Einleitung

Die Medizinethik wird durch die tiefe Hirnstimulation (THS) vor interessante Herausforderungen gestellt. Als angewandte Ethik ist sie bestrebt, konkrete Handlungsanweisungen für den medizinischen Alltag zu erarbeiten. Zugleich konfrontiert sie die THS nach Überzeugung der meisten Beobachter mit einem Thema, welches traditionell der theoretischen Philosophie zugerechnet wird: der Identität von Personen. Eine adäquate Ethik der THS muss daher beides integrieren, Praxisrelevanz auf der einen und grundlegende theoretische Reflexion auf der anderen Seite. Der vorliegende Essay ist ein Versuch, sich dieser Integrationsaufgabe grundlegend und systematisch zu stellen. Er ist wie folgt aufgebaut: Ich beginne im nächsten Abschnitt mit einem Blick in die Empirie. Dabei werde ich vor allem auf bestimmte psychische Nebenwirkungen der THS eingehen, die im Rahmen der Befragungen des ELSA-DBS-Projekts unter anderem als Veränderungen des „Wesens“, der „Persönlichkeit“ oder des „Charakters“ der Patienten beschrieben wurden.Footnote 1 Aufbauend auf diesen Beobachtungen werde ich dann ein Problem für die THS diskutieren, welches in der ethischen Begleitforschung zur THS regelmäßig auftaucht: das Identitätsproblem. Ich werde erklären, warum das Identitätsproblem seinerseits nicht unproblematisch ist, um so zu verdeutlichen, auf welch anspruchsvollen Voraussetzungen viele Überlegungen zum Thema „THS und personale Identität“ aufbauen. Danach werde ich argumentieren, dass das Identitätsproblem, sofern es real ist, interessante praktische Implikationen im Bereich des medizinethischen Mainstreams haben könnte: Unter bestimmten Voraussetzungen könnte es Änderungen im Bereich der Legitimation medizinischer Maßnahmen erforderlich machen.

Psychische Effekte der tiefen Hirnstimulation

Die positiven Effekte der THS auf die Symptomatik verschiedener neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen sind mittlerweile gut dokumentiert und verantwortlich für die wachsende Bedeutung dieser Therapie. Zugleich existieren seit längerem Befürchtungen, dass die THS, ähnlich wie andere Eingriffe ins Gehirn, problematische psychische Effekte haben könnte [7, 21]. Obgleich solche Effekte in gewisser Weise naheliegen, fehlten aber zunächst verlässliche Belege. So konnte in zwei großen randomisierten Studien nichts Entsprechendes nachgewiesen werden [17, 29]. In letzter Zeit häufen sich jedoch Hinweise, dass sich manche ParkinsonpatientenFootnote 2 nach der Aktivierung des Hirnschrittmachers tiefgreifend verändert haben:Footnote 3

  • In einer der ersten systematischen Untersuchungen zu diesem Thema berichten Schüpbach und Kollegen, dass 19 von 29 Patienten (66 %) nach der Operation den Eindruck haben, sich selbst nicht mehr wiederzuerkennen bzw. sich selbst fremd geworden zu sein. Jeweils rund 40 % der Studienteilnehmer waren nach dem Eingriff weniger vital und beklagten einen Verlust von Lebenszielen ([24], S. 1813–1814). Diese Veränderungen bestanden zum Teil auch noch 18–24 Monate nach der Operation fort.

  • Müller und Christen fassen in ihrem Aufsatz „Mögliche Persönlichkeitsveränderungen bei Parkinson-Patienten“ verschiedene Fallberichte aus der Literatur zusammen. Unter anderem berichten sie von einem Patienten, der unter der Stimulation deutlich aggressiver war als zuvor und zudem eine Kleptomanie entwickelte. Ein anderer wurde manisch und begann, sich intensiv dem Verfassen religiöser Gedichte zu widmen. Ein malender Architekt, dessen künstlerisches Interesse vor der Operation allein architektonischen Themen gegolten hatte, widmete sich unter der Stimulation nur noch der Darstellung weiblicher Akte usw. ([12], S. 4).

  • Im Rahmen der Interviews im ELSA-DBS-Projekt gibt ein erheblicher Teil der Befragten 3 Monate nach der Operation an, dass es zu Wesens- bzw. Charakteränderungen der Patienten gekommen sei. So antwortet eine Patientin auf die Frage, ob sich nach der Operation Veränderungen bei ihr ergeben hätten, sie habe sich „im Positiven“ verändert und sei „wie neu geboren. […] Ich bin anders geworden. Ein anderer Mensch bin ich geworden“ (P16MP, postOP2, 102–108).Footnote 4 Auf die Frage der Interviewerin, ob sich der Charakter ihres Mannes durch den Stimulator verändert habe, antwortet die Frau eines anderen Patienten: „Ähhh, mmm, ja, teilweise schon. Doch, ja. Weil ähm, er jetzt andere Dinge, ja, Dinge viel anders wahrnimmt […]“ (A12, postOP2, 217–218). Eine andere Dame, ebenfalls nach einer Änderung der Persönlichkeit ihres Mannes befragt, äußert sich ähnlich: „Ja, das muss ich eigentlich zwangsläufig sagen“ (A7, postOP2, 669). Etwas später fügt sie hinzu, sie sehe ihren Mann „jetzt nicht mehr als äh, nicht mehr so sehr als meinen Partner […] [d]en ich damals geheiratet habe“ (798–801).

