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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter March 11, 2024

Und zum Schluss: Liebe

George Pattisons metaphysische Rahmung

  • Kinga Zeller ORCID logo EMAIL logo

Zusammenfassung

Pattison behandelt in dem letzten Band seiner Philosophie des christlichen Lebens die titelgebende Frage nach einer Metaphysik der Liebe. Die Diskussion fokussiert sich auf eine Wiedergabe dreier zentraler Gedankengänge und Elemente: Zunächst auf die Rolle der Sprache mit ihren Formen als Ruf und Versprechen sowie anschließend auf das Verhältnis von Liebe und Zeit als Chronos und Kairos, in deren Verbindung Pattison seine Gedanken von einer individuellen auf eine kirchliche Ebene ausweitet. Schließlich wird nachgezeichnet, inwiefern für Pattison aus seinen dargelegten Gedanken eine unumgängliche menschliche Solidarität folgt. Kritisch wird hinterfragt, wieso eine universale Liebe, wie sie Pattison vorschwebt, Selbstliebe generell ausschließt.

Abstract

In his latest volume of the Philosophy of the Christian Life, Pattison addresses the titular question of a metaphysics of love. The discussion focuses on the presentation of three central ideas and elements: firstly, on the role of language with its forms as call and promise; secondly, on the relationship between love and time as Chronos and Kairos, in whose connection Pattison expands his thoughts from an individual to an ecclesial level. Finally, it is traced how, for Pattison, an inevitably human solidarity follows from his outlined thoughts. Critically questioned is why a universal love, as envisioned by Pattison, generally excludes self-love.

Pattisons finaler Band seiner Philosophie des christlichen Lebens trägt den programmatischen Titel A Metaphysics of Love. In den vorangegangenen Bänden hat er argumentiert, inwiefern und auf welche Art und Weise sich das fromme Leben (devout life) in hingebungsvollen Beziehungen ausdrückt, die nicht vom Menschen selbst initiiert werden, sondern durch den Ruf Gottes: Weil Gott den Menschen beim Namen rufe, könne auch dieser Gott bei dessen Namen rufen und sei er offen für den Ruf anderer an ihn. Mit einer Metaphysik der Liebe sollen diese Beziehungsgeschehen ihre Rahmung erhalten. Im Folgenden werde ich in gebotener Kürze einige Hauptanliegen des Autors nachzeichnen und dabei bereits einige Anfragen formulieren.

Es sei vorab darauf hingewiesen, dass mit mir eine Person für dieses Projekt angefragt wurde, die in ihrer eigenen Arbeit für ein positives christliches Verständnis von Selbstliebe argumentiert. Bestimmte Oppositionen zu Pattison, der auch in einer universal gedachten Liebe keinen Raum für Selbstliebe sieht, sind daher in der Konstellation von vornherein angelegt; ich widme diesem Umstand einen eigenen Punkt zum Schluss dieses Beitrags.

1 Eine Metaphysik der Liebe

In dem dritten Band seiner Philosophie des christlichen Lebens buchstabiert Pattison aus, inwiefern Dantes Auffassung, „that the love that binds Dante, Beatrice, and God together is identical with the love that moves the sun and other stars“ (22)[1], philosophisch-theologisch gedacht werden könne. Diese prominente Positionierung der Göttlichen Komödie deutet bereits an, dass der Autor auch in diesem dritten Band sein Thema in einem breit angelegten Gespräch mit Stimmen aus konfessionell verschieden geprägten Theologien und (Religions-)Philosophien sowie Literatur und Film bearbeitet, wobei letzteren nicht nur die Rolle der Veranschaulichung zufällt, sondern Pattison sich ihrer auch zur Weiterführung und Begründung seiner Gedanken bedient.

Nach einer einleitenden, kurzen Rekapitulation der vorangegangenen Bände zeichnet Pattison den Horizont, vor dem die Untersuchung zu verstehen ist. Er nimmt dazu die Gefahren, die mit jeder Rede von Metaphysik einhergehen, ernst und sieht sich insofern in einer post-metaphysischen Linie, als er nicht von „the simply identity of God and being“ (20) ausgeht. Nichtsdestotrotz will er dem Zusammenhang von Gott und Liebe nachgehen und versteht seine Arbeit insofern als metaphysisch.

