In Deutschland und anderen Staaten übersteigt nach wie vor die Nachfrage nach Spenderorganen das Angebot. Ein Grund dafür ist die mangelnde Bereitschaft vieler Menschen, ihre Organe im Fall ihres Hirntods zur Spende zur Verfügung zu stellen. Im Jahr 2020 ist der Vorschlag des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn, diesen Missstand durch die Einführung der Widerspruchslösung zu beseitigen, im Bundestag abgelehnt worden. Unter anderem deshalb besteht das Problem der Organknappheit fort. Dies ist ein guter Grund dafür, die ethische Frage, ob es eine Pflicht zur postmortalen Organspende gibt, einmal gründlich zu erörtern.

Dies hat Peter Schaber in seiner Monografie getan. Das Buch ist in der Reihe #philosophieorientiert erschienen und, dem Profil der Reihe entsprechend, erstens vergleichsweise kurz und zweitens thetisch auf die Beantwortung einer Frage zugespitzt. In diesem Fall lautet diese Frage, ob wir moralisch zur Organspende verpflichtet sind oder ob es sich bei der Organspende um ein freiwilliges Geschenk handelt. Schaber gibt eine klare und wohlbegründete Antwort auf diese Frage. Er vertritt die These, dass wir die moralische Pflicht haben, unsere Organe ggf. nach unserem Tod zu spenden. Diese These wird vor allem durch eine Gegenüberstellung begründet. Während auf der Seite der potentiellen Organempfänger ein großes Übel droht, nämlich der Verlust des Lebens oder eine fortgesetzte Beeinträchtigung ihrer Gesundheit, sind die Kosten für die potentiellen Spender gering. Da ihre Interessen nach dem endgültigen Verlust des Bewusstseins nicht mehr beeinträchtigt werden können, kann man ihnen durch die postmortale Organentnahme nicht mehr schaden. Der einzige ernst zu nehmende Grund gegen die Organspende sei der Wunsch, zu Hause im Kreise der Angehörigen zu sterben und sich von diesen verabschieden zu können. Da allerdings der Hirntod in aller Regel unerwartet eintritt, sei diese Möglichkeit meist ohnehin nicht gegeben. Darüber hinaus sei die Wahrscheinlichkeit, dass der Fall der Organspende überhaupt eintrete, für die Einzelne außerordentlich gering. Aus diesen Gründen sei die Organspende keine supererogatorische Handlung; vielmehr bestehe die moralische Pflicht zur Organspende.

Schaber betont jedoch, dass die Einhaltung moralischer Pflichten nicht erzwungen werden darf. Daher dürften Menschen, die sich vor ihrem Tod ausdrücklich gegen die Organspende ausgesprochen haben, keine Organe entnommen werden. Zwar dürfe man ihre Entscheidung moralisch kritisieren; man dürfe ihnen aber gegen ihren Willen keine Organe entnehmen. Dies folge aus dem „Recht über den eigenen Körper“. Dieses Recht bestehe darin, dass ein Mensch vor seinem Tod darüber bestimmen darf, was nach seinem Tod mit seinem Körper geschehen soll.

Die rechtliche Regelung, welche sowohl dem Recht über den eigenen Körper als auch der moralischen Pflicht zur Organspende am besten Rechnung trage, sei eine modifizierte Widerspruchslösung, die Schaber als „Erklärungslösung“ bezeichnet. Die Widerspruchslösung besagt bekanntlich, dass es rechtlich grundsätzlich erlaubt ist, Hirntoten Organe zu entnehmen, es sei denn, dass diese vor ihrem Tod Widerspruch dagegen eingelegt haben. Grundsätzlich sei diese Lösung moralisch gut begründet, weil sie der Tatsache gerecht werde, dass man einer Person Unrecht tut, wenn man ihr nach ihrem Tod gegen ihren Willen ein Organ explantiert (S. 70). Damit dieser Fall möglichst nicht eintritt, sei es nötig, die Widerspruchslösung zu erweitern: „Um zu verhindern, dass einer Person Unrecht geschieht, indem man gegen ihren Willen postmortal Organe entnimmt, sollte man sich darüber hinaus für eine Erklärungslösung entscheiden. Die Bürger*innen müssten regelmäßig darauf hingewiesen werden, dass sie einen negativen Organspendewillen explizit machen sollten“ (S. 70).