Diese Berichte und Erfahrungen stützen die obige Vermutung, dass die THS in einzelnen Fällen in der Lage ist, „wesensändernd“ zu wirken, wie ich es im Folgenden ausdrücken werde. Im nächsten Abschnitt möchte ich diskutieren, ob und wie man wesensändernder THS unter Hinweis auf die beschriebenen psychischen Effekte ein Identitätsproblem attestieren kann.

Das Identitätsproblem der THS

Wie kann man die Veränderungen, die ich eben beschrieben habe, näher charakterisieren? Betrachten wir zunächst das folgende Zitat:

The fear is often expressed that an individual may no longer be ‘the same person’ he or she used to be prior to an intervention in the brain. In other words (i. e. philosophical terms), these interventions are said to threaten personal identity. ([9], S. 4)

Was Merkel et al. hier schreiben, dürfte in der aktuellen THS-Debatte innerhalb der Medizinethik auf breite Zustimmung stoßen. Die meisten Autoren, die sich mit Wesensänderungen bei THS-Patienten beschäftigen, glauben, dass es sich hierbei um ein Phänomen handelt, das in der Philosophie unter dem Stichwort der „personalen Identität“ oder, genauer, der „transtemporalen personalen Identität“ diskutiert wird.Footnote 5 Viele Autoren vermuten außerdem, dass die THS-induzierten Wesensänderungen zumindest prima facie ein ethisches Problem darstellen, welches sich auf die Rechtfertigung dieser Therapie auswirken könnte. Dieses Problem sei im Folgenden als „Identitätsproblem“ der THS bezeichnet.

Betrachten wir das Identitätsproblem etwas genauer. Es setzt die Wahrheit dreier Thesen voraus. Erstens, wenn wir bei bestimmten THS-Patienten urteilen, dass jemand nicht länger dieselbe Person wie früher sei, fällen wir, philosophisch gesprochen, ein Urteil über die transtemporale Identität dieser Person. Diese Annahme, im Folgenden als „Äquivalenzthese“ bezeichnet, ist semantischer Natur, da sie bestimmte Urteile als Urteile transtemporaler personaler Identität klassifiziert. Zweitens, die THS unterminiert bzw. affiziert die transtemporale Identität mancher Patienten. Die Implantation des Hirnschrittmachers bewirkt demnach, grob gesagt, dass in manchen Fällen die Patientin vorher und die Patientin nachher nicht identisch sind. Dies ist eine These über die tatsächlichen Effekte der THS. Drittens, das Potential der THS, die transtemporale Identität von Patienten zu durchtrennen oder zu affizieren, ist für die ethische Rechtfertigung dieser Therapie ethisch problematisch. Was ist von diesen drei Annahmen zu halten? Ich beginne in diesem Abschnitt mit einigen Bemerkungen zu den Annahmen 1 und 2. Mit der dritten Annahme werde ich mich erst im nächsten Abschnitt beschäftigen.

Zur Äquivalenzthese: Ist wirklich personale Identität im philosophischen Sinne gemeint, wenn davon die Rede ist, dass manche Patienten nach der Implantation des Hirnschrittmachers nicht mehr dieselbe Person sind wie vorher? Die meisten Philosophen, die sich über personale Identität Gedanken machen, suchen nach Bedingungen für die transtemporale numerische Identität von Personen. Es ist daher eine gute Anfangshypothese für die Überprüfung der Äquivalenzthese, unter der „Identität einer Person im philosophischen Sinne“ ihre transtemporale numerische Identität zu verstehen. Wenn wir von dieser Hypothese ausgehen, besagt die Äquivalenzthese, dass Urteile über Wesensänderungen bei THS-Patienten nichts anderes sind als Urteile über die transtemporale numerische Identität der betreffenden Personen. Worum geht es bei der Suche nach Bedingungen transtemporaler numerischer Identität? Es geht, kurz gesagt, um die Beantwortung der Frage, was der Fall sein muss, damit eine Person zum Zeitpunkt t mit einer Entität zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt t* numerisch identisch ist ([16], S. 355–358). Welche Antworten Philosophen auf diese Frage gegeben haben, braucht uns hier nicht zu interessieren. Für die Diskussion der Äquivalenzthese ist etwas Anderes von Bedeutung, und zwar die Tatsache, dass jedes Ding nur mit sich selbst numerisch identisch sein kann. So ist die Relation der numerischen Identität definiert. Da kein Ding mit einem anderen Ding numerisch identisch sein kann, kann nichts seine numerische Identität verändern. Folglich ist ein Satz wie: „Paula ist nach der OP nicht mehr dieselbe Person wie vor der OP“, streng genommen sinnlos. Sofern es hier nämlich um numerische Identität geht, besagt er, dass Paula nach der Operation dieselbe Person (nämlich Paula) und zugleich nicht dieselbe Person ist wie vor der Operation – eine solche Aussage kann niemals wahr sein.

Um den Satz vor Sinnlosigkeit zu bewahren, bieten sich zwei modifizierte Übersetzungen an:

(Ü1) Zu beiden Zeitpunkten (prä- und postoperativ) haben wir es mit Paula zu tun; sie hat sich durch die Operation lediglich auf eine für ihre Existenz unerhebliche Weise verändert.

(Ü2) Paula hat während oder kurz nach der Operation aufgehört zu existieren, und eine andere Person, die ihr äußerlich zum Verwechseln ähnelt, hat ihren Platz eingenommen.