Liebe definiert Pattison nicht, um keines ihrer Phänomene auszuschließen. Stattdessen will er etwas von ihrem Wie zeigen, nämlich „the way in which we receive it, give it, and speak of it“ (14). Die konstitutive Rolle des Rufes oder der Berufung (call/vocation) im frommen Leben findet sich hier insofern wieder, als Patisson hervorhebt, dass Liebe nicht unabhängig von Sprache existieren könne: Dass wir überhaupt ein Verständnis von Liebe haben, sei in ihrer sprachlichen Fassung begründet und auch in unseren Ausdruck von Liebe sei Sprache (und sei es als Schweigen) immer involviert.

Tatsächlich lässt sich Pattison in bewundernswerter Kohärenz an keiner Stelle seines Buches zu einer Definition von Liebe hinreißen. Da er allerdings Gott als Liebe versteht, aber auch bei Nächstenliebe und präferentieller Liebe in ihren verschiedenen Beziehungsformen von Liebe spricht und Liebe mal als Gefühl, mal als Gebot, mal als Pflicht, mal eher als eine Tugend oder Haltung und mal als eine Kombination verschiedener Aspekte erscheint, wären einige Überlegungen zu Kategorisierungsmöglichkeiten und Hinweise darauf, was jeweils gemeint ist und welche Elemente vielleicht auch ausgeschlossen sind (und wieso jeweils), hilfreich und weiterführend gewesen. Das gilt auch insofern, als für Pattison in einer Metaphysik der Liebe die Liebe auch Maßstab der Erkenntnis sein und die grundlegende ontologische Verfassung des Menschen beleuchten soll.

1.1 Die Sprache der Liebe – einsprachig?

Pattison folgt Kierkegaard darin, dass es in Bezug auf Liebe keine „uniquely fitting language“ (45) gebe, – auch dann nicht, wenn Sprache auf den nonverbalen Bereich ausgedehnt werde. Daher seien (liebevolle) Interpretationen unserer Kommunikationen immer erforderlich und gehöre Liebe auch in dieser rezeptiven Hinsicht in den Bereich der Sprache (vgl. 49). Während das Was dieser Sprache ambig bleibe, sei das Wie aber deutlich: Es handele sich (mit Rosenzweig) um die Modalität der Vokativität (vgl. 50 ff.). Die Pflicht zu lieben ergebe sich nicht aus moralphilosophischen Überlegungen, sondern aus dem Ruf eines anderen Menschen, hinter dem oder durch den letztendlich Gott uns zu lieben gebiete (vgl. 53 f.). Letztendlich sei in jedem Ruf durch einen anderen Menschen das Liebesgebot bereits impliziert.

Mit Kierkegaard betont Pattison, dass ein Verständnis des Liebesgebotes als Gottesgebot auch deswegen wichtig sei, „because God is the good creator who, having made us, knows our capabilities better than we do ourselves and therefore would not confront us with impossible commandments” (53). Es sind solche Zuspitzungen, von denen im vorliegenden dritten Band noch einige mehr begegnen, die eine sensible Thematisierung der politischen und ökonomischen Lebenswelt auch frommer Menschen vermissen lässt. Denn für einen Krankenpfleger oder eine Erzieherin, die in unserem Sozialwesen arbeiten, können diese Worte kaum anders als zynisch klingen. Nicht Gott, aber Menschen bringen andere Menschen in Situationen, in denen sie konstant mit bedürftigen Nächsten konfrontiert und ihrem Ruf ausgesetzt sind, ohne dass genügend Zeit oder Arbeitskraft für die Bewältigung zur Verfügung stünden. Nicht wenige Menschen in sozialen Berufen brennen aus, gerade weil sie sich für jeden Ruf verantwortlich fühlen. Wie wird die hier präsentierte Metaphysik der Liebe den Erfahrungen dieser Menschen gerecht? Theologisch gefragt: Inwiefern muss sich eine Metaphysik der Liebe nicht nur mit konkreten oder dem Menschen vermeintlich wesenhaft eigenen, sondern auch mit von Individuen losgelösten, strukturellen Formen von Sünde befassen? Pattison thematisiert zwar später die „immoral society“ (Kap. 4), aber gerade weil er „prudential self-preservation“ ablehnt (56), bleibt offen, wie ein frommes Leben auch nachhaltig im Dienste der Nächsten gelebt werden kann.

