Erzählers. Er spult auch während seinen Erzählungen noch, liefert seinem Zuhörer also gleich eine doppelte Ware. Dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Hauptfiguren, deren gegenseitiges Vertrauen die Geschichte von Jauss erst ans Tageslicht bringt, wird im Lauf der Erzählung Hintergrund eines manifesten Konflikts zwischen beiden. Jauss beschwert sich zunehmend über das von Uri gelieferte »mistgarn« (UB III, 170), Uri hingegen realisiert erst allmählich, dass die Perversion seines Nachbarn keine Sünde lange vergangener Zeiten darstellt, sondern die Jugend des Dorfes noch immer in Atem hält. Zum Zerwürfnis kommt es in dem Moment, als Jauss seine eigene Ehefrau gewaltsam attackiert, in der Hoffnung, nach deren Tod ein junges Mädchen heiraten zu können. Uri schreitet ein, stellt sich gegen seinen Freund und Nachbarn und wird so zwischenzeitlich zu dessen »todfeind« (UB III, 233). Im dritten Teil der Novelle erhält Uri seine Informationen über Jauss nur noch über Umwege, erst kurz vor dessen Tod kommt es zu einer Versöhnung.

Was sind es nun aber für Geschichten, die Jauss Uri erzählt und um welche die Novelle im Wesentlichen kreist? Schamlosigkeit, d.h. »offenhertzigkeit« (UB III, 107) und eine »unverschämte art« (UB III, 102) im Erzählen, ist nicht nur die Voraussetzung von Jauss’ »beichten« (UB III, 106); Schamlosigkeit ist auch nicht nur der Gegenstand seiner Erzählungen, insofern sich in diesen die Entdeckung der eigenen Sexualität zur einer beständigen Lustorientierung verfestigt; es ist darüber hinaus wiederum die Verbindung von Scham und Armut, die Figur einer schamlosen Armut, der dabei eine Schlüsselrolle zukommt. Schließlich läuft Jauss nicht immer schon mit einem ständigen »gekützel« durch die Welt und empfindet überall, wo er »die hübschen weible und schönen mägdchen sahe […] gewüsse regungen«, sodass er sich zusätzlich unaufhörlich »in den gedanken allerhand bilder« erschafft und sich an ihnen »ergözte« (UB III, 111). Schon mit zwölf Jahren ist er zwar kein gewöhnlicher »alltagsbube«, vielmehr ein »sonderbarer bube«, den die anderen beim Baden »muternakt, als ein bube von 12. jahren schon gantz behaart sahen« (UB III, 111). Erst im Alter von 16 Jahren erfährt er aber eine Art sexueller Initiation. Es ist ein »hübscher bettelbube«, der eine »nachtherberge« sucht und von Jauss’ Vater auf den Stall verwiesen wird, den Jauss ihm zeigen und einrichten soll:

der bube zog sich auß, hate einen hübschen weißen leib – wie ein jüngferchen – und setzte sich auf die krippe – kratzte und spielte so mit sich selbst – als ich fertig war – bat er mich – neben sich auf die krippe zusizen – wunderig war ich genug – was er da mit seiner spielerey – wole: er mocht von meinem alter sein, war mir auch gar nicht grüssig [grausig, schrecklich, R.W.] – er schien die einfalt und unschuld selbst zusein – ich setzte micht zu ihm hin – er nahm mir die hand – und bat mich, ime so u so zumachen – und that mir das gleiche welches mich gar angenehm düchte; ich war wie bezaubert – wuste gar nicht wie mir geschah – noch was es war – ungewönnliche – noch nie gefühlte empfeindungen betaübten mich, eins mahl fühlt ich krampfige zukungen – und da war alle entzükung aus – aber dem buben gabs mühe, wolte meine hand nicht looslassen – bis er befriediget war – er legte – sich auf die streü – und ich, mit meiner milch nach hauße – dachte dem sonderbaren ding nach – wust mir es, weder zubenennen noch zuerklähren – das genossene kützliche vernügen verwandelte sich in ekel (UB III, 112 f.)

