Zusammenfassung
Unter Berufung auf die prominenteste Reflexionsfigur von Grimmeishausens Simplicissimus, das als klassische allegorische Personifikation konzipierte und dennoch allen Fixierungen widerstreitende Verwandlungswunder Baldanders, wird die dem Text immanente Zeichenlehre rekonstruiert. Denn wo immer man eine Positionsbestimmung vorzunehmen versucht: beim Allegoriker der Kreuzinsel, beim Erzähler und seiner anagrammatisch bedingten Auflösung, beim Roman selbst, der als serielles Sammlerstück die Kunstkammer des Helden zieren soll, entpuppt sich auch diese Zeichenlehre als Paradox. Sie lehrt, daß es nichts zu lehren gibt, es sei denn die Einübung in eine Semiose, die jeder abschließenden, erst recht aber einer heilsgeschichtlich argumentierenden Sinnzuweisung den Boden entzieht.
Abstract
This essay aims to reconstruct the semiotics embedded in the text of Grimmelshausen’s Simplicissimus. It proceeds by focusing attention on Baldanders, the novel’s most prominent figure that reflects this semiotic structure. He is conceived by Grimmelshausen as a classical allegorical personification, yet he is also a miracle of transmutation that eludes all fixity. Wherever the attempt is undertaken to fix a position — that of the allegorist of the Kreuzinsel, that of the narrator and his anagrammatically conditioned dissolution, or that of the novel itself as a serial collector’s piece adorning the hero’s “Kunstkammer” the functional doctrine of signs reveals itself to be a paradox. It teaches that there is nothing to teach, except possibly a semiosis that subverts any attribution of meaning, but especially any argument for a Christian interpretation.
Literature
Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Werke, hrsg. Dieter Breuer, Frankfurt a. M. 1989, 1/1. Nach dieser Ausgabe wird wie im Falle des Titels (vgl. jedoch die abweichende Schreibweise des zugehörigen Lemmas “Bald[!]anderst” [612/1022]) auch im folgenden mit in Klammern gesetzten Seitenzahlen zitiert.
Vgl. dazu die zusammenfassenden Ausführungen von Volker Meid, Grimmeishausen. Epoche — Werk — Wirkung, München 1984, 129 ff.
Vgl. Henri de Lubac, Exegese médiévale. Les quatre sens de l’écriture, 2 Teile, Paris 1959–1964.
Über die Geschichte dieser Metapher unterrichten Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981, sowie das
Historische Wörterbuch der Philosophie, hrsg. Joachim Ritter, Basel, Darmstadt 1971, 1, Art. “Buch der Natur”/“Buch der Schöpfung”.
Vgl. zu diesem Thema Karl-Heinz Göttert, Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe — Geschichte — Rezeption, München 1991, 121 ff.
Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Gesammelte Schriften, hrsg. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, 1/1, 342.
Vgl. im einzelnen dazu Bettine Menke, Sprach figuren. Name — Allegorie — Bild nach Walter Benjamin, München 1991, 175 ff.
Aegidius Albertinus, Hortus Sacer Oder Der Heilig Garten, München 1605. Vgl. dazu die völlig konträren Thesen von Peter Heßelmann, Gaukelpredigt. Simplicianische Poetologie und Didaxe. Zu allegorischen und emblematisch en Strukturen in Grimmelshausens Zehn-Bücher-Zyklus, Frankfurt a.M. u.a. 1988, 261 ff.
Dazu ausführlich Ulrich Gaier, “Emblematisches Erzählen bei Grimmeishausen”, Simpliciana 12 (1990), 351–391; vgl. außerdem
John Heekman, “Emblematische Strukturen im ‘Simplicissimus Teutsch’“, Emblem und Emblemrezeption. Vergleichende Studien zur Wirkungsgeschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert, hrsg. Sibylle Penkert, Darmstadt 1978, 243–256
Bernhard F. Scholz, “Emblematisches Abbilden als Notation. Überlegungen zur Hermeneutik und Semiotik des emblematischen Bildes”, Poetica 16 (1984), 61–90.
Vgl. Stilleben in Europa, Ausstellungskatalog des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte, Münster, und der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, Münster 1979, darin insbes. Christian Klemm, “Weltdeutung. Allegorien und Symbole in Stilleben”, 140–218; außerdem Claus Grimm, Stilleben. Die niederländischen und deutschen Meister, Stuttgart, Zürich 1988, und
Norbert Schneider, Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge. Die Stillebenmalerei der frühen Neuzeit, Köln 1989. — Wichtige Hinweise verdanke ich schließlich dem Einblick in das Kapitel “Die Melancholie des Stillebens” der unter dem Titel Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration entstehenden Habilitationsschrift von Martina Wagner-Egelhaaf (Konstanz).