Dass die Sprachanalyse weitreichende Folgen im konkreten Leben haben kann, zeigt sich auch, wenn Pattison auf das Versprechen eingeht, das jedem Ruf impliziert sei. In dem Versprechen ließe sich ein Paradigma der Liebe erkennen, denn in der gegenseitigen Anrufung zeigten sich die Menschen als die, die sie sind, und vertrauten sich den jeweils anderen an (61 f.). Neben diesem Offenbarungsmoment habe das Versprechen auch ein essentielles temporales Element: In der Antwort auf die Anrufung berge das Versprechen immer auch eine Zukunftsoption, in der sich die jeweilige Beziehung angemessen realisieren könne (vgl. 60 ff.). Pattison spielt diese Gedanken am christlichen Eheversprechen durch, an dem sich das genannte Paradigma besonders gut erkennen lasse und an dem auch andere Formen der Liebe gemessen und beurteilt werden könnten:

‚For better, for worse, in sickness and in health‘ implies that marriage must be able to survive every outrage that the world might inflict [...] as well as all the sufferings that the couple might inflict upon each other. History and literature offer plentiful examples as to how bad this can get. Yet all this, the couple seem to say, we can endure and overcome. (64)

Hier zeigen sich potentiell problematische Konsequenzen: „sufferings that the couple might inflict upon each other“, lässt sich nicht nur mit Enttäuschungen und vielleicht Betrug assoziieren, sondern durchaus auch mit den Berichten zu den in den Corona Jahren alarmierend gestiegenen Vorfällen häuslicher Gewalt. Pattison gesteht zwar knapp 30 Seiten später in einer Fußnote zu, dass das Zusammenwohnen in Missbrauchsfällen wohl nicht mehr möglich sei, man aber für den*die Aggressor*in weiterhin beten könne (92, Anm. 31). Das scheint jedoch ein bisschen spät und auch ein bisschen wenig. Nicht, dass es nicht wünschenswert wäre, dass Opfer häuslicher Gewalt zu einem Punkt gelangen, an dem sie für ihre Täter*innen beten würden. Ebenso ist Pattisons Anliegen grundsätzlich durchaus zu würdigen und hat einen guten Punkt: Es fällt Menschen manchmal zu leicht, eingegangene Beziehungen wieder aufzukündigen und die zugesagte Verantwortung abzustoßen. Das wird zurecht angemahnt und kann mit den normativen Vorstellungen einer christlichen Lebensführung nicht vereinbar sein. Wenn aber auch in Großbritannien jeder fünfte erwachsene Mensch häusliche Gewalt erfährt,[2] dann handelt es sich hierbei nicht mehr um Einzelfälle, die aus einem generellen Paradigma herausfallen. Daher sollte der Frage, wie das Versprechen an den anderen Menschen mit Erwägungen zur eigenen Sicherheit zu verbinden ist, ein gewisser Raum gegeben werden. Die Annihilation des Selbst, die Pattison andernorts fordert (vgl. 143), kann andernfalls sehr konkret werden, – oder wird tatsächlich auch in dem sich Schlagen- und schlimmstenfalls Töten-Lassen die Verwirklichung des frommen Lebens gesehen? Sind es solche Dinge, die er meint, wenn Gottes Liebe von uns fordern kann, unser Leben zu geben (s. u.)? Es zeigt sich an solchen Punkten besonders deutlich, dass eine Metaphysik der Liebe potenziell weitreichende Konsequenzen für eine Ethik hat. Vielleicht könnte aus der Trilogie noch eine Tetralogie werden, die solche Anfragen umfassend klärt.

Vermutlich blendet Pattison die skizzierten Erfahrungsdimensionen in seiner Metaphysik aus, weil er davon ausgeht, dass das Versprechen, von dem er schreibt, von solchen Menschen gegeben wird (und gehalten werden will), an die der Ruf Gottes bereits ergangen ist, „in our concrete personal individuality, into the space of a life shared with others, accepting the pain (repentance) of breaking open the casing of egoism that keeps us from being-with-others as we could be” (75). Es wäre dann ein sehr selbstreflektierter simul iustus et peccator, an den sich Pattisons Aussagen wenden.