Hier und in den folgenden Episoden geht es in einer Explizitheit um Sexualität, die in deutschsprachigen Texten desselben Zeitraums sonst nur im Kontext der zumeist aus dem Französischen übersetzten und oft klandestin vertriebenen pornografischen Literatur zu finden ist.Footnote 58 Späte Ausläufer des höfisch-galanten Romans oder katholische Klosterromane, in denen die Sprache der Empfindsamkeit erotische Motive aus der Schamangst religiöser Gefühle gleichsam unwillkürlich hervortreibt, stellen für Bräkers Jauss insofern einen nicht zu vernachlässigenden literaturhistorischen Kontext dar. Bräkers Novelle aktualisiert insofern auch den Architext des Novellengenres, Bocaccios Il Decamerone (1349–1353). Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass hier ein »mannsbild mit mannsbilder zuthun« (UB III, 115) hat, es geht um homoerotische Erfahrungen, die eigentlich erst um 1900 das Interesse von Psychopathologie und Literatur wecken sollten.Footnote 59 Signifikant ist schließlich, dass die sexuelle Initiation durch einen Betteljungen erfolgt, also ein Exemplar jenes von Minderjährigen so bevölkerten Gassenbettels, den Bräker in seiner Rede vor der Moralischen Gesellschaft zum Gegenstand machte. Dabei scheint es zunächst, als werde hierdurch die Schuld für den eigenen Mangel an Standhaftigkeit an den Gassenbettel delegiert, doch tatsächlich wird Jauss von der schamlosen Unschuld jenes Betteljungen geradezu bekehrt. Bis zum Ende seines Lebens wird er nicht nur ein von den eigenen Trieben Verfolgter bleiben, sondern ein bekennender und selbstbewusster Lüstling, der die Freuden des Fleisches allem anderen entschieden vorzieht. Die Erinnerung an den Betteljungen bleibt dabei stets präsent, der »bettelbube« oder einfach »ienner bube« (UB III, 113 f., 119, 125) wird mehrfach zum metonymischen Signifikanten für jene erotische Erfahrung, auf die Jauss so versessen ist.

Die »sodomitereien« (UB III, 118) mit dem Betteljungen sind trotzdem nur der Auftakt von Jauss’ erotischen Abenteuern. Spätestens nach einem Ausflug nach St. Gallen hat er die »gantze seele voll mägdchen« (UB III, 124) und kann an nichts anderes mehr denken: »sie stelten sich mir in allerhand gestalten – allerhand stellungen dar: ich dachte sie lang und breit – vom grosen zehen bis auf die hirnschedel, punct vor punct – deß nachts schlieff ich mit einem mägdchen ein – und beim erwachen warens meine ersten gedannken« (UB III, 124). In diesem Zustand trifft Jauss im Wald das ›Rosele‹, die Tochter eines Nachbarn, »ein gutes keind von 12. jahren« (UB III, 125), und überredet es mit einiger Gewalt sowie mithilfe eines versprochenen Stückes Brot, ihm Befriedigung zu schaffen »wie ienner bube« (UB III, 125). Auch das Rosele kann also kein wohlhabendes Mädchen sein, jedenfalls bleibt jener Betteljunge präsent, während sich die Erzählung nun einer pädophilen Misshandlungsszene widmet:

Rosele war die unschuld selbst – gut, und so unwüssent in d. g. l. sächel, als ein keind in der wiege – s ward rot und scheüh – als ich jhm den schaden zeigte – wolt fliehen – aber ich hielts vest – mit vieler mühe, und guten worten, indem ich jhme das ding so unschuldig vorgestelt als möglich, konts ich überreden hand anzulegen – – – und, o welch – vernügen – potz – ists nur daß – sagte Rosele, am ende – und schnell folgte bey mir reüh und scham – vor himmel und erde – schikte Rosele kalt fort – gab jhm aber am abend das versprochene brodt – mit ernstlichem bedrohen – ia keinem menschen ein wort verlauten zulassen […] (UB III, 125)

