Abstract
Zusammenfassung. Während der Schwerpunkt medizinethischer Diskussion Entscheidungskonflikte angesichts knapper medizinischer Leistungen und Güter thematisiert, wird im Beitrag argumentiert, dass auch gesundheitspolitische Allokationsentscheidungen, die mittelbar Auswirkungen auf Sterberisiken ganzer Bevölkerungsgruppen haben, einer ethischen Reflexion bedürfen. Dies gilt insbesondere angesichts des beunruhigenden Tatbestandes sozial ungleicher Sterberisiken im mittleren Erwachsenenalter. In entwickelten Industriegesellschaften weitet sich der soziale Gradient von Morbidität und Mortalität trotz steigender Gesundheitsausgaben und medizinischen Fortschritts weiter aus. Im Beitrag werden fünf Erklärungsansätze sozial differentieller Mortalität im mittleren Erwachsenenalter vorgestellt, wobei der letzte Ansatz eine soziogenetische Hypothese enthält: spezifische psychosoziale Belastungserfahrungen, die in unteren sozialen Schichten, insbesondere im Erwerbsleben, weiter verbreitet sind, tragen zur erhöhten gesundheitlichen Gefährdung bei. Sie werden als Verstöße gegen Normen sozialer Reziprozität und Verletzung von Prinzipien distributiver Gerechtigkeit erlebt. Das vom Autor entwickelte Modell beruflicher Gratifikationskrisen erlaubt, gesundheitliche Auswirkungen solcher Verletzungserfahrungen zu untersuchen. Empirische Befunde aus drei großen epidemiologischen Studien zum Herz-Kreislauf-Risiko im mittleren Erwachsenenalter stützen die Hypothese. Abschließend werden ethische Implikationen diskutiert.