Es wird an den genannten Beispielen und auch im weiteren Verlauf immer wieder deutlich, dass Pattison seine nicht näher definierte Liebe kenotisch denkt und Selbsthingabe und -aufgabe als Liebesideale profiliert. Dem ist entgegenzusetzen, was Valerie Saving Goldstein bereits 1960 überzeugend darlegen konnte und was an Aktualität, zumindest in diesem Kontext, nicht verloren hat:

Contemporary theological doctrines of love have [...] been constructed primarily upon the basis of masculine experience and thus view the human condition from the male standpoint. Consequently, these doctrines do not provide an adequate interpretation of the situation of women – nor, for that matter, of men, especially in view of certain fundamental changes now taking place in our society.[3]

Saving legt pointiert dar, dass das jeweilige Verständnis von Sünde und Liebe so zusammenhängen, dass das Liebes- jeweils konträr zum Sündenverständnis steht. Pattison scheint Sünde zuvorderst als Egoismus und Egozentrismus zu deuten, deren Gegenbewegung dann Selbsthingabe und Selbstannihilation sind. Nur sind diese Erfahrungen oder Situationsbeschreibungen in Savings Kontext, und, so will ich behaupten, auch bei Pattison einseitig, weil sie die traditionell paradigmatischen Erfahrungen und Situationen von Frauen ausblenden.[4]

Die vom Mann unterschiedene Situation der Frauen – neben biologischen Faktoren auch die Auseinandersetzung mit den Anforderungen klassischer Rollenbilder und den dazugehörigen Wesenszuschreibungen – machen für Savings eine Hamartiologie aus weiblicher Perspektive nötig. Deren andere Form der Sünde lasse sich zusammenfassen als „underdevelopment or negation of the self“[5], denn die traditionellen Aufgaben der Frauen bestünden gerade darin, sich zum Wohle anderer (Kinder und anderer Pflegebedürftiger) zurückzunehmen und deren Wünsche und Bedürfnisse über die eigenen zu stellen. Würden auch diese Seiten der Sünde in die theologische Betrachtung einfließen, ließe sich, so Savings zentrale These, auch eine realistische Lehre der Liebe – und entsprechend auch eine realistischere Vorstellung des frommen Lebens und einer Metaphysik der Liebe – formulieren. Anders gewendet: Wenn Pattison in seiner Philosophie des christlichen Lebens den Ausgangspunkt in dem frommen Leben der Gläubigen sieht, dann sollte entweder die Gruppe der gemeinten Gläubigen so eingegrenzt werden, dass die phänomenologische Beschreibung zutreffend ist (was angesichts des universalen Anspruchs, den er vertritt, nicht erstrebenswert sein dürfte), oder es müsste ausgewiesen werden, wieso entweder feministischen (und auch befreiungstheologischen) Stimmen in ihrer Selbst-, Welt- und Gotteserfahrung grundsätzlich kein Gehör geschenkt wird, oder ihre Argumente nicht überzeugen können.

1.2 Kairos, Chronos und das Königreich der Liebe

Neben dem Verhältnis zur Sprache bedenkt Pattison eigens das Verhältnis der Liebe zur Zeit. Die Frage nach diesem Verhältnis stellt sich für ihn vor allem vor dem Hintergrund, dass Liebe als etwas Bleibendes, etwas alle Veränderungen Überdauerndes gesehen werde. Wie kann eine solche Liebe gedacht werden? Pattisons Antwort bezieht sich nicht auf ein bestimmtes Verständnis von Liebe, sondern auf ein bestimmtes Verständnis von Zeit: Kairos statt Chronos. Mit Theunissen argumentiert er, dass wir in unserer Erfahrung auch eine Tiefendimension von Zeit kennen, die wir kairologisch wahrnehmen würden. „It is in time itself that we are to find that other time, the time of salvation, which, in the form of hope, means a transformed relation to the future” (80).