Der Missbrauch des Kindes wiederholt sich im Folgenden und verschafft der sexuellen Notdurft von Jauss über »einige Jahre« (UB III, 126) Abhilfe, bis das Rosele seine Unschuld verliert, eigene erotische Interessen entwickelt und Jauss nur noch mit Abscheu begegnet. Während sich Jauss in Magdalena verliebt, die sein Vater als »bettelmägdchen« verdammt, wird ihm geraten, ein »bauren mädel« (UB III, 130) mit Erbe zu heiraten, nämlich Kätchen. In der Hoffnung, dass die Ehe ihm ein Hafen sexueller Genugtuung darstellen würde, lässt Jauss sich überreden und täuscht sich gewaltig. Während Uri ihm raten will, durch Zurückhaltung den »apetit« (UB III, 141) seines Kätchens zu wecken, ist Jauss vielmehr voller »begier« seine sich auch in der Ehe fortsetzenden Eskapaden »zuerzehlen« (UB III, 181), etwa mit der Nachbarin Sarle, die ihn zwar eigentlich zurückweist, deren »pochenten busen« Jauss jedoch anders interpretiert: »küste und drüktes auf die streü – und – – – – – kanst dirs vorstelen Ueri – weiter nichts – Sarle gieng zufrieden mit mir, seinen – weg – und mich befiel wiederum die gewöhnliche reüh – schamm, und böse auf mich selbst – hete ich mir mögen die hare ausrauffen« (UB III, 145). Jauss ist also keinesfalls vollkommen schamlos, vielmehr sind Reue und Scham ständige Begleiter seiner zwanghaften Ausschweifung. Der sexuellen Schamlosigkeit folgt zwar ein moralisches Schamgefühl; der Zwang, die Schamgrenzen zu überschreiten, intensiviert seine Schamempfindungen allerdings nur punktuell, im Verlauf der Erzählung nutzt sich das Schamgefühl von Jauss tendenziell ab. Kurz gesagt: Jauss wird immer schamloser.

Der gewaltsame Charakter fast aller seiner Liebesabenteuer wird im Lauf der Erzählung trotzdem zum Problem. So spielt sich deren zweiter Teil nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart des Erzählens ab und handelt nicht mehr von mehr oder weniger erfolgreichen erotischen Abenteuern, sondern vielmehr von verschiedenen Begegnungen, bei denen ihm sexuelle Dienstleistungen versprochen werden, Jauss zur Überredung auch Geldmittel einsetzt, aber schließlich als betrogener Betrüger zurückbleibt. Obwohl er sich zunächst explizit gegen jede Form von Prostitution verwehrt und stolz behauptet, er habe »nie keine hure aufgesucht« (UB III, 127), besitzen diese Begegnungen ganz eindeutig den Charakter von bezahltem Sex. Sie gipfeln in einer Episode, in der Jauss, ohnehin gerade gedemütigt, an einem Bordell vorbeikommt, sich ihm aus Neugier nähert, als »3. bis 4 mädels aus dem hauß herauß« kommen, ihn zunächst »reitzen – zeigten jhren busen klopften auf bäuche – eine hub die jüpe [Rock, Kleid, R.W.] hoch auf – und klatschte an jhren schneeweißen schenkeln«, um ihn anschließend, als er bereits »gelt geben« will, nur zu verhöhnen: »alle kamen näher – und fiengen ein hölisches gelächter an – sagten mir die unverschämtesten worte – ich sey ein verschnittner bok – habe nichts – köne nichts – sole mein werkzeüg zeigen u.d.g.« (UB III, 188). Die Form der Beschämung, die Jauss erfährt, verändert sich hier noch einmal: Es ist nicht mehr die Scham vor der eigenen sexuellen Handlung oder dem Zwangscharakter, mit dem diese erreicht wurde, sondern die Beschämung durch Frauen, die seine Notlage durchschaut haben und auszunutzen wissen. Auch Uri ermahnt Jauss nun, nicht noch den letzten Rest von »ekel und scham« (UB III, 190) zu verlieren, denn wie er »von keindern auf der gasse gehört« (UB III, 189) hat, entblößt sich Jauss ebendort gelegentlich spontan. Jauss selbst gibt dies zu, hält es aber nicht für »redenswert – wenn ich einem vorübergehenten mägdchen nakent ans fenster stünde«, weil es ihm »wohlthuente kützel verursacht« (UB III, 191).

