„Nouveau Roman“ im Mittelalter? Generistische Betrachtungen zum „ekphrastischen Roman“

Das Mittelalter 13 (1):107-130 (2008)
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Abstract

Die Vielfalt der mittelalterlichen Epik bietet ein fruchtbares Feld für gattungstheoretische Bestimmungen, das bislang in keiner Hinsicht ausgeschöpft ist. Da die mittelalterlichen Poetiken Gattungszuordnungen nicht zwingend festschreiben, bietet sich die Möglichkeit, auf der Basis einer induktiven Poetik mittelalterliche Werke in ihren generischen Verwandschaftsverhältnissen neu zu bestimmen. Entgegen dem Trend der älteren Forschung, Beschreibungspassagen in der mittelalterlichen Erzählliteratur eher negativ zu bewerten, soll in dem vorliegenden Beitrag die Bedeutung der Ekphrasis für Gattungsbestimmungen mittelalterlicher Erzähltexte herausgearbeitet und mit dem Begriff des „ekphrastischen Romans“ ein neuer, auch die Antike und die Neuzeit umfassender Gattungstypus kreiert werden. Wer sich zünftig vorwiegend mit der modernen Literatur befasst, weiß um die gattungsbildende Funktion der Beschreibung im neoavantgardistischen Nouveau Roman, doch ist die generische Relevanz von ekphrastischen Passagen im mittelalterlichen Versroman noch weithin unerforscht und den Mediävisten unbekannt. Dass gerade der Beschreibung von Kunstwerken, auf die in letzter Zeit immer mehr der Begriff der Ekphrasis eingeschränkt wird, eine große poetische Relevanz zukommt, dokumentiert nicht nur ihre häufige Positionierung am Werkeingang oder ihre motivische Verknüpfung mit Passageriten des Protagonisten, sondern auch ihre besondere digressive Stellung im Erzählkontinuum mit komplexen Rahmen- und Binnenstrukturen, vor allem aber ihre für das ganze Werk repräsentative und quasi gattungsgenerierende Funktion als mise en abyme. Zudem sind die Beschreibungen von Kunstwerken in der Erzählliteratur des Hochmittelalters Zeichen einer neuen materiellen Sachkultur sowie symbolisch-diagrammatische Spiegelungen zeitgenössischer Weltbilder. Durch Partizipation an Formen der Visualität und Intermedialität sind die Ekphrasen auch mediengeschichtlich attraktiv und fungieren außerdem als Vehikel nicht nur einer werkimmanenten Poetik, sondern auch einer intrinsischen, Kunst wie auch Technik umgreifenden und universellen Ästhetik. Das hier rekonstruierte Genos des „ekphrastischen Romans“, das sich bis auf Homers,Ilias' zurückverfolgen lässt, die mit der Beschreibung von Achills Schild einen Prototypen liefert, zeigt bei aller Kontinuität einen besonderen Schub im Hochmittelalter, der neben byzantinischen Einflüssen u. a. mit einer ausgebildeten Exkurstheorie sowie Innovationen in der Erzähltechnik zusammenhängt, wie man z. B. aus dem,Erec' Hartmanns von Aue ersehen kann. Der „ekphrastische Roman“ zielt nicht auf einen nur an Aktionen interessierten Leser ab, der im Extremfall Haltepunkte im Erzählfluss überspringt, sondern auf einen Rezipienten, der sich geduldig mit der Dekodierung imaginärer Bildwelten befasst und bereit ist, sich in poetologische und kunstästhetische Reflexionen zu vertiefen, die eine eigene Ebene der Werkdeutung konstituieren.

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