Hoffnung sei, Pattison ist wieder bei Kierkegaard, ebenso das zentrale Dritte, durch das Liebe und Zeit zueinander ins Verhältnis gestellt würden: Selbst wenn eine jeweilige Beziehung sich nicht auf liebevolle Weise realisieren ließe, oder sogar von einer Seite abgebrochen würde, bleibe immer die Hoffnung, dass die Beziehung zu einem späteren Zeitpunkt in eine liebevolle Form – durchaus auch zu einer anderen als der ursprünglichen – (zurück)findet. Diese Hoffnung impliziere auch, dass die Liebenden einander Zeit geben. Dabei gehe der eigenen gegebenen Zeit immer die zuerst gegebene Zeit des*der Rufenden voraus: „it is in fact their need, their appeal, and their claim that qualifies my time in such a way as to make it the occasion or instrument of love. My giving of time to the other is possible because the other has already given their time to me by requiring my attention“ (95 f.). Das fromme Leben weiß sich mithin durch die Rufenden beschenkt – und das nicht einmalig oder je und je neu, sondern beständig. Den mit Theunissen und Kierkegaard kairologisch bestimmten Augenblick weitet Pattison unter Einbezug Rosenzweigs auf die wiederkehrenden Rhythmen unseres Zeiterlebens aus. Liebe könne dadurch zu einer Praxis und gemeinschaftlichen Verpflichtung werden (vgl. 100), womit die individuelle Ebene verlassen wird und Pattison zu der Frage kommt, in welcher Sozialform sich das Königreich Gottes als Königreich der Liebe realisieren ließe.

Dem Königreich der Liebe stehe zunächst immer der Unmöglichkeit der Liebe entgegen. Mit Niebuhr hält Pattison hierzu fest:

[...] While individuals may be brought to respond to Christ’s call to love, it is more than likely – maybe inevitable – that larger social units will remain impervious. Individuals may be moved to sacrifice their lives, for family, friends, or even country, but it is hard to imagine a case in which one country voluntarily sacrifices itself for another. (110)

Die Dichotomie von moralischem Individuum und moralloser Gesellschaft sieht Pattison als Kern des klassischen Verständnisses der lutherischen Zwei-Regimenten-Lehre (two-kingdoms’ doctrine), deren Gefahren das Dritte Reich nachdrücklich vor Augen geführt habe. Dennoch glaubt Pattison daran, dass das Königreich der Liebe auf den Weg gebracht werden könne. Statt bei Staaten will er hierzu beim Individuum anfangen, in dem die Liebe ihren Anfang nehme, und bei den sozialen Einheiten, in denen das Individuum sich entsprechend ausdrücken könne, um von hier die Bausteine zu nehmen, die die immoral society in ein solches Königreich verwandeln können. Bei diesen (exemplarisch ausgewählten) Einheiten handelt es sich zum einen um die Familie, zum anderen um die Kirche.

In Rahmen der Familie könnten Praktiken der Liebe gelernt und eingeübt werden, die später auch in der weiteren Gesellschaft zur Anwendung kämen. Problematisch werde das dann, wenn in der ausgeweiteten Logik von „moral man, immoral society“ Liebe nicht universal verstanden würde, weil in diesem Fall Grenzen nicht aufgeweicht, sondern im Gegenteil verhärtet würden. Um Liebe universal zu denken, müsse daher bereits die Familie anders als lediglich konstitutiv auf Blutsverwandtschaft fußend gedacht werden. Bei Dostojevsky bedient sich Pattison hierzu des Konzepts der „zufälligen Familie“ (accidental family):

In these accidental families, the biological element may still be present in varying degrees and ways, but it is not foundational [...]. As such it is therefore also open to almost unlimited permutations in terms of size and the kinds of relationships it embodies, maybe resulting from the more or less chance impacts of social change and personal circumstance or, sometimes from a deliberate utopian option for communal living [...]. (129)

Gerade mit Blick auf die Kirchen, in denen die Familie noch immer als „primary and normative milieu in and through which we are to learn love” (130) gelte, berge dieses Familienverständnis enormes (und ich möchte mit Blick auf moderne Verständnisse von Familienzusammenstellungen ergänzen: revolutionäres) Potenzial. Aus theologischen Gründen will Pattison die Kirche als Familie verstehen, kann mit dem Konzept der accidental family aber gleichzeitig einen Universalitätsanspruch aufrechterhalten und sieht sich damit auch in Übereinstimmung mit den frühen christlichen Gemeinden.

Gerade weil die Grenze dieser zufälligen Familie nicht festgelegt sei, könne sie sich auf immer größere Netzwerke hin ausweiten und so dazu beitragen, das Königreich der Liebe zu befördern, auch wenn die menschlichen Bemühungen alleine dazu nicht ausreichend seien (vgl. 134–138 sowie Kap. 5.2).