Der dritte Abschnitt der Erzählung vollzieht dann endgültig die Transformation des perversen Lüstlings zum potenziellen Gewaltverbrecher, schildert Jauss als eine immer wieder aufflammende soziale Gefahr, die durch die gemeinschaftliche Mühe seiner Angehörigen aber eingehegt werden kann. So hat er sich in den Kopf gesetzt, dass seine Frau an ihrem Husten bald sterbe und er so ein achtzehnjähriges Mädchen heiraten kann, bei dem er nachts unvermittelt aufwartet und das ihm nichts anderes entgegnet als »schäm dich« (UB III, 226). Jauss aber beharrt auf dem Phantasma einer neuen Ehe als Legitimationsrahmen seiner sexuellen Notdurft. Da Kätchen nicht sterben will, beginnt er selbst mitzuhelfen und greift sie periodisch an. Nicht zuletzt durch die tatkräftige Mithilfe Uris gelingt es dem Dorf, den älter und schwächer werdenden Jauss in Schach zu halten. Dass sich Kätchen, als Jauss schließlich stirbt, gegen alle Verwandten das komplette Erbe sichert, bildet auch im Hinblick auf den Gegenstand des Gassenbettels eine der Schlusspointen des Textes. Denn ihr, die »an nichts freüde hate – als wo sie einen kreützer ersparen konnte«, muss jede Mildtätigkeit unökonomisch vorkommen: »wie viel sie den armen gab – das last sich licht denken« (UB III, 235).

VI. Diesseits der Infamie

Wie ist es aber überhaupt möglich, dass diese delinquente Existenz ihr Spiel so lange treiben darf, dass sie nicht frühzeitig verhaftet und weggesperrt, gebrandmarkt oder vernichtet wird? Die Antwort auf diese Frage führt noch einmal zum Verhältnis von literarischem Erzählen und moralischem Gesetz, nämlich zu der von Uri und Kätchen gemeinsam geübten Toleranz gegenüber Jauss. Die Suspension des Moralischen (das Verbot, ›zu predigen‹) ist einerseits ein bemerkenswerter Tatbestand der Erzählung, sie gehört aber auch zu den Besonderheiten der erzählten Welt. Denn wenngleich gelegentlich ein »amtman« (UB III, 168) gerufen wird und für Jauss zum Ende hin, als er Kätchen bedroht, auch ein Leibwächter abgestellt wird, bleibt er im Ganzen doch polizeilich unbehelligt: »sein weib ist vogt genug« (UB III, 168), sagt Uri und dies scheint die Meinung im Dorf insgesamt zu sein. Kätchen will Jauss schon darum nicht ins »zuchthauß« schicken, um »unser bisgen vermögen« (UB III, 180) nicht zu gefährden. Das einzige Rezept gegen Jauss’ unersättlichen »apetit« (UB III, 114) ist das periodische »aderlassen u. schröpfen« (UB III, 115) durch den Barbier, das allerdings nicht immer die erhoffte Wirkung zeitigt.