Im ersten Fall sind die Veränderungen, die Paula erfährt, für ihre Existenz unerheblich. Im zweiten Fall entscheiden sie über Existenz und Nichtexistenz, man könnte auch sagen: über Leben und Tod Paulas.Footnote 6

Wenn man annimmt, dass es sich bei Paula um eine THS-Patientin handelt, bei der es nach der Implantation des Hirnschrittmachers zu Wesensänderungen kommt, ist keine der beiden Übersetzungsalternativen befriedigend. Gegen die erste Alternative spricht, dass die Änderungen, von denen hier die Rede ist und für die ich im letzten Abschnitt Beispiele angeführt habe, für die Existenz Paulas nicht unerheblich, sondern im Gegenteil ganz erheblich sind. Damit meine ich, dass sie typischerweise erhebliche praktische Konsequenzen haben. Paula könnte sich für Dinge oder Menschen, die ihr vor der Operation am Herzen lagen, nicht länger verantwortlich fühlen. Das, was einst ihr Leben ausmachte und ihm Bedeutung gab, könnte ihr gleichgültig werden. Zum Beispiel könnte sie ihr Interesse an bestimmten Projekten, die sie jahrelang verfolgt hat, verlieren; möglicherweise wendet sie sich von ihrer Familie ab oder trennt sich von ihrem Partner. Jede dieser Veränderungen hätte für Paula und die ihr nahestehenden Menschen viele zum Teil einschneidende Konsequenzen. Diese Fakten scheinen für das Urteil, Paula sei nicht mehr dieselbe Person wie früher, von grundlegender Bedeutung zu sein; und anscheinend kann die erste Deutung ihnen nicht gerecht werden. Gegen die zweite Alternative kann man einwenden, dass die Behauptung, Paula sei während der Operation verstorben, doch offensichtlich falsch sei.

Wie also weiter? Klar ist nur, dass wir so etwas sagen wollen wie: „Was vor der Operation typisch bzw. charakteristisch war für Paula, ist es nach der Operation nicht mehr; das, was sie als Person ausgemacht hat, hat sich verändert“. Gelegentlich reden wir im Alltag auch in solchen Zusammenhängen von „Identität“, wie Glover bemerkt:

[I]n normal life, people do ask questions about their own identity. […] In asking these questions, they are using the word ‘identity’ in a way philosophers usually do not. […] [T]hey are thinking about what they are like: about the characteristics that make them distinctive, things that make friendship with them different from friendship with someone else. ([4], S. 109–110)

Mit Glover kann man vielleicht sagen, dass es in dem Satz über Paulas operationsbedingte Veränderungen gar nicht primär um numerische Identität geht. Deren Bestehen wird nicht angezweifelt. Die Art der transtemporalen Identität, die hier zur Debatte steht, ist transtemporale qualitative Identität.Footnote 7 Paula hat sich durch den Eingriff in wesentlicher Hinsicht qualitativ verändert, und zwar hinsichtlich dessen, was Glover als alltäglichen Begriff von „Identität“ bezeichnet: was Paula als Person ausmacht und was „die Freundschaft mit ihr anders macht als die Freundschaft mit jemand anderem“. Im alltäglichen Sinn bezeichnet „Identität“ also keine transtemporale Relation, sondern eine komplexe Eigenschaft von Personen zu einem Zeitpunkt oder in einer Lebensphase. Diese Eigenschaft sei im Anschluss an Schechtman als „Identität im Charakterisierungssinn“ oder, kurz, als „C-Identität“ bezeichnet ([22], S. 3). Der dritte Übersetzungsvorschlag für den Beispielsatz wäre demnach:

(Ü3) Paulas präoperative und postoperative C-Identitäten divergieren, so dass das, was Paula nach der Operation als Person ausmacht, nicht oder nur in Teilen mit dem übereinstimmt, was sie vor der Operation als Person ausgemacht hat. Anders gesagt, Paula vor und Paula nach der Operation sind in wichtiger Hinsicht nicht mehr qualitativ identisch.

Dieser dritte Übersetzungsvorschlag (Ü3) scheint dem Kern dessen, was in dem Beispielsatz über Paula ausgesagt werden soll, näher zu kommen als (Ü1) und (Ü2). Denn weder ist das, was Paula widerfährt, unerheblich, noch scheint es ihre Existenz zu beenden. Doch was sagt uns (Ü3) über Konstanz und Veränderung Paulas auf metaphysischer Ebene? Zunächst einmal – nichts. Oder, genauer: nichts Neues, denn, metaphysisch betrachtet, wird in (Ü3) nichts Anderes gesagt als in (Ü1). Ist das ein Problem? Es könnte sein, denn auch in der Praxis scheinen wir wissen zu wollen, was wirklich der Fall ist. Wenn wir beispielsweise überlegen, Paula nach der Operation für eine bestimmte Tat verantwortlich zu machen, die „sie“ vor der Operation begangen hat, ist es ganz offensichtlich entscheidend, ob es wirklich Paula war, die die Tat begangen hat. Oder wenn Paula vor der Operation in Betracht zieht, Geld für später zu sparen, ist es keine nebensächliche Frage, ob Paula wirklich für sich selbst Geld zurücklegt oder, sagen wir, für eine nahe Verwandte. Für die Rechtfertigung solcher und ähnlicher Praktiken scheint transtemporale numerische Identität ein entscheidender Baustein zu sein.Footnote 8 Doch (Ü3) legt, wie wir wissen, nahe, dass die Veränderungen Paulas metaphysisch irrelevant bzw. unerheblich sind. Qualitativ mag Paula sich verändert haben, aber, metaphysisch gesehen, scheint es sich bei ihr vor und nach der Operation um ein und dieselbe Entität zu handeln. Wenn nun aber Letzteres dasjenige ist, was uns auch in der Praxis vorrangig interessiert, scheint auch (Ü3) zur Beantwortung der praktisch interessanten Fragen nichts Entscheidendes beizusteuern. Wie (Ü1) und (Ü2) ist daher auch (Ü3) nur begrenzt in der Lage, unseren widerstreitenden Intuitionen zu Identität und Wandel von Personen gerecht zu werden.