1.3 Menschliche Solidarität in gegenwärtiger und eschatologischer Perspektive

Diesem Mehr, durch das sich das Königreich der Liebe schon jetzt sowie eschatologisch realisieren lasse, geht Pattison nach, indem er zunächst darauf eingeht, dass es eine Liebe gebe, die sich qualitativ von präferenzieller Liebe unterscheide, da in ihr Liebe selbst „the sole reason for love“ sei (149). Die meisten würden solche Fälle kennen, in denen der Mensch zu einer Liebe „without reserve and without regard for oneself“ (150) fähig wäre und diese Liebe, wenn sie ihm begegnet, auch als eine solche erkennen könne. Als eine eben solche Liebe habe sich Gott in Christus offenbart und seine Liebe sei erkennbar als „forgiving, reconciling, and, as such, establishing the basis for a new community of love within historical time – the ‘not yet’ of the New Jerusalem in the ‘now’ of this ‘present time’, in but not of this ‘passing’ world“ (159). Christi Geburt zeige das absolut Neue, das Kreuz wiederum „is the definitive showing of devine love: it shows us what God is like and what we must become, it shows us how much we are loved by God and how much God’s love may require of us – potentially everything, life itself“ (164 f.). Die beiden oben ausführlich formulierten Anfragen, die zum einen auf lebensweltliche Kontexte und zum anderen auf implizierte Sündenverständnisse zielen, ließen sich hier wiederholen.

Die vielleicht im Alltag häufiger begegnende Forderung an uns, die aus der empfangenen göttlichen Liebe hervorgehe, sei die Anerkennung unserer Vergebungsbedürftigkeit und der Appell, dass wir selbst unseren Mitmenschen immer wieder vergeben sollen. Pattison arbeitet auch hier mit Kierkegaard und betont, dass zwar gilt, dass uns nicht vergeben werden kann, wenn wir nicht vergeben, dass dies aber insofern kein do-ut-des-Verhältnis sei, als der gerufene Mensch sich immer schon als der von Gott vergebene Mensch erkennen würde (vgl. 170 f.). Strukturell finde sich diese christliche Liebe in der Feier des Abendmahls abgebildet, in der die kirchliche Gemeinschaft als zufällige Familie auf den Ruf Christi antworte (vgl. 176 f.).

Neben den ekklesiologischen und sakramentaltheologischen Aspekten ist für Pattison des Weiteren die Eschatologie immer wieder von Bedeutung. Anders als Heidegger will er den Tod nicht als etwas sehen, dass uns als Einzelne ereilt, sondern als „pointing to our essential solidarity“ (202). Diese Solidarität bringt ihn zu der Frage, was für die bereits Verstorbenen anzunehmen sei und wie eine Gemeinschaft der Lebenden und Toten in einer sich schon in der Zeit immer wieder realisierenden Eschatologie denkbar wäre. Besonders die Frage nach Gerechtigkeit spiele dabei eine Rolle, denn während zukünftige Generationen womöglich in Frieden und Fülle leben würden, gäbe es trotzdem noch jene, denen das im Laufe ihres Lebens nicht beschieden worden sei. Der Ruf dieser (verstorbenen) Menschen an die jetzt Lebenden dränge darauf, sie in Erinnerung zu bewahren, wobei die Erinnerung, nach der sie verlangen, sich danach unterscheide, ob sie in ihrem Leben Täter oder Opfer gewesen seien (vgl. 206). Pattison expliziert hier nicht weiter, aber wahrscheinlich sind die Nennung von Täter und Opfer als Spektrum zu verstehen und ist auch Raum für eine Erinnerung, die dem Umstand Rechnung trägt, dass die wenigsten Täter in ihrem Leben nur das und nicht auch selbst Opfer waren. Was Pattison mit seinen Gedanken andeuten will, ist „a vision of human solidarity that embraces the terrible dualities of human history but also grounds them in a vision of shared suffering and shared appeal for redemption from suffering“ (206). Die christliche Hoffnung sei daher „not hope of individual self-conscious but of maximal encompassing of our being together“ (207).

