Abstract
Mit dem Begriff des „natürlichen Willens“ wird in der Medizin- und Pflegeethik auf das Phänomen rekurriert, dass Patienten in Grenzsituationen auch unterhalb der Ebene reflektierter verbaler Willensbekundung Präferenzen und Erwartungen zum Ausdruck bringen können, deren normativer Status insbesondere dann strittig sein kann, wenn die „natürliche“ Willensbekundung in Konflikt mit früheren eigenen Festlegungen in einem „vorausverfügten Willen“ geraten. Der aktuellen Tendenz, dem „autonomen“ Willen dabei den Vorrang gegenüber dem „natürlichen“ Willen zuzusprechen, steht dabei eine andere Tendenz im Betreuungsrecht gegenüber, die sich inzwischen verstärkt zugunsten einer Beachtlichkeit des „natürlichen Willens“ Geltung verschafft hat. Der vorliegende Beitrag zeigt auf, dass eine Lösung der hier auftretenden Streitfragen leichter herbeigeführt werden kann, wenn man sich auf die Differenzierungen besinnt, die eine inzwischen mehr als 2000-jährige Begriffsgeschichte des „natürlichen Willens“ entfaltet hat. Dabei wird zum einen deutlich, dass es unterschiedliche Konzeptionen des „natürlichen Willens“ gibt, die von naturalistischen Deutungen bis zu theologischen Dimensionen des Begriffs reichen. Zugleich wird es möglich, zwischen dem natürlichen und dem freien Willen nicht notwendig eine strikte Opposition zu sehen, sondern eine Komplementarität zu denken, die der menschlichen Ganzpersonalität besser gerecht wird als Reduktionismen aller Art. Insbesondere stellt sich die Frage, ob der natürliche Wille nicht als ein auf Autonomie hin gerichtetes Wollen verstanden werden kann, in dem sich eine ursprüngliche Selbstbejahung des Individuums vollzieht.