Abstract
Menschen sind Wesen mit einem Sinn für ihre eigenen Möglichkeiten. Frei sind sie darin, bestimmte Möglichkeiten in Wirklichkeiten zu verwandeln. Unfrei sind sie dagegen darin, nicht umhin zu können, überhaupt Möglichkeiten in Wirklichkeiten zu verwandeln. Aber welche Möglichkeit sollen sie zur Wirklichkeit machen, und zwar zu ihrer Wirklichkeit, die dann neuen Möglichkeiten den Boden bereitet, die ihrerseits verwirklicht werden können oder auch nicht? Sören Kierkegaard war ein Mensch mit ungewöhnlich großen denkerischen Möglichkeiten. Überdies war er mit reichlich Fantasie ausgestattet. Genau das machte es ihm aber so schwer, sich für bestimmte Möglichkeiten zu entscheiden und infolgedessen als Person wirklich zu werden. Er sehnte sich nach Wirklichkeit und fürchtete sich zugleich vor ihr, insofern jede Verwirklichung von etwas immer auch den Ausschluss von etwas anderem bedeutet. Als Kierkegaard sich in Regine Olsen verliebte, verschärfte sich diese Problematik noch, denn nun stand ihm die Möglichkeit eines Ehelebens vor Augen, das sich mit seinem Wunsch, Schriftsteller zu werden, kaum vereinbaren ließ. Andererseits war diese Verschärfung für Kierkegaard ein Segen, denn nun hatte er den Stoff gefunden, mit dem er als Schriftsteller arbeiten konnte: das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, das uns immer wieder im Leben vor ein existenzielles Entweder Oder stellt, dem wir nicht ausweichen können.