Nachdem Pattison die Inhalte einer Metaphysik der Liebe dargelegt hat, widmet er sich abschließend zum einen der Frage, als welche Art von Wahrheit seine Aussagen und Ansichten zu verstehen seien, und zum anderen den spezifischen Aufgaben und Möglichkeiten der Disziplinen der Philosophie und Theologie in Bezug auf Liebe. Wahrheit versteht er dabei mit Heidegger als Entbergung. Liebe könne insofern wahr sein,

as it is capable of being revealed in language and is able to sustain its promise through the course of a life extended in time. In doing so, it is capable of finding social forms that point towards a fuller future realization of what I called the Kingdom of Love and that, in the end, it is possible to believe that love is the final or ultimate measure of life’s worth. In calling each other by name, we discover the truth of who we are. (220)

Pattison verweist in seinem abschließenden Kapitel dabei auch auf die aktuelle planetare Situation, die gerade nach „human solidarity“ (277) rufe. Emphatisch schreibt er: „We are really all in this together“ (277). An dieser Stelle könnten über Pattisons Entwurf hinaus zwei Ausweitungsvorschläge einsetzen. Zum einen sind wir, um das viel gebrauchte Bild zu bemühen, zwar alle im selben Sturm, aber nicht im selben Boot. In Pattisons ganzem Band wird zwar viel über Selbstaufopferung gesprochen, aber kein Wort über Verzicht auf Luxus und Lebensstandard verloren. Wären nicht die Rufe aus dem globalen Süden der global-gesellschaftliche Relevanzpunkt dieser Metaphysik der Liebe, gerade wenn es um Verantwortungsübernahme geht, – und gleichzeitig der Übergang in eine dieser Metaphysik korrespondierenden Ethik?

Zum anderen evoziert die Rede einer „human solidarity“ eine Frage danach, wie ernst es Pattison mit der Universalität der Liebe ist: Er will seine Metaphysik der Liebe auch in einer kosmischen Dimension verstanden wissen, bezieht sich aber stets nur auf die Gott-Mensch und Mensch-Mensch-Beziehungen. Wieso werden nicht-menschliche Mitgeschöpfe ausgespart und in diese universale Liebe nicht integriert? Pattison sieht durchaus, dass das Mensch-Tier-Verhältnis kein per se liebevolles ist: „we have been not just neglectful of other animal species and their natural habitat but, often, unrestrainedly rapacious in our behaviour towards them. Even today [...], we are bringing about the extinction of multiple other species” (140). Seine vereinzelt erscheinenden biblischen Bezüge könnten gut um den eschatischen Tierfrieden Jesajas erweitert und Tiere so in seine Überlegungen zu einer Metaphysik der Liebe integriert werden.

2 Liebe auch für sich selbst?

Ausgehend von dem Gebot „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“ sind es Fragen nach Selbstliebe, oder auch generell nach dem Selbstverhältnis, die mich bei der Lektüre einer Metaphysik der Liebe umtreiben: Wie wird das Selbstverhältnis des Menschen, der lieben soll, gedacht? Gibt es einen Raum für Selbstliebe und wie sehen die Argumentationen aus, mit denen sie angenommen oder abgelehnt wird? Hieraus ergeben sich m. E. weiterführende, grundlegende Fragen, wie abschließend gezeigt werden soll.

Pattison hat, das wird vor allem im ersten Band seiner Trilogie deutlich, ein durch und durch negatives Verständnis von Selbstliebe (vgl. etwa Bd. I, Kap. 5), was auf sein Verständnis des Selbst zurückzuführen ist:

Self-love, amour propre, is the normal condition of our life, but if it is true that the self typically exists as lacking what is most proper to it then what we love in loving ourselves is: nothing; really, there is nothing there, no real self there, to love – at best, perhaps, a simulacrum or distorted image of what a self could be. What is loved in amour propre is therefore not the self but the objects, the people, the ambitions that we have chosen to make the focus of our desires and energies instead of a relation to God capable of providing a full and adequate grounding of the self. (Bd. 1, 143)

Diese Abwertung des Selbst lässt mit Blick auf Pattisons Anliegen fragen, wie ein solch leeres Selbst sich in Beziehung anderen selbst versprechen und offenbaren kann, bzw. was es ist, das da versprochen und offenbart wird (vgl. etwa 62: „[...] we are nevertheless capable of giving ourselves in promises and promising ourselves in our self-revelation to the best of our ability.“)? Überhaupt, wenn ich mein Ego negiere – nach Pattison bestünde die christliche Lehre auf „the annihilation of the individual ego“ (143) –, mit wem oder was stehen dann meine Nächsten in Beziehung, wenn sie mit mir in Beziehung sind? Diese Frage gilt auch mit Blick auf die Gottesbeziehung des Menschen, denn Pattison ist es wichtig zu sagen, dass durch den göttlichen Ruf eine Beziehung zwischen Gott und Mensch konstituiert wird (Bd. II, 153).