Durch das eigentümliche Nähe- bzw. Nachbarschaftsverhältnis der Erzählinstanz zu Uri und von Uri zu Jauss unterscheidet sich die Novelle von vergleichbaren Kriminalnovellen der Literaturgeschichte. Prinzipiell gehört Jauss in eine Reihe mit Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre (1786), Büchners Woyzeck (1836/37) oder Hauptmanns Bahnwärter Thiel (1888), in denen jeweils auf unterschiedliche Weise eine Verbindung zwischen sexueller Bedürftigkeit und körperlicher Gewalt beschrieben wird. Anders als in diesen Texten spielt das Gesetz für Jauss jedoch keine wesentliche Rolle und anders als die Hauptfiguren jener Texte erlangt Jauss auch nicht das Schicksal der Infamie. Die literarische Faszination für das Infame gilt nach Foucault der schicksalshaften Begegnung gewöhnlicher Menschen mit der Macht. Die literarische Sprache der Infamie ist insofern immer vom herabfallenden Blick des Souveräns auf den infamen Protagonisten geprägt.Footnote 60 In der Lebensgeschichte ließ sich eine solche Anordnung auch durchaus beobachten: Die Tatsache, dass mit dem Herausgeber und dem Publikum derselben ein von oben auf den autobiografischen Erzähler herabfallender, neugieriger und disziplinierender Blick verbunden war, hat letztlich zu ihrem Abbruch geführt. In der Jauss-Novelle kann hiervon jedoch keine Rede mehr sein. Die Schamorientierung der Lebensgeschichte des armen Mannes wird in ihr geradezu auf den Kopf gestellt, und das gilt auch für die formale, die narrative Konstruktion des Textes. Der Erzähler ist hier nicht mehr identisch mit dem Autor, er nimmt als Zensur- und Ordnungsinstanz des Erfahrungsüberschusses von Jauss nun selbst jene Position ein, die in der Lebensgeschichte vom Herausgeber Füßli besetzt wurde. Dabei übt er die Kontrolle des Erzählens über die Geschichte anders aus. Zwar gibt er vor, dass seine Erzählungen »nicht erdichtung sonder wahr sein« (UB, 86), gesteht aber andererseits auch zu, »wennige abentheürchen von andern jhme [Jauss, R.W.] zuzueignen« (UB III, 86). Bei genauerer Betrachtung hat der Erzähler nicht nur durch die fiktiven Anteile, sondern auch durch seine Selektionsarbeit einen erheblichen Anteil am Zustandekommen der Geschichte. Nicht immer, wenn Jauss Uri etwas von seiner alten Heimat, seinen Eltern, Geschwistern oder Nachbarn »erzehlte« oder »schwatze« (UB III, 165), gibt der Erzähler diese Erzählungen auch wieder. Einiges bezeichnet er vielmehr als »lauter gleichgültige sächel« (UB III, 165) und erwähnt etwa den Selbstmord von Jauss’ Bruder nur in wenigen Sätzen und in indirekter Rede. Der Erzähler mit Herausgeberfunktion selektiert aus den Erzählungen seiner Figur gerade die schamlosen Episoden. Während in der Lebensgeschichte der schamlose Blick des Erzählers auf eine schamhafte Figur fällt, befinden sich die Schamlosigkeit von Erzähler und Figur hier in einem Wechselverhältnis.

Ebenso als auf den Kopf gestellt erweist sich das Thema der Armut. In der Lebensgeschichte, die in dem armen Mann Ulrich Bräker eine Idealform schamhafter Armut modelliert, hat eine mit Jauss vergleichbare Figur immerhin einen kurzen Auftritt: Nach einem Umzug ist in der neuen Wohnung der Familie kurzzeitig ein »abscheuliches Bettelmensch« einquartiert, »das sich besoff, so oft es ein Kirchenalmosen erhielt, und auf diese Art zu Wein kam; dann in der Trunkenheit sich mutternackt auszog, und so im Haus herumsprang und pfiff« (UB IV, 398 f.) Dass das »Ungeheuer« nur kurz auftritt und mit »Eckel« bedacht wird, ist mehr als nachvollziehbar, da es wie Jauss »erpicht auf junge Leuthe« ist und dabei auch den zu diesem Zeitpunkt etwa 19-Jährigen »anpacken« (UB IV, 399) will. Es entspricht aber auch der Schamorientierung der Lebensgeschichte, sich für die genaueren Umstände einer solchen Existenz ebenso wie für alles Sexuelle nicht im Detail zu interessieren.

Demgegenüber befreit sich die Jauss-Novelle nicht nur von jener unbedingten Scham, sondern auch von der Zuschreibung von Armut. Uri selbst als Garnhändler scheint der Gefahr materieller Not ohnehin weitaus weniger ausgesetzt zu sein als Jauss und kann sich nur unter soliden materiellen Bedingungen als ein besonnener Zuhörer und Beobachter präsentieren, der im richtigen Moment eingreift und seinen Freunden und Nachbarn helfend zur Seite steht. Jauss selbst hingegen gehört zu den »armen – hausleüten« (UB III, 90), wohnt zur Miete gemeinsam mit seiner Frau und zwei Witwen in einem jener Häuser, die reichen Menschen als »lachtenten erben« (UB III, 89) in die Hände gefallen sind, fügt sich aber keineswegs in jene in der Lebensgeschichte angeschriebene Scham und Bescheidenheit der Armen. Dieses Verhaltensideal wird an Kätchen delegiert, während Jauss seine eigene Schamlosigkeit polemisch den Vergnügungen der Reichen entgegenstellt und explizit mit dem Leben der Armen verknüpft. Dabei erscheint seine erotische Manie nicht mehr als Leiden, sondern verdichtet sich zur sentenzhaft vorgetragenen Lebensphilosophie:

liebe, liebe ist mir das gewürz des lebens, die würde mir wurzeln und kraut zu den delicatesten lekerbissen machen – ich beneide die lumpigsten bettler die sich liebend hand in hand im stall in der streüh schlaffen: sich liebend ihre leimbrühen kochen, am bach, im öeden walde – und die wo tonengolds vermögen, den herrentisch und alle bequemlichkeit haben – und sind einander zum ekel und abscheü – die beneide ich nicht – sie haben die höle auf erden. (UB III, 224)

