Die Entwicklung des Konzepts der Einwilligung nach Aufklärung in der psychiatrischen Forschung

Ethik in der Medizin 31 (3):207-220 (2019)
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Abstract

ZusammenfassungDas juristische Konzept der Einwilligung nach Aufklärung ist im Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht begründet. Es entwickelte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts, gewann mit der rapiden Ausweitung der klinischen Forschung seit Mitte des 20. Jahrhunderts mittels der Deklaration von Helsinki und seit 1972 in den USA als Konzept des informed consent erhebliche Bedeutung in der klinischen Forschung, nachfolgend auch in der klinischen Praxis. Die psychiatrische Forschung stieß bald auf das grundlegende ethische Problem, dass psychische Krankheiten die Einwilligungsfähigkeit und damit die Voraussetzung jeder Forschungsteilnahme beeinträchtigen oder gar zerstören können. Versuche der Lösung dieses ethischen und juristischen Problems in den letzten 30 Jahren – von frühen, durch das Konzept angestoßenen Fragen über die Entwicklung von Verfahren zur Feststellung der Einwilligungsfähigkeit bis zu aktuellen Vorschlägen für Forschungs- bzw. Probandenverfügungen und Forschungsvollmachten – werden im Kontext ihrer gesellschaftlichen Resonanz wie auch der eigenen Erfahrung skizziert. Die Übersicht soll die zunehmende Differenzierung des Konzepts verdeutlichen; sie folgt der Auseinandersetzung mit Problemen, die sich aus der Umsetzung und Wirksamkeit des Konzepts in der Forschungspraxis ergaben, um das Selbstbestimmungsrecht der Probanden zu bewahren. Als Schlussfolgerung ergibt sich 1. Das juristische Konzept der Einwilligung nach Aufklärung wurde erst durch die Entwicklung klinischer Kriterien zur Erfassung der Einwilligungsfähigkeit praktikabel; im Forschungskontext ist die Feststellung der Einwilligungsfähigkeit unverzichtbar, da von ihr die Gültigkeit der Einwilligung abhängt. 2. Zu erkennen ist ein langsamer Wandel von der Erfüllung einer juristisch begründeten Pflicht des forschenden Psychiaters, den potentiellen Forschungsteilnehmer nach Aufklärung um seine Einwilligung zu bitten, hin zu einer stärkeren Patientenorientierung; sie anerkennt das Selbstbestimmungsrecht und bemüht sich, im Prozess der Aufklärung die Fähigkeit des Patienten zu optimieren, sich zu einer Forschungsteilnahme selbstbestimmt entscheiden zu können. Dabei wird die Einwilligungsfähigkeit anhand klinischer Kriterien bestimmbar. 3. Es wird bezweifelt, dass die jüngsten legislativen Bemühungen geeignet sind, die Selbstbestimmung bei Forschung ohne potentiellen individuellen Nutzen mit nicht-einwilligungsfähigen Probanden zu sichern; denn es ist fraglich, ob die vorverlegte, dann aber prinzipiell nur unspezifisch mögliche Aufklärung und die auf einen später spezifisch aufgeklärten Vertreter verlagerte Entscheidung praktisch ausreichend realisiert werden können; ethisch enthält diese kontroverse Einschränkung der Selbstbestimmung zumindest das Risiko, das Verhältnis zwischen Individualwohl und Gemeinwohl zu Ungunsten des Individuums zu verschieben. Dadurch wäre dann auch das mit der Respektierung des Selbstbestimmungsrechtes begründete Konzept der Einwilligung nach Aufklärung infrage gestellt.

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