Wie man es auch dreht und wendet, die Übersetzung von alltäglichen Sätzen wie „Paula ist nach der OP nicht dieselbe Person wie vorher“ in philosophische Kategorien personaler Identität ist schwierig. Dass es diese Schwierigkeiten gibt, zeigt, wie problematisch bereits die erste Annahme des Identitätsproblems ist. Um dennoch zum Schwerpunkt des Aufsatzes, den praktischen Implikationen des Identitätsproblems, vordringen zu können, muss eine, wenn auch zweifellos vorläufige, Entscheidung bezüglich der Übersetzungsalternativen getroffen werden. Daher komme ich nochmals auf den vorigen Absatz zurück. Dort habe ich geschrieben, dass die erhebliche praktische Bedeutung, die Patienten und Angehörige THS-induzierten Wesensänderungen beimessen, von (Ü3) anscheinend nicht eingefangen werden kann. Grund ist die Annahme, dass Identität und Wandel von Personen nur dann von erheblichem praktischen Interesse für uns sind, wenn es um Identität und Wandel auf metaphysischer Ebene geht. Dies ist die „These von der Relevanz der Metaphysik der Person für die Praxis“, oder, kurz, die „Relevanzthese“. Von hier aus bietet es sich an, in zwei Richtungen weiterzugehen. Entweder man akzeptiert die Relevanzthese und schließt aus dem erheblichen praktischen Interesse, welches THS-induzierte Wesensänderungen für die Betroffenen und ihre Angehörigen haben, dass sich die erwähnten Effekte der THS auf der metaphysischen Ebene niederschlagen; in diesem Fall wäre die zweite Übersetzungsoption einschlägig. Oder man weist die Relevanzthese zurück und argumentiert, dass Identität und Wandel von Personen auch dann von erheblichem praktischen Interesse sein können, wenn wir es lediglich mit Prozessen tiefgreifender qualitativer Veränderungen ein und derselben Person zu tun haben; in diesem Fall wäre die dritte Übersetzungsalternative einschlägig. Viele Philosophen und die meisten Medizinethiker, die über personale Identität und Ethik arbeiten, entscheiden sich für den zweiten Weg. Weit davon entfernt, sich mit der bloßen Anschlussfähigkeit ihrer Position an die Alltagssprache zu begnügen, reklamieren sie für ihre nichtmetaphysischen Theorien transtemporaler personaler Identität weitgehende (oder sogar ausschließliche) praktische Relevanz.Footnote 9 Daher bietet es sich an, die praktischen Implikationen wesensändernder THS allein mit Blick auf (Ü3) zu untersuchen. Dies werde ich im folgenden Abschnitt auch schwerpunktmäßig tun. Da es aber aus meiner Sicht unklar, wenn nicht sogar zweifelhaft ist, ob man die Relevanzthese wirklich zurückweisen sollte, möchte ich auch die von (Ü2) thematisierte alternative Auffassung nicht völlig ausblenden und zu gegebener Zeit noch einmal kurz auf sie eingehen.

Die zweite Annahme des Identitätsproblems besagt, dass das Urteil „P ist nicht mehr dieselbe Person wie früher“ in Bezug auf manche THS-Patienten tatsächlich zutrifft. Anders gesagt, die THS hat tatsächlich das Potential, in manchen Fällen psychische Veränderungen herbeizuführen, die (in einem zu präzisierenden Sinne) die transtemporale Identität der Betroffenen affizieren oder unterminieren. Um diese zweite Annahme, ohne die das Identitätsproblem rein theoretischer Natur wäre, zu verifizieren, benötigt man einerseits eine Theorie darüber, was es heißt, (nicht mehr) dieselbe Person zu sein. Andererseits bleibt zu klären, ob die von dieser Theorie ausgewiesenen Wahrheitsbedingungen im Falle THS-induzierter Veränderungen einzelner Patienten auch wirklich erfüllt sind. Auch dieses epistemische Problem ist alles andere als trivial. Dass Patienten über sich oder dass Angehörige über Patienten sagen, ihr Wesen, ihre Persönlichkeit oder Ähnliches habe sich verändert, ist wahrscheinlich nicht mehr als ein Hinweis, dass wir es in diesen Fällen nicht mehr mit denselben Personen zu tun haben. Um von einem Identitätsproblem der THS bei bestimmten Patienten sprechen zu können, benötigt man weitere Informationen. Besonders deutlich wird das, wenn man bedenkt, dass es bezüglich der Frage der Wesensänderung häufig Uneinigkeit zwischen Patienten und Angehörigen gibt, wie die Befragungen des ELSA-DBS-Projekts eindeutig ergeben haben. Da die Parteien in solchen Fällen entweder aneinander vorbeireden oder eine der beiden Parteien im Irrtum ist, können entsprechende Interviewaussagen Urteile über Identität und Wandel von Personen offensichtlich nicht hinreichend begründen. Es ist also auch in epistemischer Hinsicht einiges an Arbeit zu leisten, bevor man ein Identitätsproblem der THS zu diagnostizieren berechtigt ist.