Baillys Selbstbildnis mit Vanitassymbolen von 1651 ist im gegenwärtigen Zusammenhang besonders aufschlußreich, weil es anderthalb Jahrzehnte vor Entstehen des Simplicissimus im Hinblick auf die implizierten autobiographischen Elemente eine vergleichbar radikale, jede Art von Realitätszuschreibung unterlaufende Semiotik zu bieten hat (s.u. das ‘Schlußtableau’ des Simplicissimus). Vgl. Schneider (Anm. 16), 82f., und Naomi Popper-Voskuil, “Selfportraiture and vanitas stilllife painting in 17th-century Holland in reference to David Bailly’s vanitas oeuvre”, Pantheon 31 (1973), 58–74.
Vgl. Jörg Jochen Berns, “Die ‘Zusammenfügung’ der Simplicianischen Schriften. Bemerkungen zum Zyklus-Problem”, Simpliciana 10 (1988), 301–325, hier: 309f., und
Hans-Ulrich Merkel, Maske und Identität in Grimmeishausens “Simplicissimus”, Stuttgart 1964, 52ff.
Vgl. zu der seit Jahren mit kontroversen Thesen geführten Diskussion z.B. Gerhart Mayer, “Die Personalität des Simplicius Simplicissimus. Zur Einheit von Gestalt und Werk”, ZfdPh 88 (1969), 497–521, und
Siegfried Streller, “Rollensprechen in Grimmeishausens Erzählen”, Simpliciana 12 (1990), 89–99.
Vgl. Paul de Man, “Die Rhetorik der Zeitlichkeit”, ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. Christoph Menke, Frankfurt a.M. 1993, 83–130; hier 103f.
Vgl. zu diesem Begriff sowie zum Gesamtkomplex ‘Intertext’ Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a.M. 1990.
Vgl. bes. Continuano, Kap. 11 und 14, außerdem Robert Aylett, “Lies, damned Lies, and Simplex’s Version of the Truth. Grimmelshausen’s unreliable Narrator”, Daphnis 18 (1989), 159–177.
Vgl. Julia Kristeva, “Zu einer Semiologie der Paragramme”, in: Strukturalismus als interprétatives Verfahren, hrsg. Helga Gallas, Darmstadt, Neuwied 1972, 163–200, 267–269, hier: 170ff.
Vgl. zur Neuakzentuierung dieses Begriffes vor dem Hintergrund der Intertext-Forschung Theodor Verweyen, Günther Witting, Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in Literatur, bildender Kunst, Werbung und politischem Plakat, Konstanz 1987.
Zur Debatte steht Parzivals gastliche Aufnahme durch Gurnemanz, die wie in Simplicius’ Fall mit einer ausgiebigen Mahlzeit und einer Neueinkleidung des gebadeten Gastes einhergeht (vgl. Parzival I, 3, 167ff.); ferner jener denkwürdige Schiffbruch des Lazarillo, der dem Helden zwar kein Inselparadies, dafür aber einen mit Simplicius’ Erfahrungen in der Rolle des ‘wilden Mannes’ (vgl. Continuano, Kap. 18) durchaus vergleichbaren Lebensabschnitt beschert: Von den Fischern, die ihn mit ihrem Netz an Land gezogen haben, wird Lazarillo als Triton vermummt durch Spanien geführt (vgl. Das Leben des Lazarillo von Tormes, seine Freuden und Leiden, Fortsetzung, 4. 3–6. Hauptstück). — Zu Grimmeishausens Homer-Rezeption vgl. den allerdings noch im Rahmen der traditionellen ‘Einflußforschung’ angesiedelten und also unangefochten hierarchisch argumentierenden Beitrag von Günther Weydt, “Grimmeishausen und Homer. Zum Lektürekanon des Simplicissimus-Dichters”, Simpliciana 8 (1986), 7–17.
Mit diesem Teil der Forschungsdiskussion, der mehrfach durchgespielten Kontroverse zwischen den Anhängern einer realistischen und den Befürwortern einer spirituellsinnbildlichen Deutung, hat sich zuletzt Jan Knopf auseinandergesetzt, um im Blick auf die Widersprüche des Textes einen objektiv begründeten Realismus zu behaupten, mit dem sich bei Grimmeishausen zögernd zwar, doch unaufhaltsam das bürgerliche, anthropozentrisch gekennzeichnete Zeitalter angekündigt habe (vgl. Jan Knopf, Frühzeit des Bürgers. Erfahrene und verleugnete Realität in den Romanen Wickrams, Grimmelshausens, Schnabels, Stuttgart 1978, 59–83, 155–170). Fragwürdig erscheint diese durch ein ebenso idealistisches wie deterministisches Geschichtskonstrukt belastete These aber nicht nur aus methodisch-konzeptionellen Gründen, sondern vor allem dann, wenn sich Satz für Satz nachweisen läßt, in welchem Maße angeblich so realitätsgesättigte Passagen wie die Abschnitte über die Schlacht bei Wittstock literarisch unterfüttert sind. Dazu im einzelnen
Hans Geulen, “‘Arcadische’ Simpliciana. Zu einer Quelle Grimmeishausens und ihrer strukturellen Bedeutung für seinen Roman”, Euphorion 63 (1969), 426–437
Walter Holzinger, “Der Abentheuerliche Simplicissimus and Sir Philip Sidney’s Arcadia”, Colloquia Germanica 3 (1969), 184–198
Dieter Breuer, “Krieg und Frieden in Grimmelshausens ‘Simplicissimus Teutsch’“, Der Deutschunterricht 37 (1985), 79–101.