Im Hinblick auf die Rolle der Angehörigen müsse man zwei Fälle unterscheiden. Falls (i) der Wille der Verstorbenen bekannt ist, müsste dieser von den Angehörigen in jedem Fall respektiert werden, und zwar sowohl dann, wenn die Verstorbene sich zur Organspende bereit erklärt hat, als auch dann, wenn sie sich dagegen ausgesprochen hat (S. 84). Falls jedoch (ii) kein aktualer Wille in Gestalt einer Patientenverfügung vorliegt und sich der mutmaßliche Wille nicht ermitteln lässt, z. B. weil niemals über das Thema gesprochen wurde, müsse man das Risiko, der Verstorbenen Unrecht zu tun, vermeiden, indem man auf die Organentnahme verzichte.

Im letzten Kapitel geht der Autor kurz auf das Problem der Lebendspende ein. Der Autor argumentiert hier für die Auffassung, dass der Empfängerkreis nicht, wie es derzeit im Recht der Fall ist, auf die Angehörigen des Spenders beschränkt werden dürfe. Vorausgesetzt, dass die Spende freiwillig und informiert erfolge, dass die Risiken der Operation von den Ärztinnen moralisch verantwortet werden können und dass sich das Motiv für die Spende nicht moralisch problematischen Einflüssen verdanke, sollte es stattdessen rechtlich erlaubt sein, auch anderen Menschen als den eigenen Angehörigen Organe zu spenden (S. 115).

In seinem Buch vertritt Peter Schaber klare Thesen, und er begründet diese mit wohlüberlegten und präzise dargelegten Argumenten. Der Gedankengang zeichnet sich darüber hinaus durch begriffliche Schärfe und sachliche Differenziertheit aus. Es dürfte daher schwer sein, überzeugende Einwände gegen Schabers ethische Position zu finden. Anders verhält es sich jedoch im Hinblick auf seine begriffliche Voraussetzung. Da man Schaber zufolge einer Person, deren Bewusstseinsleben ein für alle Mal zu Ende gegangen ist, keinen Schaden mehr zufügen kann, sei das irreversible Ende der mentalen Existenz eine hinreichende Bedingung für die Entnahme von Organen (S. 11 ff.) Daher könne die Frage, ob das Hirntodkriterium das angemessene Todeskriterium ist, offenbleiben (S. 16). Entscheidend sei, dass Hirntote die Fähigkeit, etwas bewusst zu erleben, endgültig eingebüßt haben. Ob sie tot oder lebendig sind, sei irrelevant (ebd.). Ganz so einfach dürfte sich das Problem jedoch nicht lösen lassen. Wenn hirntote Patienten leben und wenn die Organentnahme zu ihrem Tod führt, dann wird die Tötung des Patienten bei der Explantation zumindest in Kauf genommen. Im Übrigen würden sich hirntote Patienten dann prinzipiell in der gleichen Lage befinden wie sogenannte Wachkomapatienten, sodass gelten würde, dass man entweder beiden Gruppen Organe entnehmen darf oder keiner von ihnen. Daher scheint mir, dass Schaber die Tragweite der Frage, ob das Hirntodkriterium angemessen ist, unterschätzt hat. Doch dies ist, aufs Ganze gesehen, ein marginaler Einwand.

Das Buch ist allen an dem Thema Interessierten nachdrücklich zur Lektüre zu empfehlen. Aufgrund seiner Kürze und der kompakten Darstellung dürfte das Buch auch gut für die Lehre im Bereich der Medizinethik geeignet sein.