Mein Interesse im Rest dieses Aufsatzes gilt der dritten Komponente des Identitätsproblems: der Annahme, dass THS-induzierte Wesensänderungen ethisch problematisch sind. Für diese Diskussion setze ich, ebenso wie viele andere Veröffentlichungen zum Thema „THS und personale Identität“, voraus, dass das Identitätsproblem, soweit es bisher erläutert wurde, in Einzelfällen wohlbestimmt und real ist. Wie problematisch bereits diese Voraussetzungen sind, habe ich in diesem Abschnitt erläutert.

Implikationen für den medizinethischen Mainstream

Drei Vereinfachungen

Was wären die Konsequenzen für die ethische Legitimation der THS, wenn diese Technologie das Potential hätte, die Identität von Patienten in bestimmten Fällen zu unterminieren oder zu affizieren? Um auf wenigen Seiten zumindest den Anfang einer gehaltvollen Antwort auf diese Frage zu entwickeln, werde ich drei Vereinfachungen vornehmen. Erstens gehe ich davon aus, dass die psychischen Effekte der THS korrekt prognostiziert werden können. Anders gesagt will ich annehmen, es sei stets sicher, welche Effekte die Aktivierung des Hirnschrittmachers bei einer gegebenen Patientin haben wird. Durch diese Vereinfachung kann ich Wahrscheinlichkeitserwägungen aus meinen Überlegungen ausblenden, was deren Komplexität erheblich reduziert. Praktiker dürften gegen diese Vereinfachung protestieren. Obgleich ich ihnen gerne zugestehe, dass eine im Klinikalltag unmittelbar einsetzbare Analyse Wahrscheinlichkeiten berücksichtigen muss, bin ich der Ansicht, dass die folgenden Überlegungen dennoch nicht vollkommen nutzlos sind. Ähnlich wie bei anderen praktischen Problemen, zum Beispiel dem Problem rationalen Entscheidens, wird hier durch das Ausblenden von Unsicherheit eine Grundlage geschaffen, von der aus man sich systematisch und schrittweise den Komplexitäten der Realität nähern kann. Zudem ist diese Vereinfachung vielleicht nicht so unrealistisch, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Zum einen arbeiten zurzeit weltweit mehrere Forschergruppen daran, verlässlichere Prädiktorprofile zu erstellen, um die Prognostizierbarkeit der Effekte der THS auf einzelne Patienten zu verbessern. Zum anderen könnte man die Reversibilität der THS nutzen, um die Unsicherheit weitgehend zu reduzieren: Kurz gesagt, man könnte die im Folgenden zu diskutierenden Entscheidungen (teilweise) nach der Implantation des Hirnschrittmachers fällen, so dass die Patientin statt der Entscheidung für oder gegen die Implantation eine Entscheidung für oder gegen die weitere Stimulation treffen müsste. Für eine solche Entscheidung müsste sich die Patientin nicht auf unsichere präoperative Prognosen stützen, sondern könnte auf relativ verlässliche Erfahrungen mit der THS im eigenen Fall zurückgreifen.

Zweitens werde ich mich darauf beschränken, Bedingungen für die Rechtfertigung der THS in Fällen zu erarbeiten, in denen einer der Effekte der THS darin besteht, die Identität der Patientin zu untergraben oder zu affizieren. Wenn ich also im Folgenden gelegentlich schreibe, ich wolle „Bedingungen für die Rechtfertigung der THS“ benennen, sind damit Bedingungen für die Rechtfertigung wesensändernder THS gemeint. Diese Vereinfachung ist unproblematisch, wenn man die erste Vereinfachung akzeptiert. Natürlich erbt sie aber ihre Probleme im Hinblick auf die direkte praktische Umsetzbarkeit.

Drittens werde ich meinen Vorschlag zur ethischen Rechtfertigung der THS innerhalb des medizinethischen Mainstreams entwickeln. Von allen gemachten Vereinfachungen dürfte diese am leichtesten zu akzeptieren sein.

Mainstream und Standardposition

In der Legitimationstheorie des medizinethischen Mainstreams nimmt das Prinzip der informierten Einwilligung (PIE) einen zentralen Platz ein:

Die Aufklärung des Patienten vor medizinischen Eingriffen und die darauf beruhende Einwilligung des Patienten in das ärztliche Handeln bilden das zentrale ethische Fundament moderner Medizin. ([6], S. 2)

Das PIE basiert nach allgemeiner Überzeugung auf dem Recht der Patienten auf Selbstbestimmung bzw. der Pflicht, die autonomen Entscheidungen der Patienten zu respektieren. Eine Behandlung sollte nur mit vorheriger Einwilligung der informierten Patientin durchgeführt werden, da ansonsten ihr Recht auf Selbstbestimmung verletzt bzw. ihre autonome Entscheidung missachtet würde ([5], Kap. 4; [1], Kap. 3).

Wie wird diese Theorie auf die THS übertragen? Betrachten wir zunächst zwei aktuelle Beispiele aus der medizinethischen Literatur. Synofzik und Schläpfer schreiben:

[T]he ethically decisive question is not whether DBS [deep brain stimulation] alters personality or not, but whether it does so in ‘a good or bad way’ from the patient’s very own perspective. ([26], S. 4)

Ganz ähnlich äußert sich Glannon:

In the end […] it is the competent patient who has to decide whether the trade-offs in any given [DBS] treatment would be acceptable and whether he or she should have or continue to have it. ([3], S. 292)

Synofzik und Schläpfer meinen also ebenso wie Glannon, dass die Patientin selbst darüber befinden sollte, ob wesensändernde Effekte der THS für sie akzeptabel sind oder nicht. Dies, so die beiden erstgenannten Autoren, sei „die ethisch entscheidende Frage“. Am ehesten lassen sich diese Vorschläge so deuten, dass Effekte der THS auf die transtemporale Identität der Patientin im Prinzip wie jede andere Nebenwirkung auch behandelt werden sollten: Die informierte oder, wie Glannon schreibt, die kompetente Patientin entscheidet, ob sie sie akzeptiert, und nur wenn sie sie akzeptiert bzw. einwilligt, ist die THS ethisch richtig. Da diese Auffassung dem Mainstream auf den ersten Blick am besten zu entsprechen scheint und daher in gewisser Weise naheliegt, nenne ich sie die „Standardposition“. Sie dient als Ausgangspunkt meiner weiteren Überlegungen.

