Orsolya Friedrich und Claudia Bozzaro – beide haben schon zuvor zum Thema publiziert – legen einen neuen, umfänglichen Sammelband zur „Philosophie der Medizin“ vor. Er beginnt zunächst mit zwei Aufsätzen zur Antike. Jan P. Beckmann äußert sich kundig zu Sokrates und Platon sowie deren philosophische Grundlagen der Medizin, Hubertus Busche zu Aristoteles. Er geht davon aus, dass die Ärzte zur Zeit des Aristoteles „in der Regel den Eid des Hippokrates geschworen […] haben“ (S. 57). Dafür gibt es keinen Beweis; der Eid wird erstmals im 1. Jahrhundert n. Chr. erwähnt. Zudem will Busche zeigen, „wo Aristoteles gegenüber dem Eid zusätzliche ethische Schranken formuliert und wo er umgekehrt dessen Normen aufweicht“ (S. 57). Das klingt so, als hätte sich Aristoteles mit dem Eid auseinandergesetzt. Doch der wird in seinem Werk nicht erwähnt.

Danach wechseln die Aufsätze ins Thematische. Christoph Rehmann-Sutter wählt einen hermeneutischen Ansatz und widmet sich den Grenzen der Übersetzbarkeit sowie dem Rest Unübersetzbarkeit in der Medizin. Cornelius Borck untersucht scharfsinnig die Schwierigkeiten und weiteren Entwicklungen einer evidence based medicine und beleuchtet die Komplexität von „Wissenschaftlichkeit“ in der Medizin.

Jan-Hendrik Heinrichs geht auf das Verhältnis von Philosophie des Geistes und Neurowissenschaften ein. Zu den zahlreichen Konsequenzen zählt er unter anderem, dass eine „neurowissenschaftlich bereicherte Philosophie des Geistes“ einen „direkten Einfluss auf unser Krankheitsverständnis“ (S. 133) habe. Peter Hucklenbroich geht in seinen Ausführungen zum Krankheitsbegriff einen anderen Weg. Obwohl ein „Überblick“ (S. 137) zum Thema versprochen wird, fehlen wichtige Arbeiten im Literaturverzeichnis; dafür sind die Publikationen von Hucklenbroich selbst umso zahlreicher vertreten. Die Medizin als Wissenschaft – so Hucklenbroich – habe zu einer „einheitlichen und wissenschaftlich einhellig akzeptierten Konzeption der Krankheitsentität“ (S. 150) gefunden und besitze eine „wissenschaftliche Krankheitstheorie“ (S. 163). Einzig sie verfüge über eine „strikt objektiv-wissenschaftliche Systematisierung“ (S. 140) von Krankheiten sowie „echte, intrinsische Krankheitskriterien“ (S. 165). Das wird zwar alles vielfach bezweifelt, auch von Nikolai Münch (S. 294) in seinem Aufsatz zur Anthropologie- und enhancement-Debatte. Doch wer daran zweifelt, so Hucklenbroich, leide an gravierender „Fehlwahrnehung“ (sic, S. 158). Das gelte auch für die Theorie von „C. Bootse“ (S. 137, später C. Boorse) als auch für alle „normativistiachen“, „normativistishen“ oder „normativischen“ Krankheitstheorien (S. 171, alles buchstabengetreute Zitate).

Doch Hucklenbroichs Aufsatz ist wohl nicht nur der orthographischen Aufmerksamkeit der Herausgeberinnen entgangen. Denn – so Hucklenbroich – die Philosophie der Medizin, insbesondere betrieben von „Nicht-Medizinern“ (S. 146), habe den „Kontakt zur theoretischen Medizin und damit den Schlüssel zur Lösung der Grundfragen verloren“ (S. 174). Sie begehe einen groben Fehler: Sie „sucht nach neuen Ideen für eine systematische Grundlegung und geht an dem erfolgreichen existierenden Paradigma vorbei, anstatt dessen Erfolge wahrzunehmen“ (S. 174, Hervorhebung im Original). Das hört man nun wirklich ganz selten: den Vorwurf an die Philosophie der Medizin, nach „neuen Ideen“ zu suchen. Davon kann in den übrigen Aufsätzen auch nicht die Rede sein, im Gegenteil: Nicht nur Galia Assadi, die den Schwerpunkt auf Foucaults Philosophie sowie Macht und Wissensstrukturen in der Medizin legt, ist von solcher Haltung weit entfernt. Auch die Herausgeberinnen vertreten die Ansicht, die Grundbegriffe der Medizin müssten „philosophisch immer wieder neu reflektiert werden“ (S. 2).