Ich behaupte, dass Selbstliebe nur dann ein Problem ist, wenn sie die Gottes- und Nächstenliebe verhindert. Das tut sie, wenn sie als Egoismus und Egozentrismus verstanden wird. Nach traditionell lutherischer Ansicht sind Egoismus und Egozentrismus zwar wesentliche Bestandteile des Menschen als Sünder – das ist mit der bekannten Wendung des in sich selbst verdrehten Menschen gemeint –, allerdings muss Selbstliebe nicht als Egoismus gedacht werden.[6] Gerade wenn sich das Ich als fundamental von außen konstituiert versteht, als Amalgam aus Vorangegangenem, Eigenem und stets Neuem und als immer schon relational eingebunden in seine zufällige Familie, dann hat es keinen Grund zu falschem Stolz und Überheblichkeit, sondern dann gibt es viel Raum für Dankbarkeit, Demut und Bescheidenheit auch in der Selbstliebe, – weil Selbstliebe dann untrennbar verbunden ist mit der Liebe zur Welt, zu den Nächsten und Gott.

Ein positives Verständnis von Selbstliebe hätte Pattison durchaus von einigen seiner vielen Gesprächspartner aufnehmen können. So gebraucht bspw. Kierkegaard, auf den er sich gerade in A Metaphysics of Love immer wieder bezieht,[7] den Begriff „Selbstliebe“ zwar in der überwältigenden Mehrheit seiner Texte negativ – er kann aber durchaus auch von einer Pflicht, sich selbst zu lieben, sprechen. Systematisch mit der Nächsten- und Gottesliebe ins Verhältnis gesetzt findet sich Selbstliebe in der von Pattison oft herangezogene Schrift Der Liebe Tun. Pattison nennt sogar eine der zentralen Stellen in diesem Zusammenhang,[8] allerdings nur den Teil, in dem Kierkegaard ein unchristliches, egoistisches Verständnis von Selbstliebe mit dem Gebot der Nächstenliebe in die Schranken weist. Schon wenige Seiten später kann er aber auch sagen: „Wofern darum jemand vom Christentum nicht lernen will, sich selbst auf die rechte Weise zu lieben, so kann er auch den Nächsten nicht lieben.“[9]. Nächsten- und christliche Selbstliebe halten sich bei Kierkegaard in einer Balance[10] und selbst wenn es schwierig ist, Kierkegaards nicht-selbstisches, christliches Verständnis von Selbstliebe konkret zu fassen, so ist ein solches Verständnis bei ihm durchaus vorhanden.[11]

Natürlich würde ein positives Verständnis von Selbstliebe sich auch auf das Verständnis des Selbst, wie es im ersten Band beschrieben ist, auswirken. Die Fragen wären dann: Kann es ein gottgefälliges frommes Leben geben, in dem das Individuum sich als Teil der zufälligen Familie, in der es sich stets wiederfindet, sowie als gewolltes und geliebtes Geschöpf Gottes wertschätzt? Was verändert sich, wenn es nicht ein sich selbst ablehnendes Ich ist, das mit der Welt in Beziehung steht und seinen Nächsten dient, sondern eines, das sich selbst als liebenswert begreift und bejaht? Und welche Auswirkungen hätten diese veränderte Sicht auf den Menschen für eine Metaphysik der Liebe? Vermutlich ließen sich dadurch die Relationalität des Menschen und die wechselseitigen Abhängigkeiten in allen Beziehungen (innerhalb der jeweiligen Beziehung aber auch von vorangegangenen Beziehungen für gegenwärtige Beziehungen) samt der damit verbundenen Verantwortung füreinander noch besser herausarbeiten.

Online erschienen: 2024-03-11
Erschienen im Druck: 2024-06-30

© 2024 Kinga Zeller, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 12.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/nzsth-2023-0072/html
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