Die Notwendigkeit einer Differenzierung der Standardposition

Ist die in der Standardposition skizzierte Legitimationsprozedur für die THS zufriedenstellend? Ich glaube nicht. Um eine zufriedenstellende Legitimationsprozedur zu erhalten, muss die Standardposition differenziert werden. Der Grund hierfür ist, dass sie in ihrer undifferenzierten Fassung Fällen, in denen die THS die Identität von Patienten affiziert oder unterminiert, nicht gerecht wird.

Um zu erläutern, warum die Standardposition diesen Fällen nicht gerecht wird, kehre ich noch einmal zu den drei oben zitierten Autoren zurück. Synofzik und Schläpfer empfehlen, dass identitätsunterminierende Effekte der THS aus der „ureigenen Perspektive“ der Patientin beurteilt werden sollten. Wie viele Philosophen sind sie offenbar der Ansicht, dass es für Personen charakteristisch sei, eine für sie typische, individuelle Sichtweise oder Perspektive auf die Welt zu haben, aus der heraus sie unter anderem die Konsequenzen verschiedener Therapieoptionen begreifen und bewerten. Nehmen wir an, diese Redeweise sei sinnvoll, dann kann man argumentieren, dass bei normalen Therapien die Perspektive, aus der heraus sämtliche Haupt- und Nebenwirkungen bewertet werden, konstant bleibt, während sie bei wesensändernder THS mit der C-Identität der Patientin variiert.Footnote 10 Wenn nun Synofzik und Schläpfer für die ethische Legitimation der THS fordern, dass die hier relevanten Veränderungen „aus der […] Perspektive der Patientin“ beurteilt werden müssten, lassen sie offen, welche Perspektive sie meinen, die Perspektive der Patientin vor der Operation oder die Perspektive der Nachfolgerin. Ähnliche Implikationen hat die Aussage Glannons, der zufolge die kompetente Patientin entscheiden solle, was zu tun sei. Bei vielen THS-Patienten ist nicht nur die Person vor dem Eingriff, sondern auch ihre Nachfolgerin eine kompetente Entscheiderin – zumindest nach den üblichen Konzeptionen von „Kompetenz“ ([1], S. 70–72). Wie bei Synofzik und Schläpfer geht also auch aus Glannons Formulierung nicht klar hervor, welche Zustimmung zur Stimulation aus ethischer Sicht entscheidend ist, die Zustimmung der Patientin ohne Hirnschrittmacher oder die der Patientin mit Hirnschrittmacher. Die Standardposition ist also an entscheidender Stelle nicht präzise genug.

Die fehlende Präzision der Standardposition könnte jedoch für die Legitimierung der Therapie folgenreich bzw. problematisch sein. Es ist leicht vorstellbar, dass sich mit der Perspektive auch die Bewertung der Effekte der THS in einer Weise verändert, die Auswirkungen auf die Legitimation dieser Therapie haben könnte. So könnten etwa Persönlichkeitseigenschaften, die einer Patientin präoperativ wenig wünschenswert erscheinen, von ihrer Nachfolgerin (der „Patientin*“Footnote 11) allein deshalb als positiv, begrüßenswert oder zumindest unproblematisch beurteilt werden, weil die Bewertung auf Basis der postoperativen und nicht länger der präoperativen Wertvorstellungen, Charaktereigenschaften usw. erfolgt.Footnote 12 Beispielsweise haben sich einige der im Rahmen der ELSA-Studie untersuchten Parkinsonpatienten nach der Implantation des Hirnschrittmachers aus ihrem sozialen Umfeld zurückgezogen und wurden apathisch. Obwohl die Menschen um sie herum diese Veränderungen als schlimm erlebten, nahmen die Patienten selbst in der Regel keinerlei Anstoß daran.

Nehmen wir an, Lisa ist eine solche Patientin. Lisa ist trotz ihrer Erkrankung eine aktive Person, die verschiedenen Hobbies mit Freude nachgeht und einen regen sozialen Umgang pflegt. Ihre Nachfolgerin, Lisa*, hingegen ist apathisch, vernachlässigt ihre Hobbies und ist sozial weitgehend isoliert, ohne dies jedoch als schlimm oder auch nur als problematisch anzusehen. Befragt man Lisa*, ob sie mit der THS zufrieden ist, bejaht sie dies. Nehmen wir ferner an, dass Lisa, wäre sie vor dem Eingriff über die Effekte der THS informiert worden, diese als furchtbar erachtet und den Eingriff ihretwegen abgelehnt hätte. Sie wolle lieber eine kürzere Lebenserwartung und die mit dem fortgeschrittenen Stadium ihrer Parkinson-erkrankung in Zusammenhang stehenden Einschränkungen und Gebrechen in Kauf nehmen, als zu einer Person wie Lisa* zu werden, so Lisa auf eine entsprechende Nachfrage.