Die Nobilitierung des Eros, die in manchem an ähnliche Passagen in Wilhelm Heinses Ardinghello (1787) erinnert,Footnote 61 führt durch ihre Verbindung mit Reichtumskritik zu einer romantischen Verklärung von Armut. Wenn Jauss »liebe« sagt, Sex meint, diesen aber dem ›vermögen‹ der Reichen entgegensetzt und zum Sinn des Lebens erhebt, dann ist mit dieser Figur des Autors Bräker nichtsdestoweniger eine entschiedene Emanzipation von jener schamhaften Armut impliziert, auf welche die Lebensgeschichte den Erzähler Bräker verpflichten wollte.

Bei der Jauss-Novelle handelt es sich um nichts weniger als den einzigen längeren im Original erhaltenen Erzähltext Bräkers. Die in der deutschen Literatur singuläre Verbindung, die bei Bräker eine christliche Tugendsemantik mit einer pikaresken Ironie, die Sprache der Empfindsamkeit mit dem emanzipatorischen Selbstbewusstsein der Volksaufklärung eingeht, zeigt sich erst hier in ihrer ganzen schillernd-grotesken Buntheit. Umso erstaunlicher ist es, dass Bräkers eindrucksvolle Novelle nie den Status eines eigenen Werks erlangt hat und überhaupt nie vollständig und im Zusammenhang publiziert wurde. Einzig in Samuel Voellmys dreibändige Werkausgabe wurde sie in Teilen aufgenommen. Voellmy versteht den »Roman-Versuch« als antipuritanische Satire nach dem Vorbild von Samuel Butlers komischem Epos Hudibras (1663-78), bewertet ihn allerdings äußerst kritisch: »Ein literarischer Wert kommt dem in dieser Ausgabe erstmals veröffentlichten Abschnitt kaum zu.«Footnote 62 Unter dem Titel »Aus der Satire ›Jaus der Liebes-Ritter‹« gibt er entsprechend auch nur einen Auszug wieder und kürzt den Text insbesondere um anstößige Passagen, also um das Wesentliche.Footnote 63 In der im C.H.Beck-Verlag erschienenen, historisch-kritischen Werkausgabe in fünf Bänden (1998–2010) hat es das textkritische Vorgehen hingegen mit sich gebracht, dass die Jauss-Novelle wieder in den Tagebüchern verschwunden ist. Wer Bräkers Jauss im Ganzen lesen will, muss ihn sich also selbst mühsam aus den Tagebüchern zusammenmontieren.

Die Nichtedition von Jauss führt damit exemplarisch vor Augen, wie tief und strukturell die Exklusion subalterner Erfahrung die diskursive Praxis der Literatur bestimmt. Dabei zeigt die Novelle, abgesehen von den verlorenen Seiten in der Rahmenerzählung, nicht einmal Anzeichen von innerer Unabgeschlossenheit. Zwar bezeichnet der Erzähler selbst seinen Versuch, Jauss und seine Frau »nach seel und leib zuzeichnen« am Ende als ein Chaos »von durch=einander geworffnen zügen […] – drum brech ich lieber ab« (UB III, 236). Doch diese Bescheidenheits- und Selbsterniedrigungsgesten des Erzählers sind typisch für alle Texte des Autors Ulrich Bräker, sie gehören zur Unverwechselbarkeit seines literarischen Stils und reflektieren dabei zugleich die kollektive Erfahrung subalterner Autorschaft. Erzähler ohne Stimme und Autor ohne Werk zu sein, ebendies ist die Signatur subalterner Erfahrung in den Selektionsprozessen der literarischen Kommunikation.