Die Idee der Phänomenologie

In Sebastian Luft & Maren Wehrle (eds.), Husserl-Handbuch Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler. pp. 125-134 (2017)
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Abstract

Betrachtet man die Geschichte des Begriffs ‚Phänomenologie‘, ist nicht auf den ersten Blick klar, was darunter zu verstehen ist. Wie Schuhmann (1984 ) herausgearbeitet hat, tritt dieser Begriff in der Philosophiegeschichte auf, noch lange bevor Edmund Husserl sich ihn zu Eigen machte, um sein eigenes philosophisches Projekt zu beschreiben. Auch hinderte Husserls Versuch, diesen Begriff für die Beschreibung seines eigenen einmaligen Projekts zu beanspruchen, seine Zeitgenossen (z.B. Pfänder, Reinach, Stein) keineswegs daran, denselben Begriff ebenfalls zur Beschreibung ihrer jeweiligen Projekte und Methoden zu verwenden. Es versteht sich also, dass Husserl selbst beträchtlichen Aufwand betrieb, um zu definieren, was der Begriff ‚Phänomenologie‘ in seinen Augen zu bedeuten hatte. Zum Zeitpunkt der Publikation des ersten Buches seiner Ideen zu einer reinen Phänomenologie im Jahre 1913 charakterisiert Husserl Phänomenologie als eine neue Wissenschaft, die sich von jeder anderen, bereits geschichtlich verankerten Wissenschaft wie Physik, Psychologie oder Kulturwissenschaft unterscheidet (Hua III/1, 1). Diese Darstellung von Phänomenologie lässt auf Anhieb eine wichtige Abweichung von seiner einstigen Gleichsetzung von Phänomenologie und deskriptiver Psychologie in den Logischen Untersuchungen (1901) erkennen. In der breiteren philosophischen Landschaft wären angesichts Husserls positiver Bestimmung dessen, was diese phänomenologische Wissenschaft ist, möglicherweise auch heute noch viele genauso irritiert wie einige der damaligen Teilnehmer des VI. Kongresses für experimentelle Psychologie, denen Husserl 1914 erklärte: „Analog wie die reine Geometrie Wesenslehre des ‚reinen‘ Raumes bzw. Wissenschaft von den ideal möglichen Raumgestalten ist, ist die reine Phänomenologie Wesenslehre des ‚reinen‘ Bewusstseins, Wissenschaft von den ideal möglichen Bewusstseinsgestalten (mit ihren ‚immanenten Korrelaten‘)“ (Schumann 1914, 144-5). Was heute wie damals für ein Verständnis dieser Darstellung von Phänomenologie der Klärung bedarf, ist Husserls Beschreibung der Phänomenologie als einer Wesenslehre, d.h. einer reinen oder eidetischen Wissenschaft, ebenso wie seine Aussage, deren Untersuchungsgegenstand sei das von ihm sogenannte reine Bewusstsein. Nur indem man die beiden Bedeutungen von ‚rein‘ erhellt, die hiermit angesprochen sind, wird auch deutlich, inwiefern Husserl behaupten kann, Phänomenologie unterscheide sich von anderen Wissenschaften: sowohl von empirischen wie Physik oder experimenteller Psychologie als auch von anderen eidetischen Wissenschaften wie Geometrie und deskriptiver Psychologie. Diese Erläuterung zeigt nicht nur, inwiefern Phänomenologie von all diesen Disziplinen verschieden ist, sondern auch, inwiefern sie mit ihnen zusammenhängt – und damit ist gerade die Idee der Phänomenologie begründet.

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Hanne Jacobs
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Wittgenstein and Phenomenology.Deva Waal - 2021 - Philosophical Investigations 44 (4):372-402.

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