Wenn Lisa die THS ablehnt und Lisa* ihr zustimmt, stellt sich die Frage, welche der beiden Einschätzungen für die ethische Legitimierung der Therapie zugrunde gelegt werden sollte. Zu fordern, die Veränderungen müssten aus der Perspektive der (kompetenten) Patientin bewertet werden, ist offensichtlich zu ungenau; zusätzlich muss angegeben werden, aus welcher Perspektive die Einwilligung erfolgen sollte. Pointiert gefragt: Wer sollte einwilligen – die Patientin ohne Stimulation oder ihre stimulierte Nachfolgerin? Folgende Antwort möchte ich zur Diskussion stellen: Die Zustimmung einer Patientin zu einer wesensändernden THS-Therapie kann diese dann und nur dann ethisch legitimieren,

(B1) wenn die Patientin vor dem Eingriff den Operations- und ähnlichen Risiken sowie der Wesensänderung zustimmt; und

(B2) wenn die Patientin die Wirkungen der medizinischen Maßnahme aus der Perspektive ihrer Nachfolgerin bewertet und gegeneinander abwägt, zum Beispiel indem sie sich die Frage stellt: „Wie werde ich* diese Wirkungen erleben?“, und aus dieser Perspektive in die Therapie einwilligt.

Wie lassen sich diese Bedingungen begründen? Grundlage der ihnen eingeschriebenen Aufteilung der (Einwilligungs-)Zuständigkeiten sind das Recht auf Selbstbestimmung sowie das auf ihm basierende Prinzip der informierten Einwilligung (PIE), auf das ich oben bei der Erläuterung des medizinethischen Mainstreams bereits kurz eingegangen bin. Dem Recht auf Selbstbestimmung zufolge sollten Personen frei entscheiden können, wie sie ihr Leben führen. Doch es gibt nach Meinung der meisten seiner Befürworter eine wichtige Einschränkung dieses Rechts: Es gilt nur im Bereich der privaten Entscheidungen von Personen uneingeschränkt, wobei eine Entscheidung dann privat ist, wenn ihre Konsequenzen im Wesentlichen die Person selbst betreffen. Entscheidungen, durch die Andere gegen ihren Willen geschädigt werden, sind nicht privat und folglich auch nicht vom Recht auf Selbstbestimmung geschützt. Ob solche Entscheidungen dennoch ethisch richtig sind, kann nur unter Hinzuziehung weiterer ethischer Prinzipien entschieden werden.Footnote 13

Das PIE soll das Recht auf Selbstbestimmung innerhalb des medizinischen Kontexts zum Ausdruck bringen. Will es diesem Anspruch genügen, muss es daher auch die nötigen Ressourcen haben, um die Unterscheidung zwischen privaten und nicht privaten Entscheidungen treffen zu können. Diesen Punkt kann man leicht übersehen, denn normalerweise werden diese Ressourcen nicht benötigt. Da nämlich die Konsequenzen der Einwilligung bei den meisten Therapien im Wesentlichen die Patientin selbst betreffen, wird der Bereich des Privaten nicht verlassen, so dass die Patientin durch ihre informierte Einwilligung die Durchführung der Therapie ethisch legitimieren kann. In Fällen von identitätsunterminierender THS scheinen die Dinge anders zu liegen. Wenn hier das normale Einwilligungsverfahren beibehalten würde, scheint von den meisten Effekten der Stimulation eine andere Person betroffen zu sein als die, die zuvor in den Eingriff eingewilligt hat. Warum sollte die Legitimation des Eingriffs dann nicht auch von der Einwilligung der hauptsächlich betroffenen Person abhängig gemacht werden?

Diese Überlegungen erscheinen gut geeignet, Bedingungen (B1) und (B2) zu begründen, da sie erstens der Patientin vor dem Eingriff die Möglichkeit geben, sich diesem für sie folgenschweren Schritt zu verweigern, und da sie die Legitimität des Eingriffs zweitens davon abhängig machen, ob die Kosten-Nutzen-Bilanz der Therapie aus Sicht der Hauptbetroffenen, der Patientin*, vorteilhaft ausfällt (soweit die Patientin, die für derartige Einschätzungen vermutlich am besten geeignet sein dürfte, dies vor der Operation beurteilen kann). Als problematisch könnte man indes ansehen, dass diese Begründung vorauszusetzen scheint, dass die Effekte wesensändernder THS gemäß (Ü2) als Ende der Existenz der präoperativen Person und als Beginn der Existenz der postoperativen Person beschrieben werden sollten. So ist beispielsweise im vorigen Absatz davon die Rede, dass von den Effekten nicht nur die Patientin selbst, sondern auch eine andere Person betroffen sei. Offenbar ist hier von zwei Personen die Rede. Wenn man (Ü2) für die richtige Beschreibung hält, ist dieser Begründungsansatz zwar zunächst unproblematisch; weiter oben habe ich jedoch erklärt, dass die meisten Autoren, die in Philosophie und speziell der Medizinethik zu personaler Identität und Ethik publizieren, (Ü3) bevorzugen und dass das hauptsächliche Ziel meiner Überlegungen in diesem Aufsatz daher darin besteht, die praktischen Implikationen von (Ü3) zu prüfen.

