Zusammenfassung
Emilia Galotti ist keinesfalls die Illustration politischer Harmlosigkeit. Im Zentrum steht die Umstrukturierung der Familie zur politischen Einheit, angeführt von Odoardo als Souverän des niemals apolitischen ‚Privaten‘. Am Ende steht die Konfliktfähigkeit der Familie. Der Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit wird bestimmt von einem–via Carl Schmitt explizierten–allumfassenden Griff des Politischen.
Abstract
Contrary to its traditional reception, Emilia Galotti does not illustrate the political helplessness of the German bourgeoisie. Rather, the play portrays how the family is restructured as a political entity, lead by Odoardo as sovereign of a ’private ‘that can never be apolitical. This process concludes with the family’s ability to engage in conflict. The release from a self-incurred tutelage is determined by an all-encompassing grip of the political, explicated with the help of Carl Schmitt.
Literature
Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1987, 28f.
Bei Schmitt der „Zurechnungspunkt“, der bestimmt, was Norm oder normative Richtigkeit ist. Von diesem Zurechnungspunkt aus wird entschieden, ob ein Ausnahmezustand vorliegt, der wiederum ein Agieren jenseits der von Normen abgedeckten Normalität erfordert. Siehe Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München, Leipzig 1934 [erste Auflage 1922], besonders Kapitel 2.
Peter Szondi, Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert: der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister, hrsg. Gert Mattenklott, mit einem Anhang über Molière von Wolf gang Fietkau, Frankfurt a.M. 1973, 164.
Für Walter Benjamin ist dies der „an Macht, Wissen und Wollen ins Dämonische gesteigerte Hofbeamte …, dem der Zutritt in das Kabinett des Fürsten, wo Anschläge der hohen Politik entworfen werden, offen steht“ (Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hrsg. Rolf Tiedemann, 7. Aufl., Frankfurt a.M. 1996, 78).
In vollem Einverständnis verlangt daher das neue Lessing-Handbuch von Monika Fick (Monika Fick, Lessing-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung, Stuttgart, Weimar 2000): „Eine Klärung der politischen Dimension der Tragödie verlangt … nach einer Klärung des Verhältnisses von Politik und Moral“ (318).
Das Politische taucht v. a. auf als Gegenbegriff zum sogenannten Privaten. Siehe dazu besonders Paul Rilla, „Lessing und sein Zeitalter“, in: Gotthold Ephraim Lessing, Gesammelte Werke, hrsg., Berlin, Weimar 1958, I-X, Band X; Szondi (Anm.6)
Hinrich C. Seeba, Die Liebe zur Sache. Öffentliches und privates Interesse in Lessings Dramen, Tübingen 1973
Horst Steinmetz, Das deutsche Drama von Gottsched his Lessing, Stuttgart 1987
Christine Jung-Hofmann, „Politik und Moral in Lessings Emilia Galotti“, Literatur für Leser. Zeitschrift für Interpretationspraxis und geschichtliche Texterkenntnis 1987, 229–248
Karl S. Guthke, Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, 5. Aufl., Stuttgart, Weimar 1994.
Wie gerade aus dem einst zur Befriedung geschaffenen privaten „Binnenraum“ ein „Unruheherd“ (30) wird und wie sich von hier aus politisches Engagement entwickelt, beschrieb Reinhart Koselleck bereits vor rund vierzig Jahren in Kritik und Krise sehr anschaulich. „Der moralische Innenraum, der sich zunächst aus dem Staat ausgespart hatte, erklärt jetzt den Staat zu seiner Hülle, die er abzustreifen gedenkt“ (Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 1997, 111).
So auch Horst Peter Neumann: „Das Deutungsproblem des Trauerspiels heiβt Odoardo“, in: ders., Der Preis der Mündigkeit. Über Lessings Dramen. Anhang: Über Fanny Hill, Stuttgart 1977, 37.
In Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963, 88.
Siehe dazu auch William Rasch, „Theories of the Partisan: Die Maβnahme and the Politics of Revolution“, The Brecht Yearbook 24 (1999), 330–343.
Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität‘, Frankfurt a.M. 1991, 78.
Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, Gesammelte Schriften, hrsg. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1977, II/l, 179–203.
Dazu besonders Jean François Lyotard, „The Grip (Mainmise)“, in: Political Writings. Jean François Lyotard, übers. Bill Readings, Kevin Paul Geiman, Minneapolis 1993, 148–158.
Siehe zu einem solchen Verständnis von Schmitt den hervorragenden Aufsatz von William Rasch, „Locating the Political: Schmitt, Mouffe, Luhmann, and the Possibility of Pluralism“, International Review of Sociology 7/1 (1997), 103–115.
Odo Marquard, „Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren“, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1995, 67–90, hier: 76.
„Emilia’s fundamental motive“ ist ihr „desire for a strong father“, Denis Jonnes, „Solche Väter: The Sentimental Family Paradigm in Lessing’s Drama“, Lessing Yearbook 12 (1980), 157–174, hier: 167.
Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. und eingeleitet Iring Fetscher, übers. Walter Euchner, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1991, 171.
Karl Eibl, „Identitätskrise und Diskurs. Zur thematischen Kontinuität in Lessings Dramen“, Jahrbuch der deutschen SehHiergesellschaft 21 (1977), 138–191, hier: 156f.
Für eine ausführlichere Gegenüberstellung von Lessing und Brecht, siehe Hans Joachim Schrimpf, Lessing und Brecht. Von der Aufklärung auf dem Theater; Pfullingen 1965.
Helmut Koopmann, Drama der Aufklärung. Kommentar zu einer Epoche, München 1979, 127.
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Ein Begriff von Dieter Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1991, 20.
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Wilms, W. Im Griff des Politischen–Konfliktfähigkeit und Vaterwerdung in Emilia Galotti. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 76, 50–73 (2002). https://doi.org/10.1007/BF03375839
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