Claudia Bozzaro untersucht den Leidensbegriff, stellt verschiedene Vorstellungen dazu vor und verweist auf die Schwierigkeiten, ihn zu präzisieren und in der Medizin zu nutzen. Sie leitet aus bestimmten Interpretationen des Leidenskonzepts eine „ärztliche Verpflichtung, Hilfe im Sterben zu leisten“ (S. 190) ab. Meint die Autorin eine Verpflichtung zur Hilfe oder das Recht auf Inanspruchnahme von Hilfe? Zudem stellt sie einem subjektiven Leidensverständnis einen objektiven Leidensbegriff gegenüber, durch „z. B. die Beurteilung der Ärztin“ (S. 187). Das ist zu kurz gegriffen. Nur weil ein Leiden von einer anderen Person bewertet wird, ist es keineswegs eine „objektive“ Bewertung, sondern zunächst einmal nur eine Fremdbewertung. Bozzaro will den Leidensbegriff nicht als einen „stark normativen Begriff“ (S. 195) verwenden. Doch wer nimmt dann die Stelle ein – der Krankheitsbegriff? Zudem sind andere stark normative Begriffe in der Medizinethik (Würde, Autonomie) nicht weniger komplex, ohne dass man ihnen eine zentrale Rolle streitig machen würde. Auch der von Giovanni Maio erläuterte Sorgebegriff dürfte ähnliche Eigenschaften besitzen; Maio weist ihm gleichwohl eine zentrale Rolle zu. Ähnliches gilt für den Solidaritätsbegriff von Markus Zimmermann: „kein inhaltlich bestimmter Grundsatz“, gleichwohl: „unabdingbar“ (S. 417). Bozzaros Literaturverzeichnis ist unvollständig; die Publikation von Hermanni fehlt, ebenso Maplas Aufsatz in der Encyclopedia of Global Bioethics.

Christina Schües hat sich die Verantwortung durch Genetik genauer angeschaut und kann Differenzierungen stark machen, die neue Zuständigkeiten fruchtbar differenzieren. Emil Angehrn widmet sich der conditio humana, und zwar unter den Aspekten des Leidens und der Negativität. Seine fundamentalen philosophischen Ausführungen haben nur wenig Bezug zur praktischen Medizin. Auch das Literaturverzeichnis von Angehrn ist unvollständig. Diels/Kranz ist nicht erwähnt. Eva Weber-Guskar widmet sich der Krankheit und zeitlichen Orientierung; sie untersucht, wie ein verschobener Zeitbezug zwischen den drei Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft das Leben von Kranken beeinträchtigen kann.

Jean-Pierre Wils macht sich stark für eine Unterscheidung zwischen Sterben und Tod und warnt vor dem Trugschluss, „wenn wir glauben, mit der Ethisierung des Sterbens und mittels der Interventionen, die das Sterben gestalten wollen, habe sich das Problem des Todes gleichsam aufgelöst“ (S. 257). Man fragt sich nur, wer das ernsthaft glaubt. Jedenfalls sieht er in der Formel des ‚guten Sterbens‘ ein Symptom des „Trostverschwindens“ (S. 257) und argumentiert für das „Trost-Amt der Musik“ (S. 274) angesichts des Todes. Seine Entgegensetzung zum selbstgestalteten Sterben ist nicht zwingend. Alles was er zum „Trost angesichts des Untröstlichen“ (S. 263) Erhellendes sagt, muss einer Selbstgestaltung des Sterbens nicht unbedingt widersprechen. Das eine schließt das andere nicht aus.

Orsolya Friedrich und Johanna Seifert geben einen anschaulichen Überblick zu den anthropologischen Deutungsmodellen angesichts sich rasant entwickelnder Technologien und des Mensch-Maschine-Verhältnisses. Martin Kälin, Selin Gerlek und Thomas Bedorf widmen sich der Bedeutung der klinischen Befundbesprechung und ihrem verletzenden Potenzial. In einer Fußnote behaupten sie mit Verweis auf die Publikation von Borasio et al. (2014), dass in der Schweiz „70 von 1000 Menschen mittels Beihilfe zur Selbsttötung“ (S. 322) sterben. Dem ist aber nicht so und steht so nicht in der angeführten Literatur. Es waren im Jahre 2012 7,3 von 1000 (Borasio et al. 2014, S. 56), 2017 waren es 15,3 von 1000 Menschen (Borasio et al. 2019). Heiner Friesacher vertritt die Perspektive der Pflegewissenschaft anhand der kritischen Theorie.

Gegendert wird auf vielfältige Weise, zuweilen mit dem generischen Maskulinum, zuweilen bis zur Grenze der Lesbarkeit. Kälin et al. ergänzen ein wörtliches Zitat im generischen Maskulinum durch Einschübe (S. 344). Merke: Das generische Maskulinum darf nicht im Original zitiert werden! Eine interessante Variante führt Rehmann-Sutter ein: „Statt Arzt/Ärztin und Patientin/Patient schreibe ich im Folgenden A und P.“ (S. 63). Wenig später spricht er von der „Arztperson“ (S. 68).

Der Sammelband verfolgt unterschiedliche Herangehensweisen und Perspektiven. Zudem haben die Aufsätze eine unterschiedliche Nähe zur Medizin, gar praktischen Medizin. Die Ansätze variieren: Über Philosophen (Sokrates, Platon, Aristoteles) zu bestimmten Phänomenen und Herausforderungen (z. B. Sterbehilfe, Enhancement) bis hin zu zentralen Begriffen. Er bietet zahlreiche interessante Aspekte der Philosophie der Medizin und zum Teil hochkarätige Artikel. Das Ergebnis wird getrübt durch Nachlässigkeiten. Eine sorgfältige Redaktion hat wohl nicht stattgefunden. Die Kommasetzung ist zuweilen ein Zufallsgeschehen. 15 von 18 Beiträgen ist eine Zusammenfassung vorangestellt, dreien nicht. Auch die Gliederungen der Texte gestalten sich unterschiedlich.

Immerhin: Der bizarren Empfehlung, die Philosophie der Medizin möge darauf verzichten, „neue Ideen“ zu suchen, dürfte sie ohnehin nicht folgen. Und das ist auch gut so.