Ich glaube, man sollte auch dann an der oben vorgeschlagenen Erweiterung des PIE festhalten, wenn man überzeugt ist, dass die tiefgreifenden psychischen Effekte, die in Einzelfällen mit der THS einhergehen, wie von (Ü3) gefordert, als Veränderungen ein und derselben Patientin beschrieben werden sollten. Doch da gemäß (Ü3) auch bei wesensändernder THS nur eine Person beteiligt ist, steht die obige Begründung, insofern sie die Existenz zweier Personen voraussetzt, nicht mehr zur Verfügung. Nötig ist daher ein alternativer Begründungsvorschlag für (B1) und (B2), der nicht auf metaphysische, sondern, wie man vielleicht sagen könnte, ausschließlich auf ethische Erwägungen abstellt. Mein Vorschlag lautet, statt mit Privatheit und numerischer Identität mit Autonomie zu argumentieren. Prima facie dürfte das PIE mit einer solchen Schwerpunktverlagerung gut verträglich sein, denn dass es dem Schutz autonomer Entscheidungen der Patienten diene, wird von seinen Verteidigern seit vielen Jahren immer wieder betont ([1], S. 77). Ich möchte daher den Aufsatz mit einigen (vermutlich allzu) knappen Gedanken zu dieser alternativen Rechtfertigung abschließen.

Auf Basis von Autonomieüberlegungen lautet die Begründung für (B1), dass bei THS, in deren Folge sich die C-Identität der Patientin verändert, die autonome Einwilligung in die Änderung der C-Identität (sowie die Akzeptanz typischer Operationsrisiken) präoperativ erfolgen muss. Die autonome Einwilligung in die übrigen Folgen der Therapie muss gemäß (B2) prinzipiell postoperativ erfolgen.Footnote 14 Zunächst zur Begründung von (B2). Warum wäre aus Autonomiegesichtspunkten eigentlich die postoperative Einwilligung in das Gros der THS-Effekte notwendig? – Weil sich, wie das Lisa-Beispiel und viele reale Fallgeschichten veranschaulichen, die Perspektive der Patientin und damit die Bewertung sämtlicher Effekte der Therapie nach dem Eingriff so deutlich von der präoperativen Perspektive und der aus ihr vorgenommenen Bewertung unterscheiden und weil es die postoperative Perspektive ist, aus der heraus die Patienten die Mehrzahl der THS-Effekte erfahren? Diese Antwort ist nur teilweise richtig. Denn nicht jedes Mal, wenn Sichtweisen und Bewertungen sich verändern, halten wir dies aus Autonomiegründen für berücksichtigenswert. Im Gegenteil, wir treffen sogar Vorkehrungen, um uns in bestimmten Situationen vor den Folgen veränderter Bewertungen zu schützen, wie das berühmte Beispiel des Odysseus belegt. Doch was unterscheidet Odysseus von den hier im Fokus stehenden THS-Patienten? Wie oben bereits erwähnt, sind Letztere nach dem Eingriff zwar wesentlich verändert, aber nicht entscheidungsinkompetent. Die veränderte Perspektive, aus der sie die meisten Haupt- und Nebenwirkungen der THS erleben und bewerten, ist nicht die eines von verführerischen Gesängen um den Verstand gebrachten Seemannes, sondern die einer Person, die die meisten Menschen vermutlich als vernünftig bezeichnen würden. Der Grund dafür, dass gemäß (B2) die postoperative Einwilligung prinzipiell nötig wäre, um die THS zu legitimieren, liegt also nicht nur darin, dass sich die Bewertungsperspektiven so stark unterscheiden und dass die meisten Effekte der THS das Leben der veränderten Patientin betreffen, sondern er hat ganz zentral damit zu tun, dass es sich bei der veränderten Patientin um eine kompetente Patientin und folglich bei ihrer postoperativen Perspektive um eine respektable Perspektive handelt.

Wenn man die voranstehende Begründung für (B2) akzeptiert, fällt die Begründung von (B1) relativ leicht. Denn die Antwort auf die Frage, warum den Operationsrisiken sowie der Veränderung der C-Identität aus Autonomiesicht präoperativ zugestimmt werden sollte, setzt sich auch hier aus den beiden schon bekannten Elementen zusammen. Zum einen ist auch die präoperative Perspektive nicht die eines Odysseus, sondern die einer kompetenten Entscheiderin. Zum anderen betreffen Operationsrisiken und Identitätsänderung in einem bestimmten Sinn ausschließlich die unveränderte Patientin: Sie wird von den Operationsrisiken bedroht und durch die psychischen Effekte der THS verändert. Sie ist es folglich, der tiefgreifende Einschnitte bevorstehen. Zu bestreiten, dass eine solche Zäsur ihrer Zustimmung bedarf, hieße, die Idee des PIE weitgehend zu entleeren. Um zu dem Beispiel von oben zurückzukommen: Wenn Lisa nach reiflicher Überlegung zu der Entscheidung gelangt, dass sie nicht zu einer Person werden will, die apathisch, weitgehend isoliert und dennoch zufrieden lebt, ist das meines Erachtens für die Entscheidung für oder gegen die THS von großer Wichtigkeit – unabhängig davon, ob Lisas Nachfolgerin sich später wohlfühlen würde oder nicht. Aus diesem Grund halte ich es nicht nur für erforderlich, dass, wie von Bedingung (B2) gefordert, die Effekte der THS relativ zur Perspektive der veränderten Patientin bewertet werden. Vielmehr muss die Patientin sich aus ihrer präoperativen Perspektive heraus zusätzlich fragen, ob sie zu einer Person werden will, die die Effekte der THS so erlebt und bewertet. Daher ist auch die Erfüllung von Bedingung (B1) notwendig für eine ethisch valide Zustimmung zu wesensändernder THS.

Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.