Vgl. Friedrich Gaede, Humanismus, Barock, Aufklärung. Geschichte der deutschen Literatur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, München 1971, 105.
Vgl. Paul Gutzwiller, Der Narr bei Grimmeishausen, Bern 1959, 60, und Heßelmann (Anm. 11), 232ff., vor allem aber
Hubert Gersch, Geheimpoetik. Die ‘Continuano des abentheurlichen Simplicissimi’ interpretiert als Grimmeishausens verschlüsselter Kommentar zu seinem Roman, Tübingen 1973, 85ff., sowie
Peter Triefenbach, Der Lebenslauf des Simplicius Simplicissimus. Figur — Initiation — Satire, Stuttgart 1979, 181ff.
Vgl. Rolf Tarot, “Simplicissimus und Baldanders. Zur Deutung zweier Episoden in Grimmeishausens Simplicissimus Teutsch”, Argenis 1 (1977), 107–129.
Vgl. Mathias Feldges, “Ein Beispiel für das Weiterleben mittelalterlicher Denkstrukturen in der Barockzeit”, Wirkendes Wort 20 (1970), 258–271, hier: 263ff., und
Friedrich Gaede, “Baldanders und das Urteilsproblem”, Jahrbuch für internationale Germanistik 2/3 (1975), 67–73.
Einzelheiten dazu bei Joel Fineman, “The Structure of Allegorical Desire”, Allegory and Representation, hrsg. Stephen Greenblatt, Baltimore 1981, 26–60.
Vgl. Lieder Saal. Sammlung altdeutscher Gedichte, hrsg. Joseph von Laßberg, o.O. 1820, I, 389 ff. — Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Vergleich mit Lohensteins Sophonisbe, in deren Widmungsvorrede das “stetig Spiel” der Natur ganz im Sinne von Baldanders’ Lehre geschildert wird: “Bald scheint der Mohnde rund / bald saetzt er Hoerner auf / Bald ist er Silberweiß / bald roethet er die Flecken / Bald richtet er nach Sud / bald Nordwerts seinen Lauf / Heckt in den Muscheln Perln / und Purpur in den Schnecken. Bald schwellet er das Meer / bald traencket er das Land; Sein Wesen und sein Thun ist Spiel und Unbestand” (zit. n. Daniel Caspar von Lohenstein, Sophonisbe, Trauerspiel, hrsg. Rolf Tarot, Stuttgart 1986, 7).
Zur Verfasserfrage vgl. Jacob Christoffel von Grimmeishausen, Kleinere Schriften, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. Rolf Tarot, Tübingen 1973, X, XXIIIff. Nur nebenbei sei darauf hingewiesen, daß dieser Anhang die Geschichte eines ausgerechnet zum Monde fliegenden Wandersmanns komplettiert! (vgl. XXIV).
Vgl. Michael Cahn, “Das Schwanken zwischen Abfall und Wert. Zur kulturellen Hermeneutik des Sammeins”, Merkur 45 (1991), 674–690, hier: 681 ff. Cahn verweist in diesem Zusammenhang auf die Etymologie von lat. legere und collegere (vgl. 683). Vgl. außerdem die für das Thema einschlägigen, nach den Gepflogenheiten des Merkur von Cahn aber nicht genannten Titel: Jean Baudrillard, Le système des objets. La consommation des signes, Paris 1968
Christoph Asendorf, Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen 1984.
Über diesen Zusammenhang unterrichten Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, und Les Vanités dans la peinture au XVII au]e_siècle. Méditations sur la richesse, la dénuement et la rédemption, Ausstellungskatalog, hrsg. Jean-Marie Dautel, Philippe Rouillard, Caen, Paris 1990/91; vgl. außerdem
Siegfried Schneiders, “‘Edel Ingenium’ und Melancholie. Zur Schreibmotivation Grimmeishausens”, Simpliciana 10 (1988), 61–78.
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Wiethölter, W. “Baltanderst Lehr und Kunst” Zur Allegorie des Allegorischen in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 68, 45–65 (1994). https://doi.org/10.